Stephan Rehm Rozanes
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
www.reclam.de/100Seiten
2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2021
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961899-9
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-20583-1
www.reclam.de
1993, kopfüber aus der Hölle: Bela, Rod und Farin (v. l.)
»Wie es geht« –
Ich weiß, ob es Liebe ist
Meine Liebe zu den Ärzten begann nicht mit dem ersten Blick, oder besser: mit dem ersten Ton. Das verhielt sich eher wie mit jemandem aus dem Freundeskreis, bei der oder dem man sich nach Jahren unversehens fragt: Ja, wieso denn eigentlich nicht du? Auf einmal macht es Zoom! wie bei Klaus Lage – ganz gewiss ohne den auch nur in irgendeine Nähe zu den Ärzten zu rücken, obwohl er in ihrem »Deutschrockgirl« Erwähnung findet – und ihnen bei der Verrichtung ihrer Notdurft musikalische Gesellschaft leistete! Dazu später mehr. Was mich zunächst auf Distanz hielt, war der Altersunterschied. Während ich gerade das Licht der Welt erblickte, regierten Die Ärzte diese beinahe schon – eben als beste Band der Welt. Doch längst ist mir ein Leben ohne Die Ärzte nicht mehr vorstellbar. Farin Urlaub und Bela B stellen für mich eine unverrückbare Dualität dar wie Sonne und Mond, wie Rausch und Kater. So kennt meine Biographie auch nicht den einen Moment, in dem ich von den Ärzten Notiz nahm. Sie waren immer da. Ob in der verknitterten Bravo , die der frühreife Nachbarsjunge schon las, oder als heiß gehandelte Hehlerware auf dem Schulhof in Form von Kassetten mit ihren sündhaftesten Songs. Ein Tape mit den perver tier ten Neigungen Claudias oder der akustischen Mutprobe »Schlaflied« hatte den Stellenwert einer Packung »Roth-Händle« oder einer VHS mit den »Gesichtern des Todes«. Wer eins dieser Statussymbole sein Eigen nannte, galt als unantastbar – in der Unterstufe wohlgemerkt. Denn dort und nur dort galten Ärzte-Fans als cool. Deren elitäre Position hatte mich aber abgeschreckt. Ich war mindestens bis zur Pubertät alles andere als cool, ein an Fußball und Schlägereien desinteressierter Sonderling, der in seiner Freizeit eher Kumpelinnen als Kumpels traf. Diese Attribute ließen in der bayerischen Provinz nur eine Vokabel für meine Person zu: »Schwuchtel«. Das begriff ich inhaltlich nie als Beleidigung. Meine Mitschüler aber durchaus.
Mit dem »Schunder-Song« über die Konsequenzen von Mobbing entdeckte ich 1995 dann zwar nicht Die Ärzte, aber ich entdeckte sie für mich. Die Anfangszeilen beschrieben meinen Alltag: »Du hast mich so oft angespuckt, geschlagen und getreten«. Begeisterung empfand ich bei der skurrilen Offensichtlichkeit des folgenden »Das war nicht sehr nett von dir, ich hatte nie darum gebeten«. Humor gehörte für mich als Verehrer der Meistersatiriker der Ersten Allgemeinen Verunsicherung und der Over-the-top-Bombastrocker Queen zu Musik dazu. Dann die Bridge »Jetzt stehst du vor mir und wir sind ganz allein. / Keiner kann dir helfen, keiner steht dir bei.« und schließlich der kathartische Refrain »Immer mitten in die Fresse rein…«. Ein buchstäblicher Befreiungsschlag, das Opfer wird zum Täter. »[D]as tut gut. / Das musste einfach mal sein«. Selbstverständlich begriff ich physische Widerwehr nicht als reale Option, schon gar nicht als Handlungsanweisung. Das war eine erfrischende Fantasie, die – eben – guttat. Das Leben spielt sich zum größten Teil im Kopf ab. Die meisten unserer Ängste, Wünsche und Sorgen erfüllen sich nicht. Und wer in Ego-Shootern vor sich hin meuchelt, plant in den allerseltensten Fällen einen Amoklauf im Real Life. Ich war jedenfalls »[v]ollkommen gefangen im Schattenreich von Die Ärzte«, wie eins ihrer Livevideos heißt. Ständig fand ich neue Lieblingsstellen im »Schunder-Song«: wie die messerscharfe E-Gitarre die vom Dead-Kennedys-Klassiker »California Über Alles« inspirierten Drums im Intro durchsägt, der Ska-Bläsersatz, der wie das Riff auf eine 1986er-Demo namens »Peter Parker« zurückgeht, am meisten aber das inbrünstig intonierte »Mitten!«. Allein der Einfall, dieses ungelenke, alleinstehend kaum lebensfähige Adverbchen so stark zu akzentuieren! Dazu die fehlenden Zusammenhänge mit dem Titel (der Song ist nach dem Band-Merchandiser Erik Schunder benannt – wie des Öfteren gab hier die Willkür den Ausschlag) oder dem Video, das den Brecher als Revuenummer mit Showtänzerinnen darbot. Vermutlich hörten auch meine Feinde damals den »Schunder-Song«, schlicht weil er »rockte«. Aber sie kapierten ihn nicht. Bestimmt »rockt« auch die Musik der Böhsen Onkelz. »Rocken« ist eine wertlose Worthülse.
Die Ärzte erreichten mich also zur rechten Zeit. Meine Liebe zu ihnen, das war allerdings nicht nur eine Frage des Alters, sondern auch eine der Ehre. Unter diesem Motto, angelehnt an einen aufgeblähten Werbespruch zum Boxkampf zwischen Henry Maske und Graciano Rocchigiani 1995, fand die erste Tour der Ärzte statt, der ich beiwohnte. Anlass war das Album zum »Schunder-Song«: Planet Punk. Passgenau und symbolträchtig an meinem 15. Geburtstag veränderte sich mein Leben in der Landshuter ETSV-Halle. Mein erstes Punkrockkonzert. Aufgeregt wagte ich mich vor Beginn der Show an den Verkaufsstand und bat den schweinscoolen Menschen hinter dem Tisch um ein weißes T-Shirt mit glitzerndem Ärzte-Logo, damals noch eine Abwandlung des omnipräsenten Anarchie-Zeichens. »Das is ’n Girlie-Shirt«, erwiderte die Personifizierung von Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll. Dieser Insider-Sprech traf bei mir ins Leere. War das also ein nur für Mädchen vorgesehenes Hemd? Entschied ich mich wirklich instinktiv für Frauenklamotten? Und falls Ja, sollte mir das jetzt nicht egal sein? War es nicht total Punk zu erwidern: »Ja, genau. Eins bitte!« Jedenfalls dachte und tat ich das und fühlte mich wohl in meinem neugewonnen androgynen Selbstverständnis. Der Rock ’n’ Roll war in mich gefahren. Obwohl ich mich natürlich nicht zu den Pogotänzern in den Moshpit gesellt hatte, wo bierbrummende Niederbayern einen Tsunami aus Blut, Schweiß und Tränen entfachten. Ich stand wohlbehütet in Begleitung meines Vaters hoch oben auf den Rängen, als Farin Urlaub ans Mikrofon trat und die Vorband Terrorgruppe aus Jux als die Sex Pistols vorstellte. Tatsächlich sollten die Punk-Pioniere fast genau fünf Monate später ihre Reunion verkünden. Mir sagte ihr Name noch nicht viel.
Das musste er auch nicht. Privileg der Jugend ist es, rein im Hier und Jetzt zu leben. Was kümmert sie das Geschwätz von oder über gestern? Punk, das waren für mich zeitgenössische US-Revivalisten wie Green Day oder The Offspring – deren parallele Popularität damals maßgeblich zum Erfolg des Ärzte-Comebacks beitrug. Ich war Ärzte-Fan der zweiten Generation. Bademeister »Paul« hatte mich noch nie vom Einer geschubst, die Frage nach dem Verbleib von »Buddy Hollys Brille« trieb mich nicht um, in »Madonnas Dickdarm« kannte ich mich nicht aus. Meine Ärzte und die zigtausend anderer begannen mit den 90ern. Ich machte mir Sorgen um »Susi Spakowski«, freute mich darüber, dass mit »Mein Freund Michael« endlich jemand den Formel-1-Karren die Luft aus den Reifen ließ und begeisterte mich vor allem für die zügellose Kreativität des haarigen Le Frisur – nur acht Monate nach Planet Punk erschienen, allen Warnungen der Plattenfirma zum Trotz. Während das Video zur zumindest als Promo-Single aus Planet Punk ausgekoppelten Disconummer »Rod Loves You« noch auf MTViva rotierte, das Begleitalbum also längst nicht durchgewirtschaftet war, debütierte auch schon die Boyband-Parodie »3-Tage-Bart« auf den Musikfernsehsendern. Der Vorbote eines der absurdesten Konzeptalben der Geschichte, das »ausschließlich von Haaren handelt«, wie es im bewusst holprigen Opener »Erklärung« heißt. Ursprünglich nur als Scherz-EP geplant, hatten Die Ärzte innerhalb von zwei Wochen genügend Songs für eine ganze Platte beisammen. Der klassische kommerzielle Selbstmord auf dem vorläufigen Höhepunkt der Karriere. Was für ein furchtloser Move!
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