Auf dem Foto ist mein Vater zu sehen, der auf der Terrasse umgeben von Werkzeug auf dem Boden hockt und anscheinend irgendetwas repariert, das man nicht genau erkennen kann. Ich weiß nicht mehr, wer das Foto gemacht hat, aber offensichtlich ist er vom Fotografen überrascht worden, weil er sich gerade in dem Moment mit einem erstaunten Gesichtsausdruck umdreht. Ich habe dieses Bild immer gemocht, weil dieses Erstaunen so echt und so unmittelbar aussieht, dass auf seinem Gesicht überhaupt kein Platz mehr für irgendetwas Beherrschteres war.
Wenn ich die Augen schließe, kann ich mich an all die kleinen Details auf dem Foto erinnern. Ich weiß, welche Farbe sein Hemd hat und welches Werkzeug um ihn herum liegt. Ich weiß, dass man im Hintergrund ein Tulpenbeet sieht.
Aber an meinen Vater, daran, wie er war, wie er sich bewegte, wie er mit mir sprach, wie sich seine Stimme anhörte, daran erinnere ich mich kaum. Er ist wie ein Phantom, das mir jedes Mal durch die Finger gleitet, wenn ich versuche, mich wirklich an ihn zu erinnern. Dann wird alles so unscharf, dass meine Erinnerung keinen Halt findet, sich kaum an einem konkreten Moment, den ich mit ihm erlebt habe, oder an einer immer wiederkehrenden Geste festhalten kann.
Ich war elf, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, und es ist eine traurige Ironie, dass die einzigen, wirklich deutlichen Erinnerungen, die ich an meinen Vater habe, jene sind, die mich an den Tag erinnern, an dem ich ihn das letzte Mal gesehen habe. Die Erinnerung ist das Einzige, was bleibt, das sagt man doch. Aber was tut man, wenn man die einzige klare Erinnerung an einen Menschen seit vierunddreißig Jahren am liebsten vergessen würde, aber gleichzeitig auch davor Angst hat. Denn dann ist er endgültig verschwunden, dann existiert er nur noch auf Fotos, aber nicht mehr in mir.
Wir treffen uns bei Frank zuhause. Das ist gut, denke ich, gut von Zuhause raus zu kommen, und außerdem habe ich Franks Wohnung immer gemocht.
Schlicht und schön ist es da; die sparsamen Möbelstücke strahlen etwas Warmes und Behagliches aus, als würde diese Wohnung darauf warten, dass es sich Menschen darin gemütlich machen.
Frank macht es sich allerdings meistens alleine gemütlich, was ihm von Zeit zu Zeit mal mehr und mal weniger auszumachen scheint. Ich kenne ihn schon lange, schon seit den letzten Schuljahren. Und so lange ich ihn auch kenne, hat er in all den Jahren nie eine Beziehung gehabt, von der ich gewusst habe und vermutlich nie eine, die es sich mit ihm zusammen in dieser schönen Wohnung hätte gemütlich machen wollen.
Frank arbeitet im Krankenhaus, aber als Neuropsychologe glücklicherweise nicht im Schichtdienst, so dass sein Leben, glaube ich, alles in allem recht gleichmäßig vonstatten geht.
Als ich jetzt mit Frank schon bei der dritten Tasse Kaffee in seinem Wohnzimmer sitze, sieht er mich ernst und nachdenklich an.
„So funktioniert es nicht, Ingrid“, sagt er jetzt. „Erinnerungen sind keine Kopien von Dingen, die wir mal erlebt haben. Erinnerungen sind nicht neutral, wir verbinden sie immer mit Empfindungen und Bedeutungen. Wir halten in unseren Erinnerungen fest, wie wir Ereignisse erlebt haben, und das muss nicht immer genau mit der Realität übereinstimmen.“
Seine Stimme ist angenehm und ganz ruhig, als er fortfährt. „Und ehrlich gesagt, glaube ich auch nicht, dass es in erster Linie darum geht, ob unsere Erinnerungen in jedem Detail den Dingen entsprechen, wie sie tatsächlich gewesen sind. Auch nicht bei dir“, fügt er jetzt etwas leiser hinzu. „Manchmal kommt es mehr darauf an, wie stark die Vergangenheit die Gegenwart beeinflusst und ob dieser Einfluss gut für uns ist oder nicht.“ Er setzt die Kaffeetasse ab und sieht mich wieder an. „Wie lange ist das alles jetzt her? Fünfunddreißig Jahre?“
„Vierunddreißig“, antworte ich. „Letzten Monat waren es vierunddreißig Jahre. Frank, ich weiß selber nicht genau, was ich von dir jetzt eigentlich wissen will und warum mich ein Paar Kinderschuhe so aus der Bahn wirft.“
„Doch, ich glaube ich weiß, was du von mir willst und auch warum, aber das ist nicht möglich.“
Es muss sich angenehm anfühlen, Franks Patient zu sein, denke ich und frage mich gleichzeitig, ob seine Patienten überhaupt in einem Zustand sind, solche Gedanken haben zu können. Ich weiß es nicht.
Mit immer noch ganz ruhiger Stimme fährt er fort. „Die Erinnerungen an unser Leben, an unsere Autobiografie, machen wir zur Grundlage für unser ganzes Selbstverständnis, zum Gerüst für unsere ganze Identität. Es muss sich zwangsläufig beängstigend anfühlen, wenn uns das Gefühl, dass die eigene Identität ausreichend zusammengehalten wird, verloren geht. Und manchmal reicht da eine Kleinigkeit, um dieses Empfinden auszulösen. Und dann geht es los. Dann fragen wir uns automatisch: Wenn ich eine Kleinigkeit falsch im Gedächtnis habe, was ist dann mit andern Dingen, mit größeren Ereignissen, mit bedeutsameren? Kann ich Personen verwechseln, wenn ich Bienen und Marienkäfer durcheinander bringe? Waren die Ereignisse meines Lebens so, wie ich sie erinnere? Wie kann ich sicher sein? Und haben nicht all diese großen und kleinen Ereignisse in meinem Leben zu dem geführt, was ich heute bin? Was bedeutet es, wenn vielleicht nur die Hälfte tatsächlich so geschehen ist, und gibt es keine Methode, keine Wissenschaft, die in der Lage wäre, richtige von falschen Erinnerungen trennen zu können? Und die Antwort darauf lautet: Nein. Gibt es nicht.“
Er hat recht. Genau das ist es, was ich seit gestern Nacht empfunden habe, und genau das ist es, was ich eigentlich will. Jemanden oder etwas, das in der Lage ist, Ordnung zu schaffen. In meinen Erinnerungen aufzuräumen, Richtiges von Falschem zu trennen, zu korrigieren, gerade zu rücken, was offensichtlich schief geraten ist. Bienen gegen Marienkäfer auszutauschen und wer weiß, was noch alles an den richtigen Platz zu rücken.
„Was soll das heißen, das gibt es nicht? Irgendwie muss es doch möglich sein herauszufinden, ob die Dinge wirklich so passiert sind, wie man sich an sie erinnert.“
„Nein“, Frank schüttelt langsam den Kopf. „Unsere Gefühle kommen uns in die Quere. Ich weiß, du fragst dich, wie kann eine bestimmte Erinnerung so genau und detailliert und trotzdem falsch sein. Aber unsere Wahrnehmung ist beeinflussbar, verändert sich, wenn wir Angst haben, uns freuen, wenn wir verliebt sind oder enttäuscht. Durch all das verändert sich die Art, wie wir wahrnehmen, wird angreifbar für Fehler, empfänglich für das, was wir uns wünschen, für das, was wir nicht wahrhaben wollen. Aus unseren Wünschen können im Kopf Bilder entstehen. Bilder können sich mit Erinnerungen vermischen, und auf einmal können wir nichts mehr voneinander unterscheiden. Aber das ist meistens auch gar nicht wichtig, weil wir uns dann diese Frage gar nicht mehr stellen, weil diese Bilder dann bereits zu dem geworden sind, was unsere Erinnerung ist, und die Tatsache, dass das keine Kopie der Realität ist, spielt dann keine Rolle mehr.“
„Ingrid“, Frank sieht mich traurig und wirklich mitfühlend an, als er jetzt weiterredet. „Ich weiß, warum dir das alles so wichtig ist. Aber du warst elf Jahre alt, als es passiert ist, das ist vierunddreißig Jahre her. Du warst ein Kind und zwar ein Kind, das Angst hatte, das einem enormen Druck ausgesetzt war, von dessen Aussage unglaublich viel abhing.“
„Was willst du damit sagen? Dass es unter solchen Umständen gar nicht möglich ist, sich richtig zu erinnern?“
„Ich will damit sagen, dass jeder Mensch, jedes Kind unter solchen Umständen beeinflussbar ist und labil und dass ich nicht weiß, wie wir heute herausfinden sollen, was damals tatsächlich passiert ist und ob es mit den Erinnerungen in deinem Kopf übereinstimmt.“
„Das weiß ich auch nicht, ich dachte es gäbe einen Weg.“
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