Da es nach diesem sonnigen Tag noch lange hell blieb begaben sie sich nach dem Essen auf einen kleinen Spaziergang durch den Park, der das Haus umgab. Alex und Ashad waren schnell in ein Gespräch über verschiedene Kampfstile und Waffen vertieft. Beide kannten sich in diesem Thema gut aus und konnten so ihre Erfahrungen austauschen. Nyah war überrascht, dass Ashad scheinbar all seine Skepsis vergessen hatte und nun ganz offen und zwanglos mit Alex sprach. Doch auch ihr selbst war Liams Bruder sympathisch und sie freute sich darüber, dass Ashad sich ebenfalls wohl zu fühlen schien. Nur Alex‘ Frau Elena tat ihr ein wenig leid, da sie sich an diesem Gesprächsthema so gar nicht beteiligen konnte und einfach schweigend neben Alex her ging. Sie machte jedoch einen gleichmütigen Eindruck.
Nyah hatte sich erneut, wenn auch zuerst ein wenig schüchtern, bei Liam untergehakt und sie folgten den anderen langsam in einigem Abstand. Liam hatte sanft seine linke Hand auf Nyahs Hand gelegt, die an seinem rechten Arm ruhte. Wieder hatte er gespürt, wie sie sich für einen Moment angespannt hatte und er hatte schon gefürchtet dass sie ihm ihre Hand wieder entziehen würde, doch zu seiner Freude hatte sie sich gleich darauf wieder entspannt.
„Würdest du mir deine Pferde zeigen?“, fragte Nyah auf einmal und entlockte Liam damit ein Lächeln.
„Aber natürlich“, antwortete er. „Sehr gerne.“
Er gab Alex ein kurzes Zeichen und bedeutete ihm, dass er mit Nyah zu den Ställen hinüber ging, die sich auf der Rückseite an das Wohnhaus anschlossen. Alex nickte ihm zu und ging dann mit Elena und Ashad weiter. Zuvor warf Ashad Nyah einen kurzen, dunklen Blick zu. Nyah schüttelte jedoch kaum merklich den Kopf.
Auch Liam hatte den Blick des Schwarzen bemerkt.
„Es ist ihm nicht recht, dass wir uns abseilen, nicht wahr?“, fragte er und etwas blitzte in seinen Augen auf.
„Nein“, bestätigte Nyah. „Das ist es nicht.“
„Möchtest du… lieber wieder zurück?“, fragte Liam leise.
Nyah schüttelte den Kopf.
„Nein“, antwortete sie lächelnd und Liam freute sich über ihre Antwort.
„Gut“, erwiderte er lächelnd und langsam gingen sie weiter. Bevor sie die Ställe erreichten hielt Liam plötzlich an und wandte sich Nyah zu.
„In welchem Verhältnis steht ihr zueinander?“, fragte er unvermittelt. „Du und Ashad, meine ich.“
Liam hatte versucht, seine Neugierde zu unterdrücken, doch er musste es einfach wissen. Nyah sah ihn einen Moment lang schweigend an. Ihre dunklen Augen wirkten im schwächer werdenden Licht tiefschwarz.
„Das ist nicht so einfach zu erklären“, begann Nyah leise. Ihre Miene war dabei sehr ernst.
„Wir kennen uns schon sehr lange. Unsere beiden Leben sind seitdem untrennbar miteinander verbunden.“
Einen Augenblick lang unterbrach Nyah sich und wandte den Blick ab, so als überlegte sie, wie sie es Liam erklären sollte. Dann sah sie ihn wieder an.
„Vor langer Zeit, als jeder von uns Hilfe am allernötigsten brauchte, sind wir für einander da gewesen. Seitdem hat sich eine tiefe Freundschaft zwischen uns entwickelt. Wir sind einander… sehr vertraut und waren selten mehr als ein paar Tage voneinander getrennt.“
Liam nickte und freute sich über diese ehrliche Antwort. Wenngleich er wieder meinte, bei Nyahs Worten einen Schatten über ihr ernstes Gesicht huschen zu sehen. Er war jedoch froh darüber, dass Nyah nur von Freundschaft sprach. Unendlich froh sogar.
„Man merkt dass ihr euch schon lange kennt. Ihr scheint euch wortlos zu verstehen, nicht wahr?“
Nyah nickte.
„Es ist schön wenn man jemanden so gut kennt, dass man sich sogar ohne Worte versteht und weiß, was der andere fühlt und denkt“, fuhr Liam fort. „Bei Alex und mir ist es genauso.“
Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort.
„Bei Ashad habe ich zusätzlich den Eindruck, als wolle er dich beschützen. Habe ich Recht?“
Nun musste Nyah lachen und ihr Gesicht hellte sich auf.
„Oh ja, das stimmt. Er macht sich ständig Sorgen. Dabei weiß er genau, dass ich sehr gut auf mich selbst aufpassen kann.“
„Das kannst du allerdings“, entgegnete Liam und lächelte Nyah an. „Ich habe selten jemanden so gut kämpfen sehen wie dich. Das würde man jedoch nicht erwarten wenn man dich sieht. Und – nun ja, ich würde mir auch ständig Sorgen um dich machen, wäre ich an Ashads Stelle.“
Sie wirkte so zart, dachte Liam. Und manchmal so verletzlich. Nyah erwiderte sein Lächeln und sah ihn einen Moment lang schweigend an. Seine letzten Worte waren sehr leise gewesen. Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und beschloss daher, um ihre Verlegenheit zu verbergen, nur auf seine vorherigen Worte einzugehen.
„Ich weiß“, erwiderte sie leise. Der Umstand, dass sie eher zart und schutzlos wirkte, war schon oft von Vorteil und eine natürliche Tarnung für sie gewesen. Jedoch vor vielen Jahren auch ihr Verhängnis. Denn damals war sie tatsächlich schwach und hilflos gewesen. Doch davon durfte Liam nichts wissen. Niemand durfte davon wissen.
Nyah war froh als Liam nach einem kurzen Schweigen weitersprach.
„Mit Ashad an deiner Seite kann dir jedenfalls nicht viel passieren“, sagte er mit einem verschmitzten Lächeln. „Sein düsterer Blick kann einem wirklich Furcht einflößen.“
Das meinte Liam ganz ehrlich. Er selbst fühlte sich unwohl, wenn der großgewachsene Schwarze ihn mit seinem durchdringenden, dunklen Blick fixierte.
Nun lachte Nyah wieder leise.
„Das stimmt. Dabei meint er es gar nicht böse.“
Dennoch wusste sie, dass Ashad sie immer schützen und wenn es sein musste sogar sein Leben für sie geben würde.
Sie sahen sich noch einen Moment lang lächelnd an, dann ergriff Liam Nyahs Hand – dieses Mal ganz vorsichtig – und sie gingen weiter zu den Ställen. Liam freute sich, dass Nyah den sanften Druck seiner Finger leicht erwiderte.
Als sie die Ställe erreichten öffnete Liam das große Tor und ließ Nyah den Vortritt. Dann bat er sie jedoch, einen Augenblick zu warten während er die beiden Lampen entzündete, die zu beiden Seiten des Tors an der Wand hingen. Im Stall war es bereits sehr dunkel, obwohl jede der Pferdeboxen ein großes Fenster hatte. Doch das dämmrige Licht war nicht mehr stark genug, um den Stall zu erhellen. Als die Lampen ein angenehmes, gedämpftes Licht auf den Stallgang warfen gingen Liam und Nyah weiter.
Nyah war beeindruckt, wie sauber und großzügig der Stall und die Boxen waren. Liams Stall glich ihrem eigenen, obwohl ihr Stall natürlich kleiner war. Sie selbst brauchte nur Platz für ihre beiden Hengste Ánima und Corazón, sowie Ashads Pferd und zwei weitere Kutschpferde, die sie jedoch nur selten einspannte. Liam hingegen besaß über zwanzig Pferde, wie er Nyah gerade erzählte, darunter einige Nachwuchspferde und Fohlen. Die Pferde sahen durchweg gut genährt und gesund aus. Es waren alles reinrassige Cartujanos, wie Nyah unschwer erkennen konnte. Das spanische Blut ihrer Vorfahren war unverkennbar, genau wie bei ihren eigenen Hengsten, wenngleich Nyahs Hengste nicht mit anderen Pferd vergleichbar waren. Liam freute sich als er erneut feststellte, wie sehr Nyah seine Leidenschaft für Pferde teilte. Dass sie sich gut mit Pferden auskannte wusste er ohnehin. Das hatten ihre präzisen Fragen schon früher deutlich gemacht. Doch der Glanz ihrer Augen, die Zärtlichkeit, mit der sie die Pferde, die ihr neugierig die Köpfe entgegen streckten, streichelte und die kaum hörbaren freundlichen Worte, die sie ihnen zuraunte zeigten ihm deutlich, wie sehr sie diese Tiere liebte. Genau wie er selbst. Natürlich war es bei ihren eigenen Pferden noch intensiver. Liam wusste, dass Nyah für ihre beiden Hengste etwas ganz Besonderes empfand. Er konnte es deutlich spüren, wann immer sie mit ihnen zusammen war. Zwischen Nyah und ihren Pferden existierte ein sehr intensives Band, das mit Worten kaum zu beschreiben war. Er wusste, dass sie die beiden Hengste bei sich hatte, seit sie Fohlen gewesen waren, wenngleich sie ihm nicht erzählt hatte, woher sie sie hatte. Ein weiteres Geheimnis, das er noch nicht hatte lüften können. Doch vielleicht irgendwann.
Читать дальше