Renate Welsh - Die alte Johanna

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Die lang erwartete Fortsetzung von Renate Welshs «Johanna», die das Leben einer bemerkenswert starken Frau resümiert.
Johanna muss einsehen, dass sie nicht mehr allein in dem Haus leben kann, in dem sie ihre acht Kinder großgezogen hat und in dem ihr Mann gestorben ist. Trotz der ewigen Geldknappheit und der Vorurteile gegen das «rote Gesindel» am unteren Ende des Dorfes ist es ihr gelungen, ihren eigenen Weg zu finden und ihre Familie zusammenzuhalten. Nun aber ist die Zeit gekommen, wo sie, die immer gegeben hat, auch nehmen lernen muss.
Renate Welsh erzählt äußerst einfühlsam von einer starken Frau, die ihren Platz im Leben gefunden hat: als Mutter, Großmutter und Mitte des Dorfes, in das sie als unehelich geborenes Mädchen in den 1930er-Jahren gekommen war.

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Renate Welsh

DIE ALTE JOHANNA

Roman

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien Kultur Welsh Renate Die alte - фото 1

Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien, Kultur

Welsh, Renate: Die alte Johanna / Renate Welsh

Wien: Czernin Verlag 2021

ISBN: 978-3-7076-0724-6

© 2021 Czernin Verlags GmbH, Wien

Lektorat: Karin Raschhofer-Hauer

Autorinnenfoto: Christopher Mavrič

Umschlaggestaltung und Satz: Mirjam Riepl

ISBN Print: 978-3-7076-0724-6

ISBN E-Book: 978-3-7076-0725-3

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

Inhalt

Vorwort

Die alte Johanna

Vorwort

Sie wurde meine Nachbarin, als mein Vater 1965 das völlig verwahrloste alte Bauernhaus bei einer Versteigerung kaufte mit dem Auftrag »Machts was draus«. Es ging ihm vor allem um einen Ort, wo seine Enkel barfuß herumlaufen konnten. Ich stürzte mich voll Begeisterung, aber ohne die geringste Ahnung und ohne die nötigen Mittel in die neue Aufgabe und war mehr als dankbar, wenn die Nachbarin herüberkam und mir einen Handgriff zeigte oder einen Rat gab.

Sie war so ungeheuer kompetent in allen Dingen, es ging eine Sicherheit von ihr aus, die ich nur bewundern konnte. Es schien mir, dass ihr jeder Zweifel fremd und sie völlig eins war mit ihrer Rolle als Mittelpunkt einer großen Familie, und ich beneidete ihre Töchter um diese Mutter.

In meiner Erinnerung haben Gespräche lange Zeit vor allem auf den Besen gestützt beim Straßenkehren stattgefunden – in unserem Dorf musste jahrelang jede Hausfrau vor der eigenen Tür kehren, genauer gesagt den eigenen Gartenzaun entlang. Als ich noch neu im Dorf war, machte ich einmal den Vorschlag, die zwei Nachbarinnen könnten doch zu mir ins Haus auf einen Kaffee kommen, nachdem wir bestimmt schon eine Viertelstunde lang jede auf ihren Besen gestützt getratscht hatten. Das wurde jedoch entrüstet abgelehnt, dafür hätten sie nun wirklich keine Zeit.

Es muss im Frühsommer 1968 gewesen sein, dass ich meine Nachbarin fragte, ob sie mit mir nach Gloggnitz einkaufen fahren wolle. Da müsse sie sich erst anziehen, sagte sie. Ich hatte es eilig, meinte, das sei doch nicht nötig, ich würde mich sicher nicht umziehen, sondern fahren, wie ich war. Sie musterte meine Arbeitsjeans und den labbrigen Pullover. »Sie können sich das leisten, ich nicht«, sagte sie mit einer Endgültigkeit, die keinen Widerspruch duldete.

An den Satz und an mein Erschrecken erinnere ich mich genau, ich sehe sie und mich vor ihrer Haustür stehen, sehe, wie sie sich abwendet.

Der Satz zwang mich darüber nachzudenken, warum sie ihre Fenster öfter putzte als andere Frauen, warum sie nie anders als mit sauberer Kleiderschürze durchs Dorf ging, warum ihr Hof immer makellos gefegt sein musste. Seltsam ist, dass ich keine Erinnerung daran habe, wann sie mir zum ersten Mal ihre Geschichte erzählte, obwohl alle Einzelheiten dieser Geschichte in mein Gedächtnis eingeschrieben sind.

Sie war das uneheliche Kind einer Bauernmagd, die das uneheliche Kind einer Bauernmagd war, die das uneheliche Kind einer Bauernmagd war, aufgewachsen bei Pflegeeltern, die gut zu ihr, aber selbst arm waren. Nach Beendigung der Schulpflicht wollte sie eine Lehre machen, am liebsten als Schneiderin, die Gemeinde teilte ihr mit, das wäre nur dort möglich, wo ihre Mutter »zuständig war«. Im Glauben daran, dass etwas lernen vielleicht so gut wäre wie etwas haben, entschied sie sich wegzugehen, obwohl sie Angst davor hatte. Die Fürsorgerin lieferte sie im Gloggnitzer Armenhaus ab, wo der Armenrat ihre Zähne inspizierte, ihre Armmuskeln betastete und zufrieden feststellte: »Mager, aber zäh. Du bist also meine Dirn.« Sie versuchte sich zu wehren, erklärte, man hätte ihr doch versprochen, hier könne sie eine Lehre machen. »Das wäre ja noch schöner«, entrüstete er sich, »wenn ledige Kinder schon was wollen dürften!« Seit dieser Satz sie verletzt hatte, waren mehr als dreißig Jahre vergangen, dennoch war die Narbe noch nicht völlig zugeheilt.

Ich schnappte nach Luft. Gleichzeitig mit meiner Nachbarin sah ich meine acht Jahre ältere Schwester, die es nie verwunden hatte, dass mein Vater sich zwar zu ihr bekannt, ihr aber nicht seinen Namen gegeben hatte, die sich ihrer Mutter geschämt, sie verleugnet und später verzweifelt versucht hatte, dafür Abbitte zu leisten.

Wenn ledige Kinder schon was wollen dürften . Wenn man einem Menschen das Recht abspricht, etwas zu wollen, was bleibt da übrig? Ich begann zu ahnen, was meine Nachbarin zwang, sich und der Welt etwas zu beweisen. Wenn jemand Grund hatte, etwas zu beweisen, dann ganz gewiss nicht sie.

Dieser starken Frau, die ich bewunderte, von der ich so viel gelernt hatte, saß ihre Geschichte als Last im Nacken. Langsam entstand der Wunsch, ich könnte ihr das, was ihr widerfahren war, so zurückgeben, dass sie erkannte, wie stolz sie sein musste auf das, was sie aus dem Rohmaterial ihrer Erfahrungen gemacht hatte.

Ich begann zu recherchieren, erfuhr bald, dass ihre Geschichte auch die vieler anderer Frauen ihrer Generation war. Nie werde ich vergessen, wie mir eine Sechsundsiebzigjährige mit perfekt sitzenden drei weißen Locken links, drei weißen Locken rechts, hellgraues Twinset, die Füße genau parallel nebeneinander, die Hände im Schoß gefaltet, erzählte, wie sie mit 14 Jahren zu Fuß aus ihrem Heimatdorf in Niederösterreich zum Verein Christlicher Hausgehilfinnen in Wien gegangen war, wo ihr eine vornehme Dame eine Stellung angeboten hatte. Gleich in der ersten Nacht war der Sohn des Hauses in ihrer Kammer neben der Küche gestanden, es war ihr gerade noch gelungen ihn abzuwehren. Am Morgen hatte sie vor Scham und Verzweiflung stotternd die Dame des Hauses um einen Schlüssel gebeten. Die war empört gewesen: Was sie sich einbilde, warum stelle man überhaupt ein braves Mädel vom Land an? Irgendwo müssten die jungen Herren doch lernen!

Ich fragte meine Nachbarin, ob sie damit einverstanden wäre, wenn ich ein Buch über sie zu schreiben versuchte. Sie schüttelte den Kopf, zeigte auf die Bilder meiner Vorfahren in unserem Wohnzimmer. »Wer aus einer solchen Familie stammt, kann nie verstehen, wie es einer geht, die da herkommt, wo ich herkomme.« Ich war tief gekränkt, glaubte ich doch sehr gut zu wissen, wie es ist, sich nirgends zugehörig zu fühlen, immer anzuecken, ich wollte nicht daran erinnert werden, dass ich letztlich doch privilegiert war.

Einmal erzählte sie, dass die Dienstmägde die Kühe bis Allerheiligen barfuß hüten mussten. Kurz danach kam der Rauchfangkehrer sehr zeitig am Morgen zu mir. Wir hatten noch einen schliefbaren Kamin und nur eine wackelige Leiter. Ich hatte die halbe Nacht an einer Übersetzung gearbeitet und verschlafen, meine Hündin hatte wieder einmal sowohl meine Schuhe als auch meine Pantoffel versteckt, also musste ich in Socken die Leiter halten. Die Kälte tat weh, nicht nur in den Fußsohlen, der Schmerz stieg bis hinauf in die Zähne und in die Kopfhaut. Wenn die Mädchen damals gesehen haben, wie ein Kuhfladen in der kalten Luft dampft, dann war Ekel sicher ein Luxus, den sie sich nicht leisten konnten, dachte ich, sie sind bestimmt hineingestiegen und haben es genossen, die Zehen wieder bewegen zu können. Sobald der Rauchfangkehrer gegangen war, machte ich mir eine Notiz. Noch am selben Nachmittag kam meine Nachbarin herüber, weil ihr der Essig ausgegangen war. Ich hatte gerade Kaffee gekocht und bot ihr eine Tasse an. Plötzlich lachte sie. »Wenn Sie wüssten, was wir beim Hüten getan haben, würden Sie nicht die Füße mit mir unter einen Tisch stecken. Da würde Ihnen ja grausen vor mir.« Ich sprang auf und holte meinen Notizzettel.

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