Sind die Ärzte die beste Band der Welt? Vielleicht; an manchen Tagen auf jeden Fall. Sind sie die beste Band Deutschlands? Zumindest gibt es hierzulande kaum weitere Bewerber für diese Stelle. Sind sie die originellste, ja die freiste Band dieses Landes? Aber so was von! »Diese eine Liebe wird nie zu Ende gehen.« Auf den folgenden Seiten werde ich das Phänomen Die Ärzte kritisch ergründen und versuchen, die ungeheure Strahlkraft, die von dieser Band ausgeht, nachvollziehbar zu machen. Da bereits wunderbare Biographien vorliegen und sich die knapp 40-jährige Geschichte der Band dagegen sträubt, in (nicht mehr ganz) 100 Seiten von Ä bis Z gepresst zu werden, hebt dieses Buch stattdessen exemplarische Aspekte hervor, die zusammengefasst dann doch ein ganzheitliches Bild der Ärzte ergeben sollen.
»Super Drei« –
Wie wurden Bela, Farin und Rod zu BelaFarinRod (und wer sind Sahnie und The Incredible Hagen)?
Sie küssten sich (zum Beispiel Ende 2007 auf der Bühne in Düsseldorf) und sie schlugen sich (zum einzigen Mal 1982 nach einem Interview für das Fanzine Hirtenbrief ): Das Fundament der Ärzte ist die Beziehung zwischen den beiden Hauptsängern und -songwritern, Gitarrist Farin Urlaub und Schlagzeuger Bela B. Nur im Aufeinandertreffen dieses gerne bis ins Cartoonhafte überspitzt dargestellten Gegensatzpaares – hier der sonnenstrahlende Strandjunge, da der gespenstische Grufti – entfaltet sich der Zauber der Ärzte – Äbrakadabra. Im doppeldeutigen Titel ihres 2020er-Albums Hell finden diese Charakterisierungen ihren vollendeten Ausdruck: Der hell e Farin und der dunkle Bela like a bat out of hell . Mit ihren Solo-Arbeiten konnten die beiden, trotz einzelner Glanzlichter, nie die Wirkung erzielen, zu der sie als Team, als »Keinen blassen Schimmer«-Twins, wie sie sich in Anspielung an die Glimmer Twins Jagger/Richards nennen, in der Lage sind. Schwarz und Weiß brauchen einander. Wer sind die zwei also?
Farin Urlaub kommt am 27. Oktober 1963 als Jan Ulrich Max Vetter zur Welt. Zunächst lebt er mit seiner jungen Mutter in einer politisch aktiven Multikulti-WG in Berlin-Moabit, einem Arbeiterviertel mit hohem Migrationsanteil. Tagsüber studiert seine Mutter auf Lehramt, nachts verkauft sie Rosen in Kneipen. Jan ist oft auf sich selbst gestellt. Sein Vater verbringt viel Zeit im Ausland und besucht sie selten. Bald lässt sich die Mutter scheiden und heiratet einen etwas biederen Schulkollegen. Mit dem wird Springinsfeld Jan nie recht warm. Zur Einschulung zieht die Familie ins grünere Frohnau, wo sie sich mit einem Hauskauf allerdings finanziell übernimmt. Jan lernt früh, mit wenig Geld auszukommen. Seine Freizeit verbringt er vor allem mit exzessivem Lesen. Eine ältere Nachbarin bringt ihm das Gitarrenspiel bei, weigert sich aber, mit ihm Lieder seiner geliebten Beatles einzustudieren. So wird Jan zum Autodidakten. Sein Musiklehrer an der Schule rät ihm zwar von einer Karriere als Musiker ab. Doch auf dem Schulhof verkauft er bereits 1978 erfolgreich (80 Prozent der Gesamtauflage von zehn Stück) seine Demo-Kassette Spaß und Angst , auf der eine frühe, jedoch weit ausgearbeitete Fassung von »Der lustige Astronaut« zu hören ist – damals schon mit der schrägen Betonung des Worts »werde«. Ebenfalls auf der Tracklist: das Stück »Ein überdimensionales Meerschwein frisst die Erde auf«; später wäre Planet Punk (1995) beinahe so genannt worden. Noch viel später, 2001, nennt der Autor Markus Karg sein Standardwerk über Die Ärzte so. Mit 16 Jahren begibt sich Jan auf ausgedehnte Klassenfahrt nach London, ernährt sich dort von McDonald’s-Abfällen, verliert sein Herz an den Punk und lässt sich eine Frisur verpassen, die einem Irokesenschnitt immerhin nahekommt. Gängigen Punk-Klischees entzieht er sich indes: Bis heute hat Jan maximal einen Mundvoll Alkohol zu sich genommen – und selbst die Existenz dieses einzigen Schlucks ist umstritten. Sein Abitur besteht er am Georg-Herwegh-Gymnasium in Berlin-Hermsdorf mit einem passablen Notendurchschnitt von 2,6. Musiknoten kann Jan übrigens bis heute nicht lesen – doch hier ist er in guter Gesellschaft, etwa mit Jahrhundertgitarristen wie Keith Richards oder Slash. Zu seinen großen Einflüssen zählen die mit der Muttermilch aufgesogenen Beatles, Frank Zappa, Depeche Mode und Johnny Cash, der auch von Bela B verehrt wird.
Bela B wird am 14. Dezember 1962 unter dem Namen Dirk Albert Felsenheimer geboren, zusammen mit seiner Zwillingsschwester Diana. Wie Jan wächst er am Berliner Stadtrand auf, allerdings etwas westlicher in Spandau, wo er sich mit dem reaktionären bis rechtsgerichteten Gedanken»gut« vieler seiner Mitbürger herumschlagen muss. Seine Eltern trennen sich, als die Geschwister fünf Jahre alt sind. Die Kinder bleiben bei ihrer Mutter, der Vater zieht nach Köln, wo ihn Bela häufig während der Schulferien besucht. Dort kommt er mit Comics in Berührung, eine Leidenschaft fürs Leben beginnt. So betreibt er ab 1996 für zehn Jahre den Leipziger Comicverlag Extrem Erfolgreich Enterprises, bei dem 2001 auch der Ärzte-Comic Geschichten aus der Die Ärzte: Angriff der Fett-Teenager erscheint. Als Dirk 14 Jahre alt ist bricht sein Vater den Kontakt zur Familie ab, unterlässt auch die Unterhaltszahlungen. Seine Mutter wird später erneut heiraten. Als Jugendlicher ist Dirk dem Glamrock verfallen, hört vor allem Kiss, The Sweet und Suzi Quatro, aber auch ABBA. Die Beatlesliebe seines Musiklehrers löst in ihm eine lebenslange Verachtung der Fab Four aus . Er empfindet die Ehrfurcht als autoritär, obwohl er die künstlerische Leistung der Band absolut anerkennt. In der durch Christiane F. bundesweit bekannt gewordenen Diskothek S. O. U. N. D. nimmt er LSD und findet Gefallen an Heavy Metal. Bei einem Freund seiner Schwester sitzt er erstmals am Schlagzeug, bald darf er ein Drum-Kit sein Eigen nennen. Geübt wird in einer von seinem Stiefvater gepachteten Tankwartswohnung einer leerstehenden Tankstelle. Nach seinem Realschulabschluss beginnt Dirk eine Ausbildung zum Polizisten, die er allerdings nach zwei Wochen abbricht. Über eine Zeitungsanzeige lernt er die Mitglieder seiner ersten Rockband, Empire, kennen. Danach spielt er in Gruppen wie Wild in the Streets und Kawumm. Silvester 1979 besucht er sein erstes Punkkonzert. Im Schöneberger Quartier Latin treten Bands wie White Russia auf. Deren Schlagzeuger ist Uwe Hoffmann, der zum langjährigen Produzenten der Ärzte wird. Mit dem späteren Autorenfilmer und Schauspieler Hussein Kutlucan ( Ich Chef, Du Turnschuh , 1998) und Bernd van Huizen, denen Dirk mit seinen pechschwarzen Haaren als Lagerarbeiter in einem Edeka-Supermarkt auffällt, ruft er 1980 die nach dem 1973er-Sci-Fi-Klassiker Soylent Green (dt.: … Jahr 2022 … die überleben wollen ) benannte Punkgruppe Soilent Grün ins Leben. Loveparade-Erfinder Dr. Motte bewirbt sich bei ihnen vergebens als Drummer. Einen weiteren später wichtigen Kulturschaffenden lernt Dirk im Rahmen einer Lehre zum Schaufensterdekorateur bei Hertie kennen. In einer Kreuzberger Berufsschule trifft er auf Jörg Buttgereit, der dank kontroverser Filme wie Nekromantik (1987) heute als der wichtigste Horrorfilmregisseur Deutschlands gilt. Nach Ablauf seiner Probezeit wird Dirk gekündigt. Die belastenden (kein Wortspiel beabsichtigt) Kapitel seiner Jugend blättert Bela später in »Ist das alles?« nochmals auf: »Ich dachte, ich muss sterben, als mein Vater mich verstieß. / Und als mein Chef mich rauswarf, / weil ich faul war, wie es hieß.«
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