In dem Moment trat Elke in die Tür. Hedda hielt die Luft an. Sie hatte sie nicht kommen hören.
„Was machst du in meinem Zimmer?“ Elke war sichtlich erstaunt. Ihr Blick wanderte von Hedda auf die offene Glastür ihrer Vitrine und dann wieder zurück zu Hedda.
Diese stand wie gelähmt am Fenster. Was sollte sie jetzt tun? Sie wusste sich nicht zu verhalten. Einfach aus dem Zimmer hinauszulaufen, erschien ihr absolut unmöglich, da Elke noch immer in der Tür stand. Die Vorstellung, ihr so nah zu sein und sich dem Risiko einer strafenden Reaktion aus nächster Nähe auszusetzen, machte sie unfähig, auch nur einen Schritt in Elkes Richtung zu wagen. Sie senkte den Kopf, um dem fordernden Blick auszuweichen, zu sehr fühlte sie sich ertappt, etwas Unrechtes getan zu haben. Die prekäre Situation und ihre verräterischen hektischen Flecken am Hals - deren aufsteigende Hitze sie nur allzu gut kannte - waren unmissverständlich.
Heddas Knie zitterten, ihr Herz klopfte wie verrückt.
Langsam drehte sie sich zum Fenster, um es wieder zu schließen. Sie beugte sich ein wenig hinaus, um mit ihrer ebenfalls zitternden Hand einen der beiden Fenstergriffe zu erreichen. Ihre andere Hand hielt immer noch den kleinen Elefanten fest umklammert.
Mit einem Male hörte sie hinter sich Elke weiter in das Zimmer hinein treten und direkt auf sich zukommen. Hedda zuckte zusammen und erschrak fürchterlich. In dem Augenblick glitt ihr unversehens der Elefant aus der Hand und fiel hinab in die Tiefe.
Hedda sperrte geschockt ihren Mund auf. Für Sekunden schien ihr Herz stillzustehen. Sie starrte dem Elefanten nach, wie er in rasender Geschwindigkeit hinabstürzte. Dann riss sie ruckartig ihren Kopf zu Elke herum, die jetzt mitten im Zimmer stand und immer noch auf eine Antwort wartete. Schweißperlen benetzten Heddas Stirn.
„Der Elefant ... er ...“, haspelte sie in panikartiger Erwartung auf das, was jetzt kommen würde, „er ... er ist mir aus der Hand gefallen.“
„Er ist was? ... Mein Elefant?“ Elke stürzte in einem wütenden Ansturm zum Fenster, schob Hedda unsanft zur Seite und beugte sich suchend hinaus.
Mit zusammengepressten Lippen und eingezogenen Schultern stand Hedda eingeschüchtert hinter ihr und fixierte ängstlich gebannt den vornüber geneigten Körper direkt vor sich. Im nächsten Augenblick befand Elke sich bereits im freien Fall. Hedda starrte erschrocken auf das offene Fenster vor sich. Bei dem Geräusch des Aufpralls zuckte sie unwillkürlich zusammen. Der Hauch einer fernen Erinnerung hatte sie für einen kurzen Moment gestreift, war aber ebenso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war.
„Wie kann man nur so leichtsinnig sein?“ Der Polizist schaute aus dem einen Fenster und blickte verwundert entlang der Scheibe des zweiten geschlossenen Fensterflügels. Zu Hedda gewandt sagte er: „Stellen Sie lieber den Putzeimer weg, bevor Ihnen noch das Gleiche passiert. Sie stehen ja noch richtig unter Schock, so bleich wie Sie immer noch aussehen.“ Er nahm den Eimer von der Fensterbank und reichte ihn Hedda.
Dann ging er durch das Zimmer. „Hatte sie Verwandte?“
„Das weiß ich nicht“, antwortete Hedda.
„Und irgendwelche Habseligkeiten?“
„Nein, nur ihre Kleidung.“
„Und was ist mit diesem Glasschrank hier?“
Hedda zuckte zusammen. „Oh, der Glasschrank ... der gehört mir“, antwortete sie hastig.
„Sehr schöne Sachen.“ Bewundernd beugte der Polizeibeamte sich zur Vitrine hinunter. „Sehr ausgefallen.“
Hedda atmete auf. „Ja, das stimmt, es sind wirklich schöne Sachen“, bestätigte sie mit einem leisen Lächeln im Gesicht. „Die habe ich mir alle von meinen Reisen mitgebracht. Ich finde, der Schrank macht sich in diesem Zimmer besonders gut.“
Er nickte und ging. „Das war’s dann wohl. Auf Wiedersehen.“
Wie sollte es jetzt weitergehen? Das Zimmer war wieder frei, und Hedda stand vor der Entscheidung, weiter alleine zu leben oder neu zu vermieten.
In sich versunken saß sie an ihrem Küchentisch und grübelte. Sie hatte sich einen Tee gekocht. Eigentlich hasste sie derartige Überlegungen, die von lebensentscheidender Bedeutung waren. Ob richtig oder falsch stellte sich ja leider immer erst hinterher heraus; nur war es dann bereits zu spät und sie musste mit den Konsequenzen leben. Und die waren meist nicht ohne. Aber das vorher schon genau abwägen und beurteilen zu können, war für Hedda schier unmöglich, da sie mit allen Entscheidungen endlos zauderte. Blitzeinfälle hatte sie leider nur sehr selten. So plagte sie sich oft sehr lange mit solchen grundsätzlichen Fragen wie dieser jetzigen Klärung ihrer weiteren Lebensplanung.
Hedda nahm die wärmende Teetasse in beide Hände und ließ den heißen, aromatischen Dampf in die Nase strömen. Sie dachte zurück an die Zeit, als ihr die Arbeit gekündigt wurde, an dieses öde Leben in Einsamkeit und Schwermut, völlig isoliert von allem, was lebendig war. So wie es jetzt aussah, war sie bedauerlicherweise zurückgekehrt an genau diesen Punkt. Die Aussicht allerdings, die Gefühle dieser Zeit würden wieder Besitz von ihr ergreifen, bestärkten sie in der Entscheidung, sich der drohenden Einsamkeit nicht wieder auszusetzen. Nie wieder wollte sie in einer derartigen Monotonie des tristen Daseins, in der die Sinne verkümmerten, weil das natürliche Licht an Bedeutung verlor und sie nur noch von starrer Finsternis umgeben war, dahinvegetieren.
Also hielt sie sich noch einmal vor Augen, welche Vorteile ihr die Zimmervermietung einbrachte. Das Zusammenleben mit Elke war eigentlich - unterm Strich betrachtet - für Hedda eine positive Erfahrung gewesen. Gut, es hatte einen Bruch zwischen ihnen gegeben, und das plötzliche Ende war auch nicht vorauszusehen gewesen; doch die gemeinsame unbeschwerte Zeit davor mochte sie auf keinen Fall missen. So vergnügliche Stunden wie mit Elke waren ihr in ihrem bisherigen Leben noch nie vergönnt gewesen. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie mit Elke eine sehr glückliche Zeit hatte, auch wenn sie die Kränkung später aufs Tiefste getroffen hatte.
In Erinnerung an die mit Frohsinn erfüllten Tage ergriff Hedda ein starkes Verlangen, wieder in einen Taumel von Glückseligkeit und heiterer Stimmung mitgerissen zu werden. Da sie aber keine Person war, die sich auf den Weg gemacht hätte, das Glück zu suchen, geschweige denn, sich irgendwelchen anderen Menschen aufzudrängen oder gar selbst die Initiative zu ergreifen, jemand Fremden anzusprechen, musste sie einen unüblichen Weg beschreiten, um Kontakte zu knüpfen. Die Idee mit den Untermietern schien ihr daher nach wie vor am geeignetsten. Sie musste lediglich wieder ihr Zimmer in der Zeitung anbieten. Dann konnte sie in aller Ruhe zu Hause abwarten, bis sich die Interessenten von sich aus meldeten und zu ihr kamen.
Hedda nahm einen Schluck Tee. Doch es sollte schon wohldurchdacht sein, diesen Schritt ein zweites Mal zu wagen, wollte sie nicht noch so einen Reinfall erleben.
Unaufhörlich kreisten die Gedanken durch ihren Kopf. Eigentlich - wenn sie es so recht überlegte - hatte bei der Sache doch zweifelsohne sie die bessere Position. Genau genommen handelte es sich hier nämlich um ein Machtverhältnis zu ihren Gunsten. Schließlich war sie diejenige, die das Zimmer vermietete, in ihrer Wohnung. Vielleicht müsste sie nur an ihrem bisherigen Auftreten etwas verändern, damit ihre Untermieter sich ihr gegenüber nicht so respektlos verhielten, wie Elke es getan hatte.
Hedda saß da und überlegte weiter. Der Schlüssel lag für sie in dem Wort Untermieter. Wenn also die Personen, die bei ihr einzogen, ihre Untermieter waren, dann müsste Hedda ja logischerweise die Obermieterin sein.
Sie stellte ihre Teetasse auf den Tisch und richtete sich kerzengerade auf. Ihre Augen funkelten. Wieso war sie da nicht schon früher drauf gekommen? Die Fakten waren so eindeutig und klar. Die anderen waren demnach abhängig von dem, was sie ihnen gewährte, wen und was sie in ihrer Wohnung duldete. In dem Wort Untermieter lag die genaue Zuordnung unten , demnach wäre sie oben. Das musste sie sich von nun an immer vor Augen halten und denen, die hier einziehen wollten, ganz klar zum Ausdruck bringen.
Читать дальше