Endlich fasste er sich wieder und trat zu Nyah.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte er und musterte sie besorgt. „Bist du verletzt?“
Nyah erwiderte seinen Blick und war gerührt als sie die Sorge in seinen Augen sah.
„Es ist alles in Ordnung“, antwortete sie. Dann sah sie kurz zu Alex, der neben Liam getreten war, bevor sie wieder Liam ansah.
„Danke für eure Hilfe.“
Liam nickte lächelnd. Dann trat auch Ashad näher und Liam fiel auf, dass der Schwarze ihn einen Moment lang scharf musterte. Liam hielt seinem durchdringenden Blick jedoch mühelos stand und musterte ihn ebenfalls. Er strotzte geradezu vor Kraft und Liam sah, dass seine Muskeln immer noch angespannt waren, obwohl der Kampf vorüber war. Trotz seines fast bedrohlich wirkenden Gesichtsausdrucks sah der Schwarze unbestreitbar gut aus. Sehr gut. Dennoch hatten seine nachtschwarzen Augen etwas Drohendes. Oder täuschte er sich?
Als er Liam und Alex nun ansprach war er sehr höflich.
„Auch ich danke Euch für Eure Hilfe.“
„Gern geschehen“, erwiderte Liam und auf einmal entspannten sich alle.
„Nyah, darf ich dir meinen Bruder Alex vorstellen?“, fuhr Liam nach einer kurzen Pause fort.
Alex trat rasch einen Schritt vor, reichte Nyah die Hand und verbeugte sich leicht.
„Ich freue mich sehr, Euch kennenzulernen, Alex. Euer Bruder hat mir schon viel von Euch erzählt.“
Alex war hingerissen von ihrem Lächeln und er begann zu verstehen weshalb Liam wie ausgewechselt war seit er Nyah kannte. Er fing sich jedoch sofort wieder.
„Die Freude liegt ganz auf meiner Seite“, erwiderte er höflich.
Dann wandte Nyah sich an Ashad und bat ihn mit einer Geste, näher zu kommen.
„Darf ich Euch ebenfalls meinen Begleiter vorstellen?“, sagte sie an Liam und Alex gewandt. „Dies ist mein treuer Freund Ashad.“
Ohne zu zögern reichte Liam ihm die Hand und Alex tat es ihm gleich.
„Sehr angenehm.“
Ashad nickte schweigend und erwiderte den Händedruck. Dann wurden alle wieder ernst und Liam sah Nyah an.
„Wer waren diese Kerle?“, fragte er. „Was wollten sie von euch?“
„Ich weiß es nicht“, gab Nyah zurück. „Ich habe sie noch nie gesehen.“
„Wir waren auf dem Weg nach San Aleandro als sie uns überfielen“, erklärte Ashad weiter. „Zunächst dachten wir es seien gewöhnliche Banditen – ihre Kleidung deutete darauf hin – doch sie konnten erstaunlich gut mit ihren Waffen umgehen.“
Da musste Liam ihm Recht geben. Die fünf Männer waren sehr geschickt mit ihren Degen umgegangen, was für Banditen eher ungewöhnlich war. Dennoch war es schließlich ein Leichtes gewesen, sie in die Flucht zu schlagen als sie nicht mehr gar so deutlich in der Überzahl gewesen waren. Trotzdem fragte Liam sich, was die Kerle gewollt hatten. Nyah zuckte jedoch nur mit den Schultern. Sie wusste wirklich nicht, woher die Männer gekommen waren. Doch es spielte eigentlich auch keine Rolle. Sie waren keine wirkliche Gefahr gewesen. Ashad und sie hatten sie recht gut in Schach halten können, wenngleich sie dennoch dankbar war, dass das Schicksal ihnen Liam und Alex zu Hilfe geschickt hatte. Obwohl sie eine geschickte Degenkämpferin war hatte sie gemerkt dass sie ein wenig aus dem Training war. Daher nahm sie sich vor bei Gelegenheit mit Ashad zu trainieren.
Auch Liam hatte bewundernd festgestellt, wie gut Nyah gekämpft hatte. Sie hatte sich äußerst gewandt und zielsicher bewegt und ihre Angriffe waren stets überlegt und treffsicher gewesen. Dabei waren all ihre Bewegungen grazil und geschmeidig gewesen.
Als er kurz darauf alleine mit Nyah zurückblieb, während Ashad und Alex jeweils nach den Pferden sahen, begleitete Liam Nyah ans Wasser, wo sie sich hinkniete um sich Hände und Arme zu waschen.
„Wo hast du so gut kämpfen gelernt?“, fragte er nach einem Moment.
Zunächst schwieg Nyah und wusch sich zu Ende. Als sie Liam nach einer Weile ansah konnte er ihren Blick nicht deuten und glaubte schon, sie würde ihm nicht antworten. Ihre schwarzen Augen waren unergründlich auf ihn gerichtet und Liam wünschte sich, in diesem Moment ihre Gedanken lesen zu können. Es gab immer wieder Augenblicke in denen er fürchtete, Nyah durch irgendeine unbedachte Handlung oder Bemerkung zu nahe getreten zu sein oder verletzt zu haben ohne es zu wollen und ohne überhaupt ahnen zu können, etwas falsch gemacht zu haben. Er meinte dann meistens, für einen winzigen Moment einen kaum wahrnehmbaren Schatten über ihr schönes Gesicht huschen zu sehen, so als habe er eine unangenehme Erinnerung wach gerufen. Sie war oft sehr verschlossen, doch daran hatte Liam sich bereits gewöhnt. Er hatte jedoch den Verdacht dass es gute – oder schlimme – Gründe dafür gab, dass Nyah nur wenig über sich erzählte. Und dass sie in manchen Situationen auf einmal den Eindruck erweckte, sich in sich selbst zurückzuziehen. Es konnte sein, dass sie in einem Augenblick noch ausgelassen mit ihm lachte und im nächsten auf einmal ernst und ganz still wurde. Liam glaubte dann oft, etwas Falsches gemacht oder gesagt zu haben, doch Nyah hatte ihm einmal versichert, dass es nicht an ihm lag. Sie hatte sich sogar für ihren plötzlichen, unerklärlichen Stimmungswandel entschuldigt, obwohl es dafür gar keinen Grund gab. Liam wünschte sich nur einfach, sie besser verstehen zu können. Er wünschte sich zu wissen, was sie bedrückte. Und er wünschte sich, sie in solch einem Moment zu trösten. Dies war jedoch ein völlig abwegiger Wunsch, denn er spürte dass Nyah ihn nicht an sich heranlassen würde. Etwas in ihrer Haltung gebot ihm Vorsicht und Zurückhaltung, auch wenn ihm das manchmal sehr schwerfiel. Sie vertraute ihm nicht und das konnte Liam ihr nicht einmal übel nehmen. Obwohl er sich, wie er sich selbst eingestehen musste, nichts mehr wünschte. Was war es, das diese bezaubernde, schöne Frau so misstrauisch und überaus vorsichtig gemacht hatte? Was hatte sie erleben müssen? Würde er das jemals erfahren? Würde sie irgendwann bereit sein, sich ihm zu öffnen? Er wünschte es sich. Mehr als alles andere. Doch wenn überhaupt, so würde er Geduld haben müssen. Und das würde er, auch wenn er normalerweise kein sehr geduldiger Mensch war. Doch mit Nyah war es anders. Alles war mit ihr anders. Doch eben das zog ihn so sehr in ihren Bann. Wer bist du, schöne Frau fragte Liam sich immer wieder. Würde er die Antwort irgendwann herausfinden?
Nun erhielt er zu seiner Freude aber erst einmal eine Antwort auf seine laut ausgesprochene Frage. Als Nyah aufstand lächelte sie ihn an und etwas blitzte in ihren Augen auf.
„Nun, ich bin eine gute Beobachterin“, sagte sie. „Ich hatte häufig die Gelegenheit, verschiedenen Kämpfern beim Training zuzusehen. Beim Training mit dem Degen, aber ebenso mit Schusswaffen. Schließlich bat ich Ashad darum, mit mir zu trainieren.“
Liam war beeindruckt – und fasziniert. Er hatte nie zuvor eine Frau kämpfen sehen. Schon gar nicht derart elegant und geschickt. Nyah war wirklich eine ungewöhnliche Frau.
Auch der Schwarze hatte einen sehr geschmeidigen, jedoch ebenso gefährlichen Kampfstil, wie Liam beobachtet hatte. Und ihm war aufgefallen dass Nyah und Ashad beim Kampf extrem gut auf einander abgestimmt gewesen waren. Alle ihrer Bewegungen hatten sich perfekt ergänzt.
Er wollte gerne wissen wie Nyah dazu gekommen war, fechten und wohl auch schießen zu lernen, doch bevor er seine Frage laut aussprechen konnte schien Nyah seine Gedanken bereits zu erahnen.
„Ich weiß, es ist ungewöhnlich für eine Frau, kämpfen zu lernen. Vor allem kämpfen zu lernen, wie es eigentlich nur Männer tun. Doch ich finde, jeder sollte sich zu verteidigen wissen. Jeder! Auch eine Frau – vielleicht gerade eine Frau.“
Sie lächelte noch immer leicht, als sie das sagte, doch Liam meinte, noch mehr aus ihrer Stimme heraushören zu können, konnte es aber nicht deuten. Als er über Nyahs Worte nachdachte musste er ihr Recht geben. Was sie sagte stimmte, aber dennoch käme wohl kaum eine Frau auf den Gedanken, wie ein Mann kämpfen zu lernen. Schon gar nicht mit solchen Waffen. Dennoch war er nach wie vor tief beeindruckt von Nyah. Als er schließlich nickte, lächelte er sie an.
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