„Guten Morgen“, begrüßte sie ihn, als sie einander erreichten. Auch Liam wünschte ihr einen guten Morgen.
„Hast du gut geschlafen?“, fragte er Nyah.
„Ja, sehr gut“, erwiderte sie noch immer lächelnd. Dass sie kaum ein Auge zugetan hatte verschwieg sie. Die kurze Zeit, die sie dann doch noch geschlafen hatte, war erholsam genug gewesen.
Gemeinsam gingen sie noch einmal zu den Pferden zurück und machten dann einen kurzen Spaziergang durch den Park, bevor sie ins Haus zurückkehrten.
„Müsst ihr nachher sofort aufbrechen?“, fragte Liam auf einmal, während sie gemütlich nebeneinander her schlenderten.
Überrascht sah Nyah ihn an.
„Nun ja, eilig haben wir es eigentlich nicht“, antwortete sie.
Das stimmte. Sie hatte an diesem Tag nichts zu erledigen. Überhaupt nutzte sie die meiste Zeit, die sie auf Jamaica verbrachte, dazu, sich zu erholen und auf das vorzubereiten, was vor ihr lag. Manchmal fragte sie sich ob Liam sich nicht wunderte, was sie hier eigentlich tat und dass sie so viel Zeit zur Verfügung hatte. Doch selbst wenn er sich darüber wunderte, so ließ er es sich nicht anmerken. Andererseits fragte Nyah sich manchmal ebenfalls, womit Liam eigentlich sein Geld verdiente. Wovon er lebte. Auch er hatte scheinbar unendlich viel Zeit. Zeit, die er in den vergangenen Wochen vor allem ihr gewidmet hatte. Ein Gedanke, der Nyah unweigerlich mit Freude erfüllte. Dennoch mussten seine Geschäfte sehr einträglich sein, wenn sie sah in welchem Wohlstand er lebte. Er hatte ihr nur erzählt, dass er Handel betrieb und sie hatte damals nicht weiter nachgefragt.
„Gut“, erwiderte Liam und seine blauen Augen leuchteten auf. „Dann würde ich dir gerne etwas zeigen, wenn du Lust hast. Wir wären zum Mittagessen wieder zurück.“
„Einverstanden“, stimmte Nyah zu. „Verrätst du mir auch, was du mir zeigen wirst?“
„Das ist eine Überraschung“, antwortete Liam und lächelte sie geheimnisvoll an.
Bester Stimmung kehrten sie ins Haus zurück. Mittlerweile waren auch die übrigen Hausbewohner und Ashad auf den Beinen und sie frühstückten alle gemeinsam. Da es ein warmer Tag war hatten die Bediensteten das Frühstück im Garten angerichtet, wo sie einander im Schatten einiger hoher Bäume gegenübersaßen.
Nach dem Frühstück teilte Liam den anderen mit, dass er mit Nyah zum Hafen gehen würde, sie jedoch spätestens zum Mittagessen zurück sein würden.
„Das trifft sich gut“, entgegnete Alex. „Dann bleibt doch noch genügend Zeit, dass ich Ashad unsere Waffensammlung zeige.“
Sie hatten sich am Abend zuvor darüber unterhalten und Ashad hatte großes Interesse bekundet, doch es war dann schon zu spät gewesen um sich die Waffen noch anzusehen. Nyah wusste, dass ihr treuer Freund ein Faible für Schusswaffen hatte und freute sich, dass er dieses Interesse offensichtlich mit Liams Bruder teilte. Als Ashad ihr dennoch einen stummen Blick zuwarf – Nyah wusste nicht, ob er fragend oder eine Spur vorwurfsvoll war – nickte sie und er erwiderte ihr Nicken. Kurz darauf brachen Nyah und Liam zu Fuß auf.
„Wir gehen also zum Hafen?“, fragte Nyah, als sie nebeneinander die Straße entlang gingen, die direkt auf den Hafen zu führte. Nyah konnte bereits das Wasser glitzern sehen.
Da Liam nicht antwortete sah sie ihn von der Seite an. Als er ihren Blick bemerkte verzog sich sein Mund zu einem Grinsen, woraufhin Nyah ihn gespielt beleidigt gegen den Arm schlug.
„Mach es nicht so spannend“, sagte sie lachend. „Was willst du mir zeigen?“
Nun lachte auch Liam.
„Also gut, ich verrate es. Aber bitte schlag mich nicht mehr.“
Bei seinen Worten tat Nyah so, als drohe sie ihm erneut und beide lachten noch mehr. Dann gingen sie weiter.
„Du hast mir einmal erzählt, dass du Schiffe magst und gerne zur See fährst“, sagte er dann und sah Nyah an. Sie nickte.
„Das stimmt“, bestätigte sie. Er hatte es also nicht vergessen.
Inzwischen hatten sie den Hafen erreicht. Es herrschte reges Treiben an den unterschiedlichen Docks. Der Hafen von Port Lantago war groß, jedoch viel übersichtlicher als der von Port Royal. Alles schien hier geordneter abzulaufen. Als Liam plötzlich stehen blieb und sich Nyah zuwandte, sah sie ihn abwartend an.
„Würdest du dir gerne mein Schiff ansehen?“, fragte Liam schließlich.
Fragend sah er Nyah an. Wie würde sie reagieren? Zu seiner Freude erhellte auf einmal ein bezauberndes Lächeln ihr Gesicht als sie nickte.
„Das würde ich sehr gerne.“
„Gut“, freute sich Liam. „Dann komm mit.“
Sein Schiff lag an einem Anleger ein Stück abseits. Während er Nyah auf das Schiff zuführte konnte er seinen Stolz kaum verbergen und ein Blick auf das imposante Schiff genügte Nyah um zu verstehen, warum.
„Dies ist die Pleasure “, sagte Liam als er mit Nyah das Schiff erreichte.
Die Pleasure war ein großes und doch elegantes Schiff. Nyahs geschulter Blick erfasste sofort, dass sie trotz ihrer Größe schnell und wendig sein musste. Außerdem war sie in tadellosem Zustand, doch das hatte sie nicht anders erwartet. Die dunklen Holzplanken, die nur ein Stück unterhalb der Reling von einigen Reihen hellerer Planken unterbrochen wurden, glänzten im hellen Licht der Sonne.
Liam beobachtete lächelnd und nicht ohne Stolz, wie Nyah sein Schiff musterte.
„Möchtest du an Bord gehen?“, fragte er nach einer Weile und Nyah nickte lächelnd.
Gleich darauf folgte sie Liam über die schmale Rampe an Bord der Pleasure . Er hatte ihr seine Hand angeboten um ihr Halt zu geben, doch er stellte fest dass sie ihm mit sicheren, festen Schritten folgte. An Deck sah sich Nyah aufmerksam um und war erneut beeindruckt, wie ordentlich und sauber alles war. Sie hatte schon ganz andere Schiffe gesehen. Die Pleasure glich jedoch ihrem… Sie unterbrach diesen Gedanken, denn während Liam sie an Deck herumführte und ihr ebenfalls die Kabinen und alles, was sie interessierte, zeigte, machte sich auf einmal ihr Gewissen bemerkbar und sie musste schlucken. Liam war so in seinem Element während er ihr alles zeigte und ihre Fragen beantwortete, dass ihm gar nicht auffiel dass ihre Fragen zum Teil sehr präzise waren und für jemanden, der vermeintlich nicht viel von Schiffen verstand, viel zu gezielt und detailliert waren. Als er ihr schließlich anbot sie zu einer kurzen Fahrt mitzunehmen konnte sie ihr schlechtes Gewissen nicht länger ignorieren. Sie musste ihm die Wahrheit sagen – oder wenigstens einen Teil davon. Und das dürfte sie eigentlich auch nicht in Gefahr bringen.
„Liam, ich würde dich sehr gerne bei einer kurzen Fahrt begleiten. Aber… ich muss dir etwas sagen.“
Sie unterbrach sich und überlegte wie sie es Liam sagen sollte.
„Es stimmt dass ich die See liebe. Ich mag es, an Bord eines Schiffes zu stehen während mir der Wind ins Gesicht weht und ich zusehe wie sein Rumpf sich auf den Wellen hebt und senkt. Genauso wie es immer wieder ein unbeschreibliches Gefühl ist, dem Sonnenunter- oder Sonnenaufgang entgegen zu segeln.“
Während sie sprach sah sie Liam an und in seinem Gesicht las sie, dass er genau wusste wovon sie sprach und ihre Empfindungen sehr gut nachvollziehen konnte. Lächelnd erwiderte er ihren Blick.
„Ich freue mich sehr, dass du mir dein wunderschönes Schiff zeigst und ich würde liebend gerne eine Fahrt auf der Pleasure machen. Ich weiß deine Einladung sehr zu schätzen. Und ich weiß auch, dass du mir damit einen Gefallen tun möchtest.“
Wieder hielt sie einen Moment inne und Liams Lächeln nahm einen verschmitzten Ausdruck an.
„Nun ja, das will ich durchaus“, gab er zu. „Aber wenn du mich begleiten würdest, würdest du mir einen ebenso großen Gefallen tun.“
Nun lächelte auch Nyah, doch dann wurde sie wieder ernster.
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