Wiederum Zigtausende, die zehn Jahre nach mir kamen, machten Songs aus den 00ern wie »Deine Schuld« oder »Junge« zu Ärzte-Fans. Dieses ungeheuerliche Talent, auch im fortgeschrittenen Alter immer wieder neue Generationen 12-Jähriger für sich gewinnen zu können, kennt nur wenige andere Beispiele, abermals etwa: Green Day. In deren Anhängerschaft gibt es die Kohorte Dookie -Fans und die, die eine Dekade darauf mit American Idiot zum Publikum stießen. Ob Die Ärzte diese »Fähigkeit« immer noch besitzen, bleibt zu sehen.
Man ist dazu geneigt, die Musik seiner Jugend als die beste aller Zeiten zu erachten. Weil sie untrennbar mit wichtigen Erstberührungspunkten des Lebens verbunden ist. Wie schon Cat Stevens wusste: »The first cut is the deepest«. Aber in puncto Pop waren die frühen bis mittleren 90er auch nicht die schlechteste Zeit für die musikalische Sozialisation: Britpopper wie Oasis, Blur und Pulp überboten einander im Wettstreit um die beste europäische Antwort auf Nirvana, der uns von klassischen Instrumenten und der damit verbundenen Virtuositätsmaxime befreiende Techno wurde zum Massenphänomen. Die Fugees brachten Hip-Hop ins Formatradio, mit aufregenden Spielarten wie Trip-Hop, Jungle und Big Beat entstanden ganz neue Genres. Doch so rasant diese Zeit war, so schnell ging man auch mit ihr. Als 1998 die wogenden Massen zu »Männer sind Schweine« die Bierbänke des Oktoberfests zum Einstürzen brachten, beschallten schon an der Welt verzweifelnde Bands wie Tocotronic, Radiohead und Atari Teenage Riot mein Kinderzimmer. Aber dem Spirit der Ärzte blieb ich verbunden. Mich verzückte die subtile Einflechtung von Zeilen aus dem Slime-Stück »Wir wollen keine Bullenschweine« in den von Radiomacher*innen umarmten Nr. 1-Hit. Für die Band blieb das übrigens ohne Folgen, während die mit den Ärzten verbandelten Hamburger Hip-Hopper Fischmob sich im Vorjahr Anzeigen wegen ihrer Coverversion des kontroversen Songs im Schlumpftechno-Sound einhandelten. Auch fand ich es höchst beachtlich, dass Die Ärzte die Rechte bekamen, im zugehörigen Video gegen die Games-Ikone Lara Croft anzutreten – und dass die Actionsounds aus dem Gefecht fast die Musik übertönten. Wie sich die Band also eigentlich selbst attackiert, wieder mal. Auch die schräge Folgesingle, der Country-Jodler »Goldenes Handwerk«, in dessen Video Bela durch eine Nichtigkeit enthauptet wird, musste mir gefallen.
Wie es der idealtypische Lebenslauf eines späteren Musikjournalisten vorsieht, gründete ich zu dieser Zeit selbst eine Band, da mir das in der kulturellen Isolation meiner Heimat als sinnvolle Beschäftigung vor, nach und während den Schulstunden erschien. Die Band war kurzlebig, ganz und gar erfolglos und gigantisch. Mit den Worten »It’s better to burn out than to fade away« besang Neil Young schon 1979 die Karriere des im Eiltempo die Welt verändernden Johnny Rotten. Das Best-of der Ärzte Das Beste von kurz nach Früher bis jetze diente unserer Band als Bibel, nicht unbedingt musikalisch, aber in der Herangehensweise. Die Doppel-CD, die wie der auch bei näherer Betrachtung verwirrende, aber eigentlich deutliche Titel verrät, Prachtstücke aus den Jahren nach der Compilation Die Ärzte früher! bis in die Gegenwart versammelt, deckte eine schwindelerregende stilistische Bandbreite ab. Die Fertigkeiten der Ärzte galten uns zwar als unerreichbar, aber mit ihrem stümperhaften Spielfilm Richy Guitar (R: Michael Laux) erschienen sie uns doch auch irgendwie, irgendwo, irgendwann anschlussfähig. Der Punk-Gedanke »Das kannst du auch« manifestierte sich in uns. Der von den Ärzten als »Jugendsünde« verachtete Streifen aus dem Jahr 1985 sah ursprünglich die Berliner Band Plan B als Protagonisten vor und sollte den Geist Westberlins zu Beginn der 80er einfangen. Gastauftritte haben Nena, Notorische Reflexe, tatsächlich auch Plan B, sowie die spätere Ärzte-Managerin (sic) Axel Schulz – noch unter seinem Geburtsnamen Axel Knabben. Die Ärzte stellen hier in Grundzügen ihren Werdegang nach und versuchen in der dauergrauen Mauerstadt, ihren desolaten Alltagsjobs als Hamburgermaskottchen und lebender Gabelstapler mit Musik zu entkommen. Wir sprachen die Dialoge auswendig mit. Wahrscheinlich habe ich bis heute keinen Film häufiger gesehen. Das mag aber auch daran liegen, dass man als Jugendlicher sehr viel Zeit für Wiederholungen hat.
Die Bruchbuden, in denen die Band dort lebte, die unkonventionellen Straßenmusiker, die Plattenläden – alles in der Szenerie dieser Berliner Gelassenheit, das hatte uns beflügelt. Welchen Einfluss Die Ärzte selbst mit ihren Tiefpunkten ausübten! Es ist höchste Zeit für eine Rehabilitation von Richy Guitar .
Farin Urlaub 1985 als Richard »Richy« Schrader: genial dilettantisches Filmdebüt
Wir hatten aufgeschnappt (und bestimmt nicht im wöchentlich nur für wenige Minuten verfügbaren Internet gelesen), dass Die Ärzte noch vor ihrer ersten Bandprobe die Stadt mit »Bald: Die Ärzte«-Aufklebern tapeziert hatten, und so taten wir es ihnen gleich. Das waren eben unsere Abenteuer, »I need excitement, oh I need it bad«, wie Feargal Sharkey in der Jugendhymne »Teenage Kicks« seiner Undertones singt. Wann immer möglich reisten wir mit dem Wochenendticket in den Sehnsuchtsort Berlin. 2003 stand dann Farin Urlaub in der Kassenschlange eines Kaiser’s-Supermarkts am Potsdamer Platz vor mir. Potzblitz, dachte ich da, Potzdamer Blitz, und unternahm ansonsten – wie es sich gehört – nichts.
Fünf Jahre später richtete ich erstmals das Wort an ihn – in meinem neuen Leben als Rockredakteur. Die Titelzeile eines WOM-Journals von 1994 über die langerwartete Rückkehr der Stone Roses hatte sich in meinem Kopf eingenistet und mit ihr sprach ich Farin an: »Eine Legende wird Wirklichkeit!« »Wieso? Bist du so legendär?«, entgegnete mir dieser breit grinsend und setzte mir an einem superheißen Tag im Hamburger Schanzenviertel sein drittes Solo-Album Die Wahrheit übers Lügen auseinander. Die ganzen Ärzte hatte ich bereits im Sommer davor beim österreichischen »Frequency«-Festival aus nächster Nähe erlebt. Ein Gespräch bot sich allerdings nicht an, ich hatte auch anderes zu tun: Als Praktikant der Musikzeitschrift Musikexpress sollte ich Autogrammstunden mit den auftretenden Acts organisieren. Neben den üblichen Vertretern aus dem Indie-Lager wie The View und Eagles of Death Metal gab es unerwartet auch eine Zusage der Headliner Die Ärzte. Die wollten diese Sensation aber nicht groß beworben haben; eine Ankündigung auf einer Kreidetafel eine Stunde vor der Signiersession sollte genügen.
Spontanaktionen wie diese stehen dem Wunsch der Band nach Planungssicherheit gegenüber, ihrem unbedingten Willen, Kontrolle über sich und ihren Output zu bewahren. Um sich von der Musikindustrie weitgehend unabhängig zu machen, gründeten sie 1998 sogar ihr eigenes Label Hot Action Records, das einzig und allein ihre Veröffentlichungen betreut. Auch nach der Pfeife der Medien tanzen sie nicht, sie pfeifen auf die Pfeife: Bildmaterial kommt etwa seit Jahr und Tag ausschließlich aus dem Hauptquartier der Band; eigene Fotoproduktionen, wie sie für große Magazingeschichten zum Tagesgeschäft gehören, sind nicht vorgesehen. Konzertfotografen müssen Erklärungen unterschreiben, wonach sie unter anderem Bilder nicht an die Springer-Presse verkaufen dürfen und sich dazu verpflichten, nur im sogenannten Fotograben zu arbeiten und dies auch nur während der ersten drei Songs (was die Band zuweilen dazu verleitete, genau diese Stücke maskiert zu spielen). Auch auf Social Media verzichten Die Ärzte getrost, bei Facebook und Instagram sucht man sie vergebens; zeiDverschwÄndung, ham’se nicht nötig. In ihrem Fall läuft das Spiel andersherum: Die Medien brauchen Die Ärzte, denn die garantieren hohe Verkaufs- und Klickzahlen. Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, wie bereitwillig die Band immer noch für Interviews zur Verfügung steht – wovon nicht zuletzt auch dieser Band profitiert. Sie müssen eben Bock haben. Für alles andere gilt, wie Bela mantraartig in »Punk ist…« wiederholt: »Ich tu’s nicht!« Für dieses Vertrauen auf das eigene Urteilsvermögen lieben wir Die Ärzte im Wesentlichen, weil uns diese Ungebundenheit inspiriert. Weil das die Faszination eines Rockstars ausmacht, der unsere Träume von einer wilden, selbstbestimmten Existenz auslebt, damit wir das nicht selbst tun müssen.
Читать дальше