„Nyah, darf ich Euch etwas fragen?“
„Natürlich“, erwiderte Nyah.
Liam zögerte einen Moment, doch die Frage ließ ihm keine Ruhe.
„Was tut Ihr hier auf Jamaica? Und – woher seid Ihr gekommen?“
Nyah sah Liam einen Augenglick lang schweigend an und er glaubte schon, er sei zu weit gegangen und sie würde nicht antworten, doch dann lachte sie auf einmal leise.
„Ihr könnt es nicht lassen, nicht wahr?“, fragte sie mit blitzenden Augen. „Ihr seid sehr neugierig.“
Liam lächelte.
„Nun, Ihr fasziniert mich und ich möchte gerne mehr über Euch erfahren.“
Noch immer lachend schüttelte Nyah den Kopf.
„Und Ihr seid sehr offen. Unter zu viel Zurückhaltung leidet Ihr jedenfalls nicht.“
Nun blitzte es in Liams Augen auf.
„Das liegt einzig und allein an meinem Gegenüber. Ihr… Ihr verzaubert mich.“
Und das tat sie wirklich. Wenn Liam mit Nyah zusammen war vergaß er alles um sich herum und er kam sich vor wie in einem Traum. Sie löste etwas in ihm aus das er nicht gekannt hatte. Gerührt beobachtete er jetzt, wie sie leicht errötete. Wie bezaubernd sie war! Dann fing sie sich wieder und zu Liams Freude beantwortete sie zumindest einen Teil seiner Fragen.
„Ich bin erst kürzlich von einer Reise nach Spanien zurückgekehrt. Ich… nun ich musste dort etwas abholen und hierher nach Jamaica bringen. Das ist auch der Grund weshalb ich überhaupt hier bin.“
Sie schwieg einen Moment bevor sie fortfuhr.
„Bitte verzeiht, aber ich kann nicht darüber sprechen.“
Entschuldigend sah sie Liam an, doch er hob abwehrend eine Hand.
„Ich verstehe und das ist in Ordnung. Und was es auch sein mag, das Euch hierher geführt hat. Ich bin sehr froh darüber dass wir uns dadurch begegnet sind.“
Lächelnd sah er Nyah an und sie erwiderte sein Lächeln. Natürlich hätte Liam gerne mehr erfahren, aber er wollte nicht aufdringlich sein und er verstand wenn Nyah nicht mehr erzählen wollte oder konnte. Dennoch war seine Neugier geweckt. Was hatte die junge Frau zu solch einer weiten und sicher nicht ungefährlichen Reise veranlasst? Es musste etwas sehr Wichtiges sein. Liam wusste besser als jeder andere um die Gefahren, die auf den Meeren dieser Welt herrschten. Als er Nyah darauf ansprach zuckte sie leichthin mit den Schultern.
„Davor fürchte ich mich nicht“, entgegnete sie. „Ich liebe die See. Sie ist wie eine zweite Heimat für mich. Ich fühle mich auf dem Wasser sehr wohl.“
Erstaunt sah Liam sie an. Damit hatte er nicht gerechnet. Diese Frau überraschte ihn einfach immer wieder.
„Ihr reist also gerne?“
Das erschien ihm eher außergewöhnlich. Die Zeiten waren unsicher und es war gefährlich auf See. Er war selbst lange Zeit eine der größten Gefahren der Meere gewesen.
„Nun, ich würde es nicht unbedingt als reisen bezeichnen. Eher als Notwendigkeit. Jedoch eine angenehme Notwendigkeit.“
Verwirrt sah Liam Nyah an, doch sie lächelte nur und schwieg. Sie würde ihm nicht verraten was sie damit meinte, das war eindeutig. Liam fragte nicht weiter nach.
„Mit welchem Schiff seid Ihr denn von Spanien hierhergekommen?“, fragte er stattdessen. In letzter Zeit hatten nicht viele Schiffe aus Spanien in Port Royal angelegt.
„Ihr werdet es nicht kennen“, antwortete Nyah. „Ich bin nicht mit einem der Schiffe gekommen, die mehr oder minder regelmäßig zwischen Europa und der Karibik kreuzen. Ich…“
Sie wusste nicht was sie Liam sagen sollte. Wie sollte sie ihm erklären dass sie mit ihrem eigenen Schiff, der Dawning Star, nach Jamaica gekommen war? Damit würde sie ihm möglicherweise mehr verraten als gut war. Sie musste ohnehin wachsam sein was sie ihm sagte.
„Ich hatte eine private Mitfahrgelegenheit“, sagte sie schließlich und sah die Überraschung in Liams Augen.
„Betreibt Eure Familie Handel?“, fragte er. Dennoch wunderte er sich darüber dass Nyah eine solche Reise unternommen hatte. Ebenso wie er sich fragte ob sie alleine hier auf Jamaica war.
Es gab so vieles das er gerne über sie gewusst hätte. So viele Fragen, die er dieser geheimnisvollen Frau gerne gestellt hätte. Doch bei seiner letzten Frage legte sich plötzlich und unübersehbar ein Schatten über ihre schönen, ebenmäßigen Gesichtszüge. Ihr Lächeln erstarb und sie wandte den Blick ab. Schon bevor sie antwortete bereute Liam seine Frage.
„Ich habe keine Familie“, antwortete sie leise und stand auf um ein paar Schritte in Richtung Wasser zu gehen.
Auf halbem Weg blieb sie stehen. Liam folgte ihr nach kurzem Zögern. Als er neben sie trat sah er sie vorsichtig an. Sie hatte den Blick unverwandt aufs Wasser gerichtet.
„Das tut mir sehr leid“, sagte er schließlich leise. „Bitte verzeiht meine Frage. Ich… ich hätte niemals so neugierig sein dürfen.“
„Es muss Euch nicht leid tun“, erwiderte Nyah nach einer Weile.
„Wirklich nicht“, fügte sie lächelnd hinzu als sie Liams betretenen Blick sah. Nun lächelte auch er erleichtert. Er hatte befürchtet, durch seine Unvorsicht alles zerstört und Nyah verärgert zu haben. Und er wollte sie auf keinen Fall traurig machen. Doch sie schien es ihm nicht übel zu nehmen. Dennoch nahm er sich vor, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Er wusste nur wenig über sie und es schien ihr Wunsch zu sein dass das auch so blieb. Und er würde ihren Wunsch respektieren, auch wenn es ihm schwer fiel. Aber vielleicht würde sie ihm mit der Zeit mehr vertrauen und sich ihm weiter öffnen. Wenn sie es wollte. Und wenn sie konnte. Liam hatte den Verdacht dass Nyah von mehr als einem Geheimnis umgeben war. Doch der Wunsch dass sie ihm vertraute war beinahe übermächtig und ließ ihn nicht los. Aber wenn überhaupt Hoffnung bestand würde er wohl Geduld haben müssen. Er würde jedoch alles tun wenn auch nur ein Funken Hoffnung bestand.
Umso größer war seine Angst vor Nyahs Antwort auf seine letzte Frage bevor sie sich etwas später von einander verabschiedeten.
„Werde ich Euch wiedersehen?“
Nyah schwieg einen Augenblick lang. Dann antwortete sie mit einer Gegenfrage.
„Möchtet Ihr das denn?“
Bei ihren Worten blitzte etwas in ihren Augen auf und Liam lächelte sie an.
„Wie könnt Ihr daran zweifeln?“, beantwortete er ihre Frage.
Nun lächelte auch Nyah.
„Dann wäre es mir eine Freude“, entgegnete sie und Liams Augen leuchteten.
„Wie wäre es mit morgen? Zur selben Zeit am selben Ort?“
Nyah nickte lächelnd. Dann verabschiedete sie sich von Liam und schwang sich mit einer eleganten Bewegung auf Corazóns blanken Rücken.
„Bis morgen, Liam.“
„Bis morgen, Nyah. Ich freue mich!“
Dann ritten sie in entgegengesetzte Richtungen auseinander.
Fortan trafen sie sich immer wieder an der Botigo Bay. Dabei genossen sie jedes ihrer Treffen und kamen sich dabei unweigerlich näher und wurden einander immer vertrauter. Dennoch war Liam stets darauf bedacht, Nyah nicht mehr zu nahe zu treten. Und Nyah war froh darüber, eine gewisse Distanz zwischen ihnen zu wahren, wenngleich sie jedes Mal ein Kribbeln durchlief wenn Liam ihre Hand nahm und sie nebeneinander durch das seichte Wasser spazierten. Mehr war jedoch nicht möglich.
Als Nyah nach einem ihrer Treffen mit Liam am späten Nachmittag auf ihre Hacienda zurückkehrte wartete Ashad bereits auf sie. Der Schwarze trat ihr mit finsterem Blick entgegen als sie ihren Schimmelhengst Ánima, den sie an diesem Tag zum ersten Mal ausgewählt hatte um zu ihrem und Liams Treffpunkt zu gelangen, vor dem Brunnen zwischen Wohnhaus und Stall zum Stehen brachte.
„Du warst lange fort“, sagte er leise und trat neben Nyah, die gerade abgestiegen war.
Seine Worte klangen vorwurfsvoll, doch Nyah kannte ihn besser. Er hatte sich Sorgen gemacht. So wie er sich jedes Mal Sorgen machte und es keineswegs guthieß wenn sie Liam traf.
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