Niemand sagt etwas, niemand schreit. Es ist jetzt ganz still im Haus. Ich stehe immer noch auf der Treppe und spüre jetzt, wie ich vor Kälte zittere. Erst nach einer Weile höre ich wieder etwas, als meine Mutter die Hand vor den Mund schlägt und „Oh Gott“ sagt, als sie mich auf der Treppe stehen sieht.
Es war Frederik, der sich in dieser Nacht um mich kümmerte. Ich weiß nicht, ob meine Mutter Frederik anrief, weil er so ein enger Freund war oder weil sie ihre Tochter vorsorglich lieber gleich in die Hände eines Psychiaters geben wollte.
Als mich Frederik aus meinem Zimmer holte, vielleicht ein oder zwei Stunden später, war Paula vom Wohnzimmerteppich verschwunden und nicht nur das, ein großes Stück Teppich war bereits auch verschwunden.
Meine Eltern hatten an der Fensterwand des Wohnzimmers angefangen, den gesamten Teppich zu entfernen, waren aber noch nicht bis zu der dunklen Pfütze neben dem Couchtisch gekommen, von der ich nicht die Augen abwenden konnte, als ich mich am Treppengeländer festhielt. Ich weiß nicht mehr warum, aber ich weiß, dass ich diesen Ort nicht verlassen wollte, dass ich nicht mit Frederik aus dem Haus gehen wollte. So fest ich konnte klammerte ich mich ans Treppengeländer, bis meine Mutter und Frederik schließlich meine Finger vom Geländer lösten und mich zur Haustür zogen.
Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe, verschwitzt, mit von Blut verschmierten Haaren, wie er sich mit einem Stück Teppich in der Hand immer mehr der schwarzen Pfütze auf dem Boden nähert.
Mein Vater war in dieser Nacht für immer aus meinem Leben verschwunden. Meine Mutter gab später an, er habe Paula, nachdem er sie erschossen hatte, in ein Stück des Teppichs gewickelt und in den Kofferraum seines Autos gebracht. Nachdem er alle Telefonleitungen im Haus durchtrennt hatte, habe er zwei Taschen mit seinen wichtigsten Sachen gepackt, alles Bargeld eingesteckt, das sich im Haus befand, und sei dann im Auto mit der Leiche verschwunden.
Meine Mutter gab weiter an, dass sie unter Schock stehend und aufgrund der durchgeschnittenen Telefonleitungen nicht eher die Polizei hatte rufen können. Außerdem sei ihr Mann immer noch im Besitz der Waffe gewesen, mit der er kurz zuvor ihre Freundin erschossen hatte.
Nichts von all dem tauchte jemals wieder auf, weder das Auto noch Paulas Leiche noch mein Vater.
Die Polizei vermutete, Auto und Leiche seien in einem der zahlreichen Gewässer in der Umgebung versenkt worden, aber trotz intensiven Suchens wurde man nicht fündig. Man nahm an, meinem Vater sei es eventuell gelungen, ins Ausland zu fliehen, hielt das aber für weniger wahrscheinlich als die Vermutung, er habe sich selbst das Leben genommen, nicht mehr in der Lage, mit dem Verlust seiner Familie und seiner Schuld zu leben.
Das habe ich mir nie vorgestellt. Wenn ich an meinen Vater denke, stelle ich mir immer vor, dass er noch lebt, irgendwo. Und ich habe auch nie geglaubt, dass er irgendetwas bereuen würde. Ich habe ihn lange vermisst. Ich habe die Tragweite der Ereignisse erst nach und nach begriffen, verstanden, dass er nicht zurückkommen würde, dass das Warten ein Warten ohne Ziel war. Jetzt ist er ein Gespenst, das durch meine Kindheit schleicht, das immer entwischt, wenn ich nach ihm greifen will, das nur dann ganz deutlich und klar wird, wenn ich an diese Nacht vor vierunddreißig Jahren zurückdenke.
Zwei schlaflose Nächte hintereinander scheinen mir einfach rein physisch nicht mehr möglich zu sein. Also schlafe ich spät am Abend erschöpft ein und wache am nächsten Morgen beinahe genauso erschöpft auf.
Müde quäle ich mich durch einen relativ ereignislosen Arbeitstag, breche sehr rechtzeitig vom Büro auf, weil der Umweg zum Haus meiner Eltern, wo immer noch mein Auto geparkt steht, nicht gerade kurz ist. Ich beschließe, schnell bei meiner Mutter und Frederik vorbeizuschauen, um wenigstens zu sagen, dass es ein netter Geburtstagsabend war, und um mich bei meiner Mutter für die Schuhe zu bedanken, die sie mir herausgesucht hatte.
Das Haus wirkt auf den ersten Blick unbeleuchtet, als ich über die Einfahrt auf die Vordertür zugehe. Vor dem Haus stehen jedoch die Autos von Mutter und Frederik und, abgesehen davon, ein mir fremder, dunkler Mercedes.
Alle Fenster, die man von der Einfahrt aus sehen kann, sind dunkel, sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock. Also sitzen die beiden mit ihrem Gast aus unerfindlichen Gründen entweder im Dunkeln oder halten sich an diesem kühlen Herbstabend im Garten auf. Beides erscheint unwahrscheinlich und seltsam. Seltsam genug, dass ich ohne zu läuten um das Haus herum gehe und zunächst einen Blick in den Garten werfen will.
Der Garten liegt still und dunkel da, so still, dass ich das Herbstlaub unter meinen Füßen höre.
Die Gardinen sind zugezogen, aber man kann erkennen, dass dahinter in der Küche ein schwaches Licht brennt und sich Personen hinter der Gardine hin und her bewegen. So lange ich denken kann, war die Gardinenstange schon immer ein kleines bisschen kürzer als die große Fensterfront zum Garten hin. Merkwürdig eigentlich, dass das in all den Jahren nie geändert wurde.
Ich stelle mich rechts neben das Fenster, ganz dicht an die Hauswand, so dass ich vorsichtig durch den kleinen Spalt zwischen Gardine und Küchenwand sehen kann und sich jemand von der anderen Seite schon genauso dicht ans Fenster stellen müsste, um mich sehen zu können. Ich merke die Kälte der Hauswand an Rücken und Schulter, während ich jetzt so dastehe und versuche, etwas durch diesen kleinen Spalt erkennen zu können.
Ich sehe Frederik mit dem Rücken zu mir stehend, energisch gestikulierend, redend. Wenn ich meinen Kopf noch ein wenig weiter drehe, sehe ich auch den Oberkörper und den Kopf meiner Mutter, wie sie an der Spülmaschine lehnt und in die Richtung starrt, in der noch eine dritte Person steht, die ich aber nicht sehen kann. Meine Mutter sieht nicht gut aus. Sie ist bleich im Gesicht und hat dunkle Ränder unter den Augen. Sie bewegt sich kaum, starrt nur vor sich hin.
Am Schatten, der sich hinter dem Vorhang bewegt, ist deutlich zu erkennen, dass die dritte Person im Zimmer auf und ab geht, aber nie weit genug in mein kleines Sichtfeld kommt, um sie erkennen zu können.
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich meine Mutter jetzt zur Spüle umdreht und ein Glas mit Wasser füllt. Als sie das Glas mit einer zitterigen Bewegung zum Mund führen will, rutscht es ihr aus der Hand, und das Geräusch, als es auf dem Boden zersplittert, ist so laut, dass ich es sogar hier draußen höre. Meine Mutter bückt sich zu den Scherben hinunter, und jetzt kommt mit einer schnellen Bewegung die dritte Person ins Bild, bückt sich jedoch ebenfalls sogleich zu Boden, so dass ich nur kurz einen Blick auf die langen, grauen Haare einer Frau mit kräftiger Statur erhaschen kann. Als sie mit der Hand voller Scherben wieder hochkommt und ich ihr Gesicht sehen kann, bin ich wie erstarrt. Diesen Blick, diese Augen erkenne ich in der Sekunde, in der ich sie sehe, nur dass ich gerade etwas sehe, was eigentlich nicht möglich sein kann. Ich sehe ein Gespenst. Ein Gespenst, das seit Jahrzehnten ein Loch im Schädel haben sollte, dessen Blut ich vor vierunddreißig Jahren unseren Teppich habe schwarz färben sehen. Ich sehe das um vierunddreißig Jahre gealterte Gesicht von Paula, da gibt es nicht den geringsten Zweifel.
Stocksteif und frierend stehe ich noch einen Moment länger an die Wand gelehnt da und merke, wie mir langsam die Übelkeit die Kehle empor kriecht, wie ein pelziges, uraltes Tier, das sich den Weg nach draußen sucht. Ich drücke mir die Hand vor den Mund, um mich nicht gleich hier an Ort und Stelle übergeben zu müssen und damit mir kein sonst wie gearteter Laut entfährt. Ich will schreien und losrennen, aber irgendwie schaffe ich es, meinen Körper zu beherrschen und mit einer Hand vor den Magen und mit der anderen vor den Mund gepresst, langsam und fast geräuschlos durch den Garten zurück zur Einfahrt zu gehen.
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