Es regnet in Strömen, als wir auf dem Weg zum Haus meiner Eltern sind.
Mutter hatte verstört geklungen, als ich sie gestern nach dem Gespräch mit Frank anrief, um ihr mitzuteilen, dass ich von Paula weiß und alle drei, sie, Frederik und Paula am nächsten Abend im Haus meiner Eltern anzutreffen wünsche. Frederik hatte ihr den Hörer aus der Hand genommen, hatte meine Aussagen als absurd und meinen Wunsch als verrückt bezeichnet, bis ich ihm sagte, es wäre kein Wunsch, sondern etwas, das entweder geschehen würde oder auch nicht, und im zweiten Fall würde die Polizei alle Informationen bekommen, die ich hätte, inklusive meiner lückenhaften Patientenakte von damals. Als ich ihm die einzelnen Daten aufzähle, an denen Paula laut James bei ihm in der Klinik war, herrscht für einen langen Moment nur Stille, und ich weiß sofort, dass James mit jedem einzelnen roten Kreuz richtig lag. Das war gewagt, aber nun scheint Frederik zu glauben, dass ich mehr habe, als rote Kreuze, nämlich Beweise.
Die halbe Nacht habe ich überlegt, ob ich Frank wirklich mitnehmen soll, aber letzten Endes hat er recht. Was auch immer bei diesem Abend herauskommt, ich werde einen Zeugen brauchen und eventuell jemanden, der eingreifen kann, sollte etwas schief gehen. So hat Frank es zumindest ausgedrückt. Ich habe keine Vorstellung davon, was das heißen könnte, bei einem Vorhaben, dessen Ziel darin besteht, mich wieder wie ein elfjähriges, traumatisiertes Kind zu fühlen, das sich an eine Mordnacht erinnert. Dieses ganze Vorhaben erscheint mir von vornherein schon wie etwas, das schief geht.
Der dunkle Mercedes parkt vor dem Haus meiner Eltern, als wir ankommen. Ich schalte den Motor aus, und die Scheibe ist sofort so sehr mit Regen bedeckt, dass das Haus vor uns verschwimmt und sich alles in dunkle Schlieren auflöst.
„Ich habe Angst“, sage ich leise in das Geräusch des Regens hinein.
„Wir müssen das nicht tun.“ Frank sieht mich ernst von der Seite an. „Und wir können jederzeit alles abbrechen und gehen. Aber es ist allein deine Entscheidung.“
Ich nicke ein paar Mal stumm vor mich hin, ziehe dann den Schlüssel aus dem Zündschloss und steige aus. Der kalte Regen fühlt sich gut an auf meiner Haut. Die vielen kleinen Berührungen sind so deutlich zu spüren auf meinem Gesicht, sie verbinden mich mit dem Hier und Jetzt.
Meine Mutter öffnet uns die Tür, schafft es aber nicht, irgendetwas zu sagen, sieht mich nur traurig und besorgt an. Dunkle Schatten hat sie unter den Augen, sieht blass und eingefallen aus, sieht zum ersten Mal in meinen Augen wirklich alt aus. Eine alte, traurige Frau in teuren Kleidern, der die Vergangenheit und nun auch noch die Gegenwart entgleitet.
Schweigend gehen wir ins Wohnzimmer. Frederik steht mit einem Glas in der Hand am Kamin, sieht mir sofort und ohne Umschweife direkt und feindselig ins Gesicht. Und da steht Paula. Mit dem Gesicht zum Fenster gewandt. Alle drei stehen sie nun hier, in diesem gediegenen Wohnzimmer, in dem jede Farbe zueinander passt und nichts das Auge stört.
Jeder hier ist ganz für sich. Nichts an ihnen wirkt wie eine Gruppe von Verbündeten. Diese drei Menschen verbindet nichts außer einer gemeinsamen Vergangenheit, aus der unterschiedliche Wahrheiten, unterschiedliche Ziele geworden sind, die einander vollkommen ausschließen.
Paula dreht sich jetzt zu mir um und sieht mich an. Jetzt, wo wir uns wirklich begegnen und einander ansehen, erkenne ich, dass sie noch immer eine schöne Frau ist, und die Erinnerung kommt sofort zurück, an die Paula von damals, die so schön war, dass man sie nur aus der Ferne betrachten wollte, wie etwas, das man sich niemals trauen würde selber anzufassen. Doch meine Mutter hatte sich getraut. Hatte dieses feine, helle Gesicht berührt, diese Lippen, diesen Körper. Wie muss es sich angefühlt haben, eine Frau zu berühren, die so schön war, wie ein seltenes Tier, von dem es nur eins seiner Art gibt? Es muss berauschend gewesen sein, wie etwas, womit man anfängt und nicht mehr aufhören kann.
Sie lächelt jetzt, als sie mich ansieht, und ihre Stimme hört sich warm und entspannt an.
„Ingrid. Ich habe mich immer gefragt, wie du aussiehst, heute, nach all den Jahren, wie du geworden bist. Deine Mutter war nie dazu zu bewegen, mir ein Foto zu zeigen.“
Sie lächelt nun auch meine Mutter an, und ich bin beinahe überwältigt von ihrer Ruhe und ihrer Gelassenheit. Als würde das alles hier ihrer Kontrolle unterliegen, als hätte sie weder etwas zu befürchten noch etwas zu verlieren.
Frederik knallt sein Glas auf den Kaminsims, und alles an ihm wirkt angespannt, auf der Lauer und zum Sprung bereit.
„Was versprichst du dir von all dem hier?“ Seine Stimme ist schneidend und kalt. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass du weiterführen kannst, was sie angefangen hat“, jetzt nickt er abfällig zu Paula herüber. „Wie viel Geld glaubt ihr eigentlich, das bei uns noch zu holen ist?“
„Ich will kein Geld“, sage ich.
„Nein“, sagt Paula jetzt und hat weiterhin etwas so Verständnisvolles in ihrer Stimme, dass es kaum etwas mit dieser Situation zu tun zu haben scheint. „Natürlich will sie das nicht.“
„Was dann?“ Frederiks Stimme wird lauter und unbeherrschter.
„Ich will mich erinnern“, sage ich leise, aber bestimmt.
„Ja“, sagt Paula und tut so als wäre sie die Einzige im Raum, mit der ich sprechen würde. „Was meinst du, Elisabeth?“, wendet sie sich jetzt an meine Mutter. „Findest du nicht, dass sie das verdient hat? Nach all den Jahren?“
Meine Mutter wendet sich ab, bleibt weiterhin stumm und presst sich die Hand vor den Mund.
Es entsteht eine Stille, die das ganze Zimmer verschluckt, niemand sagt etwas, niemand will den nächsten Schritt tun, derjenige sein, der die Dinge in Bewegung bringt.
„Also gut“, sage ich und mache einen entschiedenen Schritt in die Mitte des Raumes. „Ich weiß, dass ich mich an etwas erinnere, das so nicht passiert sein kann. Etwas, was genau hier vor vierunddreißig Jahren passiert ist, aber offensichtlich nicht so, wie es in meinem Kopf ist.“ Ich höre meine eigene Stimme lauter werden, als ich mich, während ich spreche, zu Frederik umdrehe. „Ich weiß, dass du in diesen verfluchten Therapiesitzungen irgendetwas mit meinem Kopf gemacht hast, und ich will wissen was und ich will wissen, an was, verflucht noch mal, ich mich nicht erinnern kann!“
Die letzten Worte schreie ich in die drückende Stille des Raumes hinein, und etwas geschieht mit mir während ich mich schreien höre. Meine eigene Stimme hört sich an als wäre sie von mir entfernt, viel weiter weg im Raum, und einzelne Bilder tauchen langsam vor meinen Augen auf.
Ich sehe mich die Treppe zum Wohnzimmer hinuntergehen. Ich sehe es nicht wirklich, ich fühle es vielmehr, wie etwas, das gleichzeitig in der Vergangenheit und jetzt geschieht. Fühle das Holz des Geländers unter meiner Hand, den Teppich unter meinen nackten Füßen, während ich die Stufen hinuntergehe. Das Gefühl verschwindet wieder, und ich sehe mich verwirrt um, sehe, wie mich alle anstarren, bis mir Frank beruhigend eine Hand auf die Schulter legt, ich aber nur zusammenzucken kann.
„Du erinnerst dich, nicht wahr?“ Paula sieht mich irgendwie aufmunternd an. „Ja, du fängst an, dich zu erinnern.“ Sie betrachtet mich wie man etwas ansieht, was gerade amüsante Kunststücke vorführt. „Ist das nicht erstaunlich? Was sagst du Frederik? Nach all dem, was du mit ihr angestellt hast? Hättest du gedacht, dass man sich nach all dem und nach so einer langen Zeit noch erinnern kann?“
Sie geht jetzt entspannt im Wohnzimmer auf und ab. Sie ist eine Theaterregisseurin, die gerade im Begriff ist, eine neue Inszenierung auszuprobieren.
„Na kommt schon, wie war das damals, lasst uns weitermachen.“ Was ist mit dieser Frau, wie kann sie nur so tun, als wäre das alles ein harmloses Theaterstück zu ihrer persönlichen Unterhaltung?
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