Paul Keller - Die alte Krone

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"Wenn mich, den Schlesier, das Heidegeheimnis meiner Heimat reizte, so lag das nahe. Ich bin mit ganzer Liebe an das Werk gegangen, habe nach den Trümmerbildern, die ich fand, die Sage vom Wendenkönig rekonstruiert und hoffe, daß mich das deutsche Herz nirgends, wo zwischen Nationalitäten abzuwägen war, zu einer Sünde ungerechter Parteilichkeit verführt hat." So schreibt Paul Keller im Vorwort zu seinem meisterhaften «Roman aus Wendenland», der vorwiegend in den Jahren 1860 bis 1866 spielt und anhand ausgewählter Begebenheiten und unvergesslicher Charaktere das Schicksal des kleinen Volkes der Lausitzer Sorben (auch Wenden genannt), einer Minderheit im großen deutschen Siedlungsgebiet ringsum, in diesem entscheidenden Zeitraum verfolgt. Das «Schweizer Volksblatt» schrieb in seiner zeitgenössischen Rezension: «Meisterhaft ist die Art, wie Keller das Wendenvölklein mit Sagen und Märchen, seinem Aberglauben, der sein ganzes Leben durchtränkt, schildert. Sprache und Technik zeigen Keller immer wieder in seiner Meisterschaft; er ist wirklich der Dichter, der mit dem Zauberstabe alles in eitel Poesie verwandelt, und er ist zugleich der Dichter, der mit dem König geht, der nur dem Hohen, dem Herrlichen, dem Schönen opfert …» Noch heute sind die slawischen Sorben die einzige nennenswerte nichtdeutschte Minderheit, die seit Jahrhunderten in ihrem angestammten, wennzwar stark geschrumpftem Siedlungsraum auf dem heutigen Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland lebt und sich Sprache und Brauchtum noch immer bewahrt hat – und noch heute ist Paul Kellers Sorbenroman nicht nur aus historischen Gründen ungeheuer lesenswert!Paul Keller (1873–1932) wurde als Sohn eines Maurers und Schnittwarenhändlers geboren. Zwischen 1887 und 1890 besuchte er die Präparandenanstalt in Bad Landeck und anschließend von 1890 bis 1893 das Lehrerseminar in Breslau. Nachdem er acht Monate als Lehrer im niederschlesischen Jauer tätig war, wechselte er 1894 als Hilfslehrer an die Präparandenanstalt in Schweidnitz. Zwischen 1896 und 1908 war er Volksschullehrer in Breslau. Keller gründete die Zeitschrift «Die Bergstadt» (1912–1931) und schrieb schlesische Heimatromane sowie «Das letzte Märchen», eine Geschichte, in der ein Journalist in ein unterirdisches Märchenreich eingeladen wird, um dort eine Zeitung aufzubauen, und dabei in Intrigen innerhalb des Königshauses hineingerät. Die Namen wie «König Heredidasufoturu LXXV.», «Stimpekrex», «Doktor Nein» (der Oppositionsführer) haben wahrscheinlich Michael Ende zu seinem Roman «Die unendliche Geschichte» angeregt. Zusammen mit dem schlesischen Lyriker und Erzähler Paul Barsch unternahm Keller zwischen 1903 und 1927 zahlreiche Reisen durch Europa und Nordafrika. Zudem führten ihn etliche Lese- und Vortragstourneen durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und die Tschechoslowakei. Er war 1910 Mitglied der Jury eines Preisausschreibens des Kölner Schokoladeproduzenten Ludwig Stollwerck für Sammelbilder des Stollwerck-Sammelalbums Nr. 12 «Humor in Bild und Wort». Keller starb am 20. August 1932 in Breslau und wurde auf dem dortigen Laurentiusfriedhof bestattet. – Paul Keller gehörte zu den meistgelesenen Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was sich in einer 1931 bei fünf Millionen liegenden Gesamtauflage seiner Bücher widerspiegelt, und wurde in 17 Sprachen übersetzt. Schriftsteller wie der alte Wilhelm Raabe oder Peter Rosegger schätzten den Autor sehr. Gerade die früheren Werke wie «Waldwinter», «Ferien vom Ich» oder «Der Sohn der Hagar» zeichnen sich durch künstlerische Kraft und Meisterschaft aus. Seinen Roman «Die Heimat» (1903) nannte Felix Dahn «echte Heimatkunst». Seine bekanntesten Werke wurden zum Teil auch verfilmt.-

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Paul Keller

Die alte Krone

Roman aus Wendenland

83. bis 92. Auflage

Saga

Die alte Krone

German

© 1909 Paul Keller

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711517321

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Zur Einleitung.

Die Spree ist ein Heidekind. Ihre Jugend ist arm und ohne Wagemut, ihre Kraft gering und ihre Lustigkeit schüchtern. Frühzeitig — als halberwachsen Ding — muss sie in Dienst nach der anspruchvollsten Stadt der Welt, nach Berlin, wo man ihr, einer jungen, billigen, schmucklosen Dienerin, auf die schwachen Schultern viel Last und Qual ladet.

Aber auch sie hat eine grüne Heimat und eine grüne Jugend. Gar nicht fern von dem schreienden, lachenden, gellenden Berlin wohnt die grosse Stille in hohen Föhrenwäldern, ist eine andere Welt, wohnt ein anderes Volk, ist eine andere Zeit. Gar nicht fern von dem prangenden Reichtum der glänzenden Weltstadt ziehen arme Sandwege durchs Land, stehen hohe Farnkräuter an alten Ziehbrunnen; nur wenige Stunden von dem Mittelpunkt kaltherziger Weisheit, heissblütiger Genusssucht, sieht das Volk auf den Blättern der Pflanze cerweny drest die Blutstropfen Christi glänzen, saugen die Kinder süssen Saft aus weissen Birkenstämmen, legen die Leute das Freundschaftskraut „kokoski“ unters verwitterte Strohdach, um am grünenden oder welkenden Kräutlein zu erkennen, ob das ferne liebe Leben eines Freundes noch frisch und grün oder im Tode verblichen sei.

Das ist das Land, wo ein kecker Hase, der ins Dorf kommt, den Leuten ein Feuer verkündet, wo man neun Sünden verziehen bekommt, wenn man eine Maulwurfsgrille tötet, wo der Mann sich eine krabbelnde Fledermaus unter die Mütze steckt, um im Spiele Glück zu haben, wo das Mädchen dem jungen Burschen, dessen Liebe sie gewinnen will, einen Apfel zu essen gibt, den sie eine ganze Nacht lang in der Schulterhöhle getragen hat.

Das ist das Land Wendei. Keine rote oder blaue Grenzlinie kennzeichnet das Wendenland auf einem Kartenbild; jahrhundertelang war es ein Spielball der Brandenburger, Sachsen und Böhmen, und auch heut noch muss man von der sächsischen Stadt Bautzen die böhmische Grenze entlang durch die schmale schlesische Lausitz bis hin in den brandenburgischen Spreewald wandern, wenn man die Wendei kennen lernen will.

Ein anderes Volk als in Berlin, der deutschesten aller deutschen Städte, die nur wenig Bahnstunden entfernt ist; — ureingesessene Slawen, die in grauer Vorzeit den ganzen Osten unseres Vaterlandes bis an die Ostsee beherrschten, dann zurückwichen Schritt um Schritt und die trotz jahrtausendelanger Abhängigkeit, in die sie alsbald gerieten, sich ihre trotzige Eigenart in Sprache und Sitte, in Kleidertracht, Häuserbau und Gemeindeanlage bewahrt haben. Jetzt aber ist Wendenland eine kleine, zerbröckelnde Slaweninsel im brausenden, deutschen Meere, das an seiner Küste zehrt, seine geistigen Springfluten über das Land giesst und es bald bis zum letzten Brocken aufgezehrt haben wird.

Sorben, oder — wie sie die Deutschen nennen — Wenden. Eines von den Völkern, die jahrtausendelang bestehen, ohne eine Geschichte zu haben, die alt werden, ohne je jung gewesen zu sein, Blutsverwandte der Tschechen und Schicksalsverwandte der südslawischen Stämme der Slowenen und Kroaten, die auf den mageren Ziegenweiden des felsigen Karstlandes ihre Jahrhunderte verträumten.

Kein hohes Lied, kein Heldenbuch, keine steinerne Tafel mit unvergänglichen Gesetzen, keine Ruhmeshalle mit Ewigkeitsphysiognomien grosser Menschen und grosser Geschehnisse kennzeichnet den Weg, den diese Nationen durch die Geschichte schritten. Ihre Spur verlief im Sand. Die Weltgeschichte vermerkt ihre Namen nur in nebensächlichen Fussnoten. Einige Grenzplänkeleien mit dem grossen Karl, dem schlauen Heinrich, dem Markgrafen Gero, den Meissener Bischöfen, den dänischen Herrschern, nicht viel mehr von eigener Geschichte.

Eine recht dürftige Historie. Geschickte, fleissige Forscher und Sammler haben dagegen Mythen, Sagen, Märchen, Volkslieder, Schnurren, Eigentümlichkeiten in Sitte und Brauch getreulich niedergeschrieben, Dinge, die Zeugnis geben von dem Leben, das einst im wendischen Völkerwald war. Schmaler, Andree, Schulenburg, Veckenstedt, Tetzner und andere tüchtige Männer wurden unsere Lehrer über das Wendentum. Aber es sind nur Einzelheiten, Forschungsergebnisse, abgerissene Töne und Klänge, die sie einfangen. Ein ganzes Bild haben sie nicht zusammengestimmt; selbst die Sage vom König der Wenden liegt bei ihnen in Schutt und Trümmern.

Die deutschen Dichter sind an diesem einsamen Heide- und Flusswald, an dieser geschichtlichen Trümmerburg vorbeigegangen. Die Wenden selbst waren immer stille Leute. Kein politischer Alarmruf ging von ihnen aus, kein kraftvoller Dichter erstand aus ihrer Mitte. Ein tausendjähriges Volk sind die Wenden, ohne Geschichte, ohne Literatur, ohne bildende Kunst, kleine Ansätze abgerechnet.

Wenn mich, den Schlesier, das Heidegeheimnis meiner Heimat reizte, so lag das nahe. Ich bin mit ganzer Liebe an das Werk gegangen, habe nach den Trümmerbildern, die ich fand, die Sage vom Wendenkönig rekonstruiert und hoffe, dass mich das deutsche Herz nirgends, wo zwischen Nationalitäten abzuwägen war, zu einer Sünde ungerechter Parteilichkeit verführt hat.

Kraft, geistige und körperliche Fruchtbarkeit, Entwicklungsfähigkeit, Wollen zur Höhe, Schätze und Kräfte sonder Zahl waren auch im Volke der Lausitzer Sorben. Die Kinder Gottes sind alle zur Herrschaft berufen. Aber den Wenden fehlten die Führer. Die Könige, die Führer, die Befreier kommen von selbst ihre lichte Strasse daher oder sie kommen nicht, mag das Volk auch tausend Jahre am Boden knieen und rufen: „Tauet Himmel den Gerechten!“

Gegen versagte Gnade, die im Weltplan begründet ist, hilft kein Wollen, kein Beten, kein Toben. Der Führer kommt nicht, das Volk verträumt seine Zeit, es altert und vergeht, ohne dass es jung war. — —

Heutigen Tags hat der Donner der Lokomotiven, das Schnaufen der Automobile, die durch die Wendei rasen, die Lutchen und andere Zwerggeisterlein, die Mittagsfrau und die Kobolde vertrieben; der scharfe Wind geistiger Aufklärung, der schneidend über alles Land fegt, hat die blauen Traumlichter romantischen Glaubens in den Herzkammern der Wenden ausgelöscht; die Sucht nach Gold und Lust hat das Heidevölklein aus seinen stillen Wald- und Wiesenwinkeln hinausgelockt ins breite allgemeine Gefild, in die grosse Stadt, wo die jungen Burschen ihre Kraft, die jungen Mütter die Milch ihrer Brust verkaufen; der Militarismus, der moderne Fabrikbetrieb verlangen viele Kräfte; die malerischen Volkstrachten mit ihrer soliden Pracht haben vielfach schäbigem modischen Zeug aus billigen Bazaren Platz gemacht; die wendische Sprache hört mehr und mehr auf: bald wird die ganze Wendei nichts mehr sein als eine historische Reminiszenz.

Aber in der Zeit, von der dies Buch erzählen will, in den Jahren 1860 bis 66, da war es doch noch ganz anders. Damals begann die Zersetzung des Wendentums erst, die jetzt beinahe vollendet ist.

Die alte Krone.

Rot glüht der Abend über die Heide. In den Wellen der stillen Spree schwimmen die ersten gelben Weidenblätter wie lange, gelbe Schifflein. Eine kleine Flotte, mit der der junge Herbst spielt. Weiden den ganzen Fluss hinab, auch auf den Moorwiesen, die sich lang im Abendsonnenschein dehnen. Torf schläft in der schlammigen, quabbeligen Erde, saures Gras wächst darüber, und zahllose Wollblumen wiegen leicht die Perückenköpfe. Hoch und ragend aber steht der Föhrenwald. Das Auge blickt tief hinein, denn die Stämme sind schlank, die Föhre duldet kein Unterholz. Wie ein Heer von Kriegern stehen die Stämme und sind alle rot wie in blankes Kupfer gepanzert.

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