„Wie - viel zu klein?“ Elke schaute sie verblüfft an. „Heißt das, er darf mich hier nicht besuchen?“
„Genau.“
„Auch nicht am Tage?“
„Nein.“
„Also grundsätzlich kein Männerbesuch?“
„Richtig.“
„Das ist doch nicht dein Ernst? Sag’ mal, in welcher Welt lebst du eigentlich?“ Elke war sichtlich aufgebracht. „Das darf doch echt nicht wahr sein. Ich glaub’ ich spinne. Kein Männerbesuch.“ Sie schnappte nach Luft. „Kein Wunder, wenn’s mit dir und den Männern nichts wird. So verkalkt wie du bist.“
Wie bitte? Was war das? Hedda meinte, sich verhört zu haben. Aber Elke war noch nicht fertig: „Und überhaupt, wie du ‘rum läufst. Schau dich doch mal an. Merkst du gar nicht, wie angestaubt du aussiehst? Wenn du nicht als alte Jungfer enden willst, solltest du mal allmählich anfangen, was aus dir zu machen.“ Ihre Stimme war kurz vorm umkippen, so erbost war sie. „Du lebst anscheinend hinterm Mond, dass du nicht merkst, wie die Welt sich um dich herum verändert“, ereiferte sie sich weiter. „Kein Männerbesuch. Ich glaub’ es nicht. Wo bin ich hier nur gelandet?“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Nein danke, kann ich da nur sagen, so wie du lebst, so ein langweiliges Leben, wie du es führst, möchte ich jedenfalls niemals leben. Nie und nimmer!“
Hedda stockte der Atem. Jedes Wort ging ihr durch Mark und Bein. Was war hier los? Was hatte sie getan, dass sie so beschimpft wurde? In ihrem Kopf rotierte alles. Es war, als wenn sich in dem Moment ein schwarzer Schleier über sie warf und alles Licht auslöschte. Mit weit aufgerissenen Augen fixierte sie einen Punkt am Boden und versuchte einen klaren Gedanken aus diesem nebulösen Wirrwarr, das jetzt auf sie einstürzte, zu fassen. Aber so sehr sie sich auch bemühte, es gelang ihr einfach nicht. Elkes gewaltige Anklage war wie ein Gewitter, dessen Blitze und Donnerschläge bedrohlich krachend auf sie niederschmetterten.
Heddas Gesichtsausdruck verfinsterte sich zu einer bitter verzweifelten Miene, die Furche zwischen ihren Augen wurde zusehends tiefer, und ihre Lippen waren nur noch als schmaler weißer Schlitz erkennbar, so sehr presste sie ihren Mund zusammen. Doch urplötzlich schreckte sie hoch, drehte sich um und verließ mit schnellen Schritten den Raum.
Sobald ein Kerl ins Spiel kommt, ist es aus mit der Freundlichkeit, so ist das also, dachte sie wütend beim Hinausgehen.
„Du bist jetzt in einem Alter, wo es mit den Kerlen losgeht.“ Heddas Mutter nahm kein Blatt vor den Mund. „Das eine sag’ ich dir: Dass du mir ja nicht mit irgendeinem Dahergelaufenen etwas anfängst und den womöglich noch mit nach Hause schleppst; der dir obendrein noch ein Balg andreht, auf dem ich dann sitzen bleibe. Das wär’ ja noch schöner.“ Ihr hartes, spöttisches Lachen hallte durch die Küche. „Ich bin heilfroh, dass es den Alten erwischt hat, und jetzt kommst womöglich du und bringst hier wieder so einen miesen Typen ins Haus. Und mies sind sie alle, das kann ich dir versichern. Nix da. Ich will hier keinen Kerl mehr in meiner Wohnung haben. Dass das ein für alle Mal klar ist!“
Hedda wusste gar nicht, wie ihr geschah. In ihrer Klasse hatten zwar schon einige Mädchen einen Freund, aber sie selbst hatte sich mit den Jungen überhaupt noch nicht näher beschäftigt. Wie auch? Die aus ihrer Klasse waren für sie nur Klassenkameraden, die eh keinen Blick für sie übrig hatten. Und sonst? Sie kam ja nie raus. Wo sollte sie welche kennen lernen? Ihre Mutter gängelte Hedda tagtäglich, immer gleich nach der Schule nach Hause zu kommen. Kam sie später, hieß es sofort, wo sie sich herumgetrieben hätte, schließlich müsste sie ihre Aufgaben im Haushalt erledigen, und das waren nicht wenige. Und in die Disco, wo schon einige Mädchen aus ihrer Klasse hingingen, das kam schon überhaupt nicht in Frage.
Hedda hatte immer schon eine Art Sonderstellung in ihrer Klasse. Vom ersten Tag an verhielt sie sich sehr schüchtern und zurückhaltend, den Jungen wie den Mädchen gegenüber. Eigentlich wollte sie gerne dazu gehören, aber sie traute sich einfach nicht, offensiv auf die anderen zuzugehen. Auch glänzte sie nicht unbedingt durch modische Auffälligkeiten, womit sie vielleicht noch Sympathien hätte einfangen können. Ihre Mutter legte keinen Wert auf hübsche Kleidung für ihre Tochter, da das nur unnötig Geld kosten würde. Hedda bekam gerade das, was wirklich erneuert werden musste, aber bestimmt keine große Auswahl, um eventuell abwechslungsreich kombinieren zu können. Freundschaften konnte sie auch am Nachmittag zu keinem Mädchen aufbauen, was die Hemmungen in der Klasse vielleicht zu überwinden geholfen hätte, da ihre Mutter es kompromisslos verboten hatte, irgendjemanden, auch kein Mädchen, mit nach Hause zu bringen. Als es dann mit den Jungs losging, war Hedda nur noch Luft für die anderen. Die Mädchen hatten genug damit zu tun, sich gegenseitig ihr neuestes Outfit zu präsentieren und sich über die Spielchen und Erlebnisse mit den Jungs auszutauschen. In sämtlichen Pausen hockten sie zusammen und kicherten und tuschelten. Da störte so eine wie Hedda nur, die eh nichts mit Jungs am Hut hatte und sowieso ‘rum lief wie aus dem letzten Jahrhundert.
„Aber was mach’ ich mir eigentlich Gedanken?“ setzte Heddas Mutter noch hämisch nach. „So hässlich, wie du aussiehst - dich nimmt sowieso keiner.“
Hedda spürte beängstigende Beklemmungen in ihrer Brust, sobald Elke die Wohnung betrat. Wie ein Damoklesschwert lastete die erdrückende Kritik auf ihr. Hörte sie auch nur den Schlüssel in der Tür, schloss sie sich sofort in ihr Zimmer ein, um sich nicht der völligen Vernichtung preiszugeben. Von Elke hatte sie nichts Gutes mehr zu erwarten. Für Hedda gab es keine Zweifel mehr. Elkes Zuneigung von einst, wenn es überhaupt je eine ehrliche gegeben hatte, war jetzt in Verachtung umgeschlagen. Dies am eigenen Leib spüren zu müssen, hatte Hedda als sehr grausam empfunden. Aber das letzte Gespräch war deutlich genug gewesen.
Das war nicht nett von ihr, kreiste es ihr ständig durch den Kopf. Mich so zu behandeln. Diese Heuchlerin.
Hedda musste sich vor Elke schützen. Sie wusste ja nicht, was sie sonst noch zu befürchten hatte.
Mittlerweile war Hedda sehr froh darüber, dass Elke nur noch zum Kleiderwechseln nach Hause kam. So konnte sie sich die übrige Zeit einigermaßen frei durch die Zimmer bewegen. Spazieren ging sie nicht mehr, das war vorbei, danach stand ihr der Sinn jetzt überhaupt nicht mehr. Wollte sie sich dennoch ein paar schöne Augenblicke verschaffen, ging sie in Elkes Zimmer und kniete sich vor deren Glasvitrine nieder. Wie gebannt, schaute sie dann hinein und war sofort magisch angezogen von jedem einzelnen Exemplar dieser wunderschönen Kleinode, die sie in eine berauschende Traumwelt führten und sie mitnahmen, weit fort von hier, auf eine unbekannte schöne Reise voller faszinierender Abenteuer. Diese kurzen Momente waren die einzigen, die Heddas Kümmernis in diesen Tagen zu besänftigen vermochten.
An einem dieser Tage, es war ein warmer Sommertag, öffnete sie das Fenster. Elke war an diesem Wochenende nicht nach Hause gekommen, und die Luft war sehr stickig in dem Zimmer. Hedda stellte sich an das offene Fenster und spürte den warmen Wind, wie er ein wenig frische Luft hereinbrachte. Warm und sanft streifte er ihr Gesicht. Sie schloss die Augen und fühlte sich ganz leicht, so leicht, wie lange nicht mehr. Hedda hielt den kleinen Elefanten mit der goldenen Verzierung in ihrer Hand. Sie hatte sich erlaubt, die Glasvitrine zu öffnen und ihn herauszunehmen. Mit ihren Fingern betastete sie die Unebenheiten dieser kunstvollen Schnitzerei. Der kleine Elefant sah wirklich wunderschön aus. In ihren Gedanken flog sie mit ihm weit über die Dächer davon in ein fernes Land.
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