Hedda ging in ihr Zimmer und setzte sich auf das Bett. Sie schaute zur Seite. Neben ihr lag ihre Stoffpuppe. Sie nahm sie in die Hand und drückte sie ganz fest an ihre Brust. Nur von ihrer Puppe fühlte sie sich verstanden. Sie allein gab ihr Trost, wann immer sie es brauchte, sie war überhaupt das liebste, was sie besaß. Hedda schmiegte ihr Gesicht an das wollene Haar, während ihr Blick stumm über den Boden glitt und sich ihre Gedanken in altbekannte, trübsinnige Erinnerungen verloren.
Der heutige Geburtstag war nichts Besonderes für Hedda. So oder so ähnlich verlief er, seit sie denken konnte. Es gab auch Jahre, in denen gar nicht erwähnt wurde, dass Hedda Geburtstag hatte. Und da sie sich als Kind nicht für Kalender interessierte, hatte sie früher nie gewusst, welcher von den vielen Tagen ihr Geburtstag hätte sein können. Also vermisste sie diesen Tag oder gar eine Geburtstagsfeier auch nicht. Oder doch? Ganz tief in ihr drinnen, vermisste sie da nicht doch etwas, irgendetwas Undefinierbares, Sehnsüchtiges, ein bisschen Wärme vielleicht?
Der Tag der Geburt ihrer Tochter sei der schwärzeste in ihrem ganzen Leben gewesen, hatte die Mutter Hedda einmal wutentbrannt ins Gesicht geschrien, als diese aus Versehen eine Schüssel mit Gurkensalat auf den Boden hatte fallen lassen. „Du bist die Missgeburt schlechthin“, hatte sie gebrüllt. „Womit habe ich das bloß verdient? Eine gottverdammte Strafe bist du, nichts weiter. Nichts als Ärger und Arbeit habe ich mit dir.“ Dabei hatte Hedda alles selbst wieder aufwischen müssen. Zur Strafe hatte sie dann kein Mittagessen bekommen und den ganzen Tag ihr Zimmer nicht mehr verlassen dürfen.
Sie schaute auf die Stoffpuppe in ihren Armen. Vor einem Jahr, da war es anders gewesen, es war ihr siebenter Geburtstag. An jenem Tag war ihre Mutter in ihr Zimmer gekommen, mit dieser Puppe in der Hand: „Du hast heute Geburtstag. Hier, das ist für dich.“ Ohne auch nur die Miene zu verziehen, hatte sie ihr die Puppe vor die Nase gehalten, sich umgedreht und war schnurstracks wieder hinausgegangen. Es war ein außergewöhnlicher Tag gewesen. Für einen Moment in ihrem Leben hatte Hedda das Empfinden gehabt, ein Geburtstagskind zu sein. Ihre Mutter hatte zumindest einmal nicht nur im Zorn an sie gedacht und ihr einen Hauch von Beachtung geschenkt. Ein glückliches Lächeln war über Heddas Gesicht gehuscht.
Doch an diesem Tag war es wie immer. Hedda saß auf ihrem Bett und blickte ins Leere. Es brachte nichts, sich Gedanken zu machen. Vielleicht sollte sie lieber hinausgehen. Sie legte ihre Puppe zurück auf das Bett und ging zur Wohnungstür. Ihre Mutter stand in der Küche und sah Hedda im Flur vorbeigehen. „Warte“, rief sie ihr hinterher. Sie drückte Hedda ein Geldstück in die Hand und sagte: „Geh’ dir ein Eis kaufen.“
Eines Tages kam Elke nachmittags nicht zum gewohnten Tee nach Hause. Sie kam auch abends nicht, sie kam überhaupt nicht nach Hause. Hedda wurde sichtlich nervös. Was hatte das zu bedeuten? Unruhig lief sie durch die Wohnung und schaute immer wieder zum Fenster hinaus. Dunkle Phantasien bevölkerten ihr strapaziertes Gehirn und marschierten mit ihr hin und her. An einen Unfall oder sonstiges konnte sie nicht glauben, dazu schien ihr Elke viel zu lebenstüchtig. Aber was sonst? Beängstigende Zweifel plagten Hedda. Hatte Elke etwa schon genug von ihr? Vielleicht hatte sie sich ihr zu sehr aufgedrängt, und Elke wollte nachmittags viel lieber alleine sein? Oder fühlte Elke sich in der Wohnung nicht mehr wohl? Dabei hatte Hedda sich doch so bemüht, es Elke nett zu machen. War etwa alles nur ein Traum gewesen? Pure Einbildung?
Am nächsten Nachmittag öffnete Elke wie gewohnt die Wohnungstür.
„Hallo, da bin ich.“ Völlig leichtfüßig schwebte sie herein. „Stell’ dir vor, was ich erlebt habe. Als ich gestern nach der Arbeit in den ...“
“Wo warst du?“ wurde sie von einer grimmigen Stimme unterbrochen.
„Ja, das wollte ich dir doch gerade erzähl ...“ Mit offenem Mund hielt sie mitten im Wort inne. „Ach du Schreck. Du hast auf mich gewartet. Ja natürlich, wie konnte ich das vergessen? Ach Hedda, tut mir leid. Aber ich habe da jemand kennen gelernt ... Ich sage dir: Ein toller Typ.“ Sie sprudelte nur so los, ohne weiter auf irgendwelche Gefühlsregungen Heddas zu achten. In ihrer heiteren Art überfiel Elke Hedda mit ihren amüsanten Schilderungen des vergangenen Abends.
Hedda dagegen war unfähig, Elkes überschwänglicher Erzählung zu folgen, geschweige denn auch nur einen Funken von Begeisterung zu empfinden, zu sehr war sie vertieft in ihre grüblerischen Verstrickungen, die einen leicht giftigen Beigeschmack hatten: So, Elke hat also einen tollen Typen kennen gelernt, sich womöglich Hals über Kopf verliebt. Wie schön für sie, kreiste es durch ihren Kopf. Und ich? Was ist mit mir? Ist es jetzt aus mit den gemeinsamen Nachmittagen? Heißt das, in Zukunft wieder alleine Trübsal blasen? Wozu habe ich mir überhaupt eine Untermieterin ins Haus geholt, wenn die gar kein Interesse hat, mit mir zusammen zu sein?
Elke schien Heddas Gedanken zu lesen. „Du machst ein Gesicht, als wenn ich gleich ausziehen wollte. Da brauchst du keine Angst zu haben. Solange ich meinen Job in dieser Stadt habe, ziehe ich doch hier nicht aus. Nein, wo denkst du hin? Bloß, weil ich da so einem Typen begegnet bin? Und außerdem - ich kenn’ den doch gar nicht weiter.“ Sie machte eine Pause und blickte verträumt zur Seite. „A-a-aber - süß ist er schon, das muss ich zugeben. Ach, Hedda, wenn du wüsstest ...“ Elke drehte sich im Kreis und strahlte über das ganze Gesicht. Sie schien im siebenten Himmel zu sein. „Es war sooo toll ... Unsere Nachmittage bleiben natürlich. Versprochen.“ setzte sie noch rasch hinterher.
Von dem Tag an war nichts mehr wie vorher. Elke wirkte wie umgewandelt. Sie schwebte förmlich durch den Tag, so, wie Verliebte eben schweben. Leider konnte Hedda sich nicht mit ihr freuen. Denn etwas Entscheidendes fehlte Hedda, um Elkes Glück teilen zu können: Die eigene Erfahrung. Sie war in ihrem ganzen Leben noch nie verliebt gewesen, in wen auch? Hinzu kam der innere Schmerz, der ihre gerade erst gewonnene Lebensfreude trübte. Intuitiv bangte sie um den bevorstehenden Verlust einer freundschaftlichen Beziehung und den damit verbundenen Rückschritt in die Einsamkeit. Die Anzeichen dazu waren deutlich genug.
In der Tat kam es jetzt öfter vor, dass Elke nachts nicht nach Hause kam. Auch sonst machte sie sich ziemlich rar. Die seltenen Nachmittage, an denen sie noch miteinander Tee tranken, hatten nicht mehr die Ungezwungenheit wie einst. Mit Argwohn beäugte Hedda Elkes Schwärmerei von ihrer neuen Liebe. Auch spürte sie nicht mehr die Aufmerksamkeit, die Elke ihr anfangs zukommen ließ. Im Gegenteil, die Stimmung entwickelte sich zunehmend angespannter.
An einem dieser Nachmittage stellte Elke die Frage, die eines Tages kommen musste: „Was hältst du eigentlich davon, wenn er mich hier mal besuchen würde?“
„Wer?“
„Na, ... Frank.“
„Frank? Dein neuer Liebhaber?“
„Liebhaber ist gut.“ Elke schmunzelte. „Dann könntest du ihn auch endlich einmal kennen lernen. Wie findest du das?“
Hedda runzelte die Stirn. „Und schläft der dann auch bei dir?“
„Ich denke, ja“, sagte Elke mit einem freudigen Grinsen im Gesicht.
Hedda verstummte. Ein dicker Kloß steckte ihr im Hals. Das kann doch nicht wahr sein! Sie fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Erst kommt sie nicht mehr nach Hause wegen dieses Kerls, und dann soll er auch noch meine Wohnung bevölkern? Nachts? Sozusagen Tür an Tür?
Hedda versuchte, ihre tiefe Empörung zurückzuhalten. „Nein, das geht nicht“, sagte sie betont sachlich. „Die Wohnung ist viel zu klein, als dass hier drei Personen herumlaufen.“
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