Paul Keller
Roman aus Wendenland
83. bis 92. Auflage
Saga
Die alte Krone
German
© 1909 Paul Keller
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711517321
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Die Spree ist ein Heidekind. Ihre Jugend ist arm und ohne Wagemut, ihre Kraft gering und ihre Lustigkeit schüchtern. Frühzeitig — als halberwachsen Ding — muss sie in Dienst nach der anspruchvollsten Stadt der Welt, nach Berlin, wo man ihr, einer jungen, billigen, schmucklosen Dienerin, auf die schwachen Schultern viel Last und Qual ladet.
Aber auch sie hat eine grüne Heimat und eine grüne Jugend. Gar nicht fern von dem schreienden, lachenden, gellenden Berlin wohnt die grosse Stille in hohen Föhrenwäldern, ist eine andere Welt, wohnt ein anderes Volk, ist eine andere Zeit. Gar nicht fern von dem prangenden Reichtum der glänzenden Weltstadt ziehen arme Sandwege durchs Land, stehen hohe Farnkräuter an alten Ziehbrunnen; nur wenige Stunden von dem Mittelpunkt kaltherziger Weisheit, heissblütiger Genusssucht, sieht das Volk auf den Blättern der Pflanze cerweny drest die Blutstropfen Christi glänzen, saugen die Kinder süssen Saft aus weissen Birkenstämmen, legen die Leute das Freundschaftskraut „kokoski“ unters verwitterte Strohdach, um am grünenden oder welkenden Kräutlein zu erkennen, ob das ferne liebe Leben eines Freundes noch frisch und grün oder im Tode verblichen sei.
Das ist das Land, wo ein kecker Hase, der ins Dorf kommt, den Leuten ein Feuer verkündet, wo man neun Sünden verziehen bekommt, wenn man eine Maulwurfsgrille tötet, wo der Mann sich eine krabbelnde Fledermaus unter die Mütze steckt, um im Spiele Glück zu haben, wo das Mädchen dem jungen Burschen, dessen Liebe sie gewinnen will, einen Apfel zu essen gibt, den sie eine ganze Nacht lang in der Schulterhöhle getragen hat.
Das ist das Land Wendei. Keine rote oder blaue Grenzlinie kennzeichnet das Wendenland auf einem Kartenbild; jahrhundertelang war es ein Spielball der Brandenburger, Sachsen und Böhmen, und auch heut noch muss man von der sächsischen Stadt Bautzen die böhmische Grenze entlang durch die schmale schlesische Lausitz bis hin in den brandenburgischen Spreewald wandern, wenn man die Wendei kennen lernen will.
Ein anderes Volk als in Berlin, der deutschesten aller deutschen Städte, die nur wenig Bahnstunden entfernt ist; — ureingesessene Slawen, die in grauer Vorzeit den ganzen Osten unseres Vaterlandes bis an die Ostsee beherrschten, dann zurückwichen Schritt um Schritt und die trotz jahrtausendelanger Abhängigkeit, in die sie alsbald gerieten, sich ihre trotzige Eigenart in Sprache und Sitte, in Kleidertracht, Häuserbau und Gemeindeanlage bewahrt haben. Jetzt aber ist Wendenland eine kleine, zerbröckelnde Slaweninsel im brausenden, deutschen Meere, das an seiner Küste zehrt, seine geistigen Springfluten über das Land giesst und es bald bis zum letzten Brocken aufgezehrt haben wird.
Sorben, oder — wie sie die Deutschen nennen — Wenden. Eines von den Völkern, die jahrtausendelang bestehen, ohne eine Geschichte zu haben, die alt werden, ohne je jung gewesen zu sein, Blutsverwandte der Tschechen und Schicksalsverwandte der südslawischen Stämme der Slowenen und Kroaten, die auf den mageren Ziegenweiden des felsigen Karstlandes ihre Jahrhunderte verträumten.
Kein hohes Lied, kein Heldenbuch, keine steinerne Tafel mit unvergänglichen Gesetzen, keine Ruhmeshalle mit Ewigkeitsphysiognomien grosser Menschen und grosser Geschehnisse kennzeichnet den Weg, den diese Nationen durch die Geschichte schritten. Ihre Spur verlief im Sand. Die Weltgeschichte vermerkt ihre Namen nur in nebensächlichen Fussnoten. Einige Grenzplänkeleien mit dem grossen Karl, dem schlauen Heinrich, dem Markgrafen Gero, den Meissener Bischöfen, den dänischen Herrschern, nicht viel mehr von eigener Geschichte.
Eine recht dürftige Historie. Geschickte, fleissige Forscher und Sammler haben dagegen Mythen, Sagen, Märchen, Volkslieder, Schnurren, Eigentümlichkeiten in Sitte und Brauch getreulich niedergeschrieben, Dinge, die Zeugnis geben von dem Leben, das einst im wendischen Völkerwald war. Schmaler, Andree, Schulenburg, Veckenstedt, Tetzner und andere tüchtige Männer wurden unsere Lehrer über das Wendentum. Aber es sind nur Einzelheiten, Forschungsergebnisse, abgerissene Töne und Klänge, die sie einfangen. Ein ganzes Bild haben sie nicht zusammengestimmt; selbst die Sage vom König der Wenden liegt bei ihnen in Schutt und Trümmern.
Die deutschen Dichter sind an diesem einsamen Heide- und Flusswald, an dieser geschichtlichen Trümmerburg vorbeigegangen. Die Wenden selbst waren immer stille Leute. Kein politischer Alarmruf ging von ihnen aus, kein kraftvoller Dichter erstand aus ihrer Mitte. Ein tausendjähriges Volk sind die Wenden, ohne Geschichte, ohne Literatur, ohne bildende Kunst, kleine Ansätze abgerechnet.
Wenn mich, den Schlesier, das Heidegeheimnis meiner Heimat reizte, so lag das nahe. Ich bin mit ganzer Liebe an das Werk gegangen, habe nach den Trümmerbildern, die ich fand, die Sage vom Wendenkönig rekonstruiert und hoffe, dass mich das deutsche Herz nirgends, wo zwischen Nationalitäten abzuwägen war, zu einer Sünde ungerechter Parteilichkeit verführt hat.
Kraft, geistige und körperliche Fruchtbarkeit, Entwicklungsfähigkeit, Wollen zur Höhe, Schätze und Kräfte sonder Zahl waren auch im Volke der Lausitzer Sorben. Die Kinder Gottes sind alle zur Herrschaft berufen. Aber den Wenden fehlten die Führer. Die Könige, die Führer, die Befreier kommen von selbst ihre lichte Strasse daher oder sie kommen nicht, mag das Volk auch tausend Jahre am Boden knieen und rufen: „Tauet Himmel den Gerechten!“
Gegen versagte Gnade, die im Weltplan begründet ist, hilft kein Wollen, kein Beten, kein Toben. Der Führer kommt nicht, das Volk verträumt seine Zeit, es altert und vergeht, ohne dass es jung war. — —
Heutigen Tags hat der Donner der Lokomotiven, das Schnaufen der Automobile, die durch die Wendei rasen, die Lutchen und andere Zwerggeisterlein, die Mittagsfrau und die Kobolde vertrieben; der scharfe Wind geistiger Aufklärung, der schneidend über alles Land fegt, hat die blauen Traumlichter romantischen Glaubens in den Herzkammern der Wenden ausgelöscht; die Sucht nach Gold und Lust hat das Heidevölklein aus seinen stillen Wald- und Wiesenwinkeln hinausgelockt ins breite allgemeine Gefild, in die grosse Stadt, wo die jungen Burschen ihre Kraft, die jungen Mütter die Milch ihrer Brust verkaufen; der Militarismus, der moderne Fabrikbetrieb verlangen viele Kräfte; die malerischen Volkstrachten mit ihrer soliden Pracht haben vielfach schäbigem modischen Zeug aus billigen Bazaren Platz gemacht; die wendische Sprache hört mehr und mehr auf: bald wird die ganze Wendei nichts mehr sein als eine historische Reminiszenz.
Aber in der Zeit, von der dies Buch erzählen will, in den Jahren 1860 bis 66, da war es doch noch ganz anders. Damals begann die Zersetzung des Wendentums erst, die jetzt beinahe vollendet ist.
Rot glüht der Abend über die Heide. In den Wellen der stillen Spree schwimmen die ersten gelben Weidenblätter wie lange, gelbe Schifflein. Eine kleine Flotte, mit der der junge Herbst spielt. Weiden den ganzen Fluss hinab, auch auf den Moorwiesen, die sich lang im Abendsonnenschein dehnen. Torf schläft in der schlammigen, quabbeligen Erde, saures Gras wächst darüber, und zahllose Wollblumen wiegen leicht die Perückenköpfe. Hoch und ragend aber steht der Föhrenwald. Das Auge blickt tief hinein, denn die Stämme sind schlank, die Föhre duldet kein Unterholz. Wie ein Heer von Kriegern stehen die Stämme und sind alle rot wie in blankes Kupfer gepanzert.
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