„Du hast recht, Ingrid, du musst damals aus deinem Kinderzimmer die Treppe herunter gekommen sein, das Problem war nur, dass es niemand von uns bemerkt hat, nicht wahr? Elisabeth hilf uns.“ Wie auf einer Bühne dreht sie sich jetzt geschmeidig zu meiner Mutter um. „Ich glaube du hast dort drüben gestanden, ungefähr dort, wo du jetzt auch stehst, was meinst du?“
Meine Mutter starrt Paula fassungslos an, als würde sie gerade einer Verrückten zusehen, die weder weiß, was sie redet noch was sie tut.
„Frederik, du warst der Einzige, der erst später dazu kam, aber das macht nichts, wir haben noch eine Rolle frei. Ingrids Vater kann bedauerlicherweise heute nicht bei uns sein, du wirst ein bisschen improvisieren müssen.“
„Das alles muss aufhören und zwar sofort!“, schreit Frederik jetzt in Paulas Richtung.
„Das alles hat schon vor vierunddreißig Jahren aufgehört, Frederik.“ Paulas Stimme ist jetzt zum ersten Mal laut und schneidend und wird noch lauter.
„All das, was wir bis dahin waren und wie wir gelebt haben hat in dieser Nacht aufgehört. Das Leben von uns allen, wie wir es bis dahin kannten, hat in dieser Nacht aufgehört. Vielleicht mit einer kleinen Ausnahme: Dir. Man kann nicht gerade sagen, dass es deinem Leben geschadet hat, nicht wahr? Da kam endlich mal Schwung in deine Pläne. Du hast einfach gemacht, was du immer machst, ein bisschen manipulieren, ein bisschen an irgendwelchen Fäden ziehen, ein bisschen in fremden Köpfen herumwurschteln, und schon hattest du die Frau, die du wolltest, hattest ihre Tochter im Griff, ein Prachtstück von einem Haus und eine Karriere, die, aus mir unerfindlichen Gründen, bis heute nicht aufgehört hat. Und weißt du, welchem Umstand du das einzig und allein zu verdanken hast? Der Tatsache, dass Ingrids Vater eine Waffe im Haus hatte. Ja, sieh mich nicht so an, genau so ist es, eine Waffe in einer bestimmten Schublade, in einem bestimmten Moment einer bestimmten Nacht, ohne diesen Umstand wäre nichts so, wie es heute ist, und das wissen wir alle hier.“
Ich sehe Paula an, sehe ihr wutverzerrtes Gesicht und wie sie im nächsten Augenblick zurücktaumelt, als der Schlag meines Vaters sie im Gesicht trifft und Blut von ihrer aufgeplatzten Lippe tropft. Ich stehe auf der Treppe und kann nur auf ihren Mund starren, auf dem das Rot viel zu leuchtend aussieht. In Paulas Gesicht ist keine Spur von Schmerz, als sie sich wieder fängt, sich eine Haarsträhne aus der verschwitzten Stirn streicht und meinen Vater jetzt ansieht. Trotz ist da zu erkennen und Triumph, Reue oder Bedauern haben in diesem Gesicht keinen Platz.
Als Frederiks Hand Paulas linke Wange trifft, gibt es ein seltsam klatschendes Geräusch, das mich wieder in die Gegenwart holt. Aber der Blick, dieser Blick, mit dem sie ihn jetzt ansieht, ist so sehr dieser Blick von damals, dass mir schwindelig wird.
„Halt jetzt endlich den Mund und hör mit diesem Theater hier auf!“ Frederiks Stimme ringt hörbar nach Fassung.
Paula lächelt nur, als sie sich die linke Hand an die Wange hält. „Es bist nicht du, der hier irgendetwas zu entscheiden hat. Du bist nur noch ein alter Mann, der gerade die Kontrolle verliert.“
Frederik will erneut zum Schlag ausholen, als ihn meine Mutter am Hemdkragen so heftig nach hinten reißt, dass ihm für einen Moment die Luft wegbleibt und er sich schwer atmend an den Hals fasst.
Sie ist so dünn denke ich, eigentlich so schwach, wie damals, als mein Vater sie wie etwas Kleines, Leichtes zur Seite stoßen konnte. Ich wollte zu ihr laufen damals, wollte, dass sie das tut, was Mütter tun, schlimme Sachen beenden, indem sie einen in ihre Arme nehmen. Aber ich kann weiter nur wie erstarrt auf der Treppe stehen und zusehen, wie Paula den Kaminhaken in die Hand nimmt. Warum kann das alles geschehen, einfach so, denke ich, da muss doch jemand Stopp sagen, da muss doch jemand aufhören, da muss doch jemand sagen, dass alles nur ein Spaß ist und das Blut auf Paulas Mund, was so strahlend leuchtet, sowieso nicht echt ist.
Aber das tut niemand.
„Weißt du was, Ingrid, ich verrate dir ein Geheimnis.“ Paula, sie spricht, mit mir, hier, jetzt. Oder früher? Nein damals hat sie nicht gesprochen, damals hat sie mit ungeheuerer Wucht den Kaminhaken gegen meinen Vater geschlagen, dazu brauchte sie nichts zu sagen. Er taumelt und fällt und liegt reglos einfach so da.
„Ingrid.“
„Ja.“ Jetzt sehe ich Paula an, wie sie an Frederik vorbei auf mich zugeht. Sie hört sich ernst an, alle Leichtigkeit ist jetzt aus ihrer Stimme verschwunden.
„Ich habe deine Mutter wirklich geliebt damals, weißt du, und sie mich auch. Das konnte sich niemand vorstellen damals, aber so war es. Sie hat mich sogar so sehr geliebt, dass sie nicht zulassen konnte, dass ich sterbe, so sehr, dass sie sogar ein Leben mit diesem Abschaum ausgehalten hat“, sie nickt jetzt nachlässig in Frederiks Richtung. „Verstehst du, dein Vater hatte damit gar nichts zu tun und du auch nicht, niemand wollte euch wehtun, es ging nur darum, dass sie mich geliebt hat, dass sie mich wollte und dass sie mich schützen wollte, als klar war, dass sie mich nicht bekommen konnte. Das ist es, worum es ging, Ingrid. Dass wir uns nicht aussuchen können, wen wir wollen und wie sehr, dass wir manchmal nicht beeinflussen können, dass eine Entscheidung für jemanden auch unweigerlich eine Entscheidung gegen jemand anderen sein muss, gegen ein anderes Leben, gegen diejenigen die im Weg stehen.“
Paula sieht mich direkt an, und ihre Stimme ist nur noch ein Flüstern, und auch ich habe keine Kraft mehr, lauter zu reden.
„Das war es also? Wir standen im Weg?“ Ich sehe meine Mutter an.
„Ingrid“, sagt sie mit einem Kopfschütteln und mit Tränen in den Augen. Ihre Stimme erstickt, und sie sieht mich weiter nur an.
„Du hast schon genug Schwachsinn geredet!“ Frederik ist offensichtlich wieder zu Atem gekommen, ist mit ein paar schnellen Schritten bei Paula und zerrt sie an den Haaren von mir weg.
Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie sich Frank in Bewegung setzt, sehe gleichzeitig meinen Vater auf dem Boden liegen und sich mit einer unglaublich schnellen Bewegung auf Paula stürzen, als sie sich über ihn beugt. In einer einzigen Drehung reißt er ihr den Kaminhaken aus der Hand und wirft sie auf den Boden. Auf dem Rücken liegend kann Paula schon nach einer Sekunde nur noch röcheln, während mein Vater über ihr ist und ihr den Kaminhaken mit Gewalt gegen die Kehle drückt. Ich sehe die Ader auf ihrer Stirn deutlich hervortreten, sehe Schweißtropfen an ihren Schläfen und die Sehnen an ihrem Hals.
Und ich sehe meine Mutter, wie sie langsam eine Pistole auf den Kopf meines Vaters richtet, unsicher, ungläubig, als wüsste sie noch nicht richtig, was sie dort eigentlich in der Hand hat. Einen Moment verharrt alles in Bewegungslosigkeit, mein Vater und meine Mutter sehen sich an, während Paula mit aller Kraft versucht, den Kaminhaken von ihrem Hals wegzubewegen.
„ Tu es“, höre ich jetzt Paula heiser flüstern, und meine Mutter tut es.
Der Schuss ist ohrenbetäubend, so wie die Stille danach.
Die dunkle, nasse Pfütze neben dem Kopf meines Vaters wird schnell immer größer, der Teppich schnell immer schwärzer.
Sie tut es. Der Ständer der Schreibtischlampe ist massiv und schwer. So schwer, dass ein Schädelknochen ganz leicht zerbricht, wenn er mit so viel Wucht getroffen wird wie Frederiks Schläfe jetzt vom Schlag meiner Mutter.
Ich sehe, was passiert, fühle mich viel zu weit weg. Bin eigentlich gar nicht hier, aber kann trotzdem alles sehen und mich über die Kraft wundern, mit der meine Mutter zuschlagen kann. Über die Schnelligkeit, mit der Frederik zu Boden fällt und erneut über die Farbe des Blutes, viel zu leuchtend, viel zu rot.
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