Paul Keller
Roman
Saga
Marie Heinrich
© 1926 Paul Keller
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711517468
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Die Oder ist unter den deutschen Flüssen wie ein Bauernweib unter Edlen und Großen. Sie ist nicht so reich wie die Elbe, nicht so munter wie die Weser, nicht so königlich wie der Rhein, nicht so machtvoll wie die Donau. Kalk und Kohlenstaub liegen auf ihrem Kleide von Jugend an. Mit rüstigen Händen schleppt sie Güter aller Art in den Hausstand. Breit und behäbig schreitet sie durch den mühevollen Tag; manchmal, zur Abendzeit, summt sie zwischen Eichen und Erlenbüschen ein einförmiges Lied und steckt verlorene Lichter an auf dunklen, lautlos gleitenden Kähnen, die den Reichtum des Landes tragen. Einmal, wie wohl jedes Bauernweib, kommt die Oder auch nach der Hauptstadt, nach Breslau. Dort hört sie die Domglocken klingen und nimmt das Bild der hehren Türme in den Spiegel ihrer Seele auf, schaut auf das Treiben der Menschen in dieser großen Stadt. Die Mutter Oder verweilt nicht lange, kaum zwei Stunden. Weiter trägt sie ihre Lasten, an schweren, fruchtbaren Feldern vorbei, nach Leubus, dem sagenberühmten Kloster, das umgeben ist von tiefen Laubwäldern und vor urdenklichen Zeiten von deutschen Mönchen gegründet wurde. Und weiter, nach tagelangen Reisen, tauchen die Hügel von Grünberg auf. Da hat ein Dichter ein Lied auf den Grünberger Wein gemacht. Das Gedicht ist schlecht, der Wein ist gut, doch das schiert Mutter Oder nicht. Sie läßt sich mächtige Fässer aufladen und weiß, daß dieser Wein nach anderen Gegenden geschickt wird, von wo er mit geachteten Aufschriften als Edelwein in die Welt geht. Da lacht das alte Weib, wie alte Weiber kichern, wenn sie sehen, daß einfältige Leute sich betrügen lassen. Dann kommt das langsame Dahinwandern durch den märkischen Sand. Wie ein Bauernweib, das zu Markte geht und schwer trägt, so wandert die Oder. Föhren, Sand und Wiesen begleiten ihren Weg, Rehe grüßen sie manchmal oder ein Kind, das im rinnenden, seichten Ufergewässer spielt. Sonst ist große Stille und Einsamkeit. Heidemärchen raunen in Sand und Gehölz. So geht es weit über die hundertste Meile hinaus. Da ist das Bauernweib müde geworden. Sie ist weit gewandert, hat geschleppt, geschleppt, zwanzig starke Kinder in ihrem Schoß getragen, Mühlen und Hämmer bewegt. Ein wenig mürrisch ist sie geworden, und das Laufen fällt ihr schwer. So kommt sie nach Stettin und ist plötzlich in großem Lärm. Die Schiffe drängen sich, Züge donnern über ihre Brücken, am Ufer ist Jagen, Rufen und Hasten. Da kuscht sie sich und läßt sich geduldig die schweren Lasten abnehmen, auf die die Stadt und viele Schiffe gewartet haben, denn sie ist müde, kaum daß ihr Herzschlag noch fühlbar ist. Langsam legt sie das letzte Stück ihres langen Weges zurück, folgt dem Rufe des Meeres. Weit breitet das alte Bauernweib die Arme aus nach rechts und nach links und geht nach getaner Pflicht im großen Deltas des Sterbens friedlich ein ins große Meer. Und alle, die an diesem Meere wohnen, achten sie, denn sie ist eine ihrer stärksten Dienerinnen.
Das stille Bauernweib hat merkwürdig geartete Kinder und in ihrer Art verschieden. Da ist der Bober, ein wilder Gesell, der in unbändiger Jugendlust und überschäumender Kraft von den Riesenbergen springt und zuweilen in unzähmbarer Laune auch Unheil anrichtet. Da ist der Neißefluß, der Träumer, der an den Kirchen dahingeht, vorbei an den wilden Sandsteinfelsen der Heuscheuer, der am Gnadenorte Buße tut, da ist der lustig sprudelnde Katzbachfluß, da ist die Warthe, das stillste und doch das stärkste Kind der Oder. Und viele andere. —
Am Oberlaufe eines Nebenflusses der Oder streckt sich ein Dorf hin, Wiesenthal genannt. Wer es zu Fuße durchwandern will, hat gut eine Stunde zu gehen. Rechts und links ist Hügelland, bis hoch hinauf mit Saaten bestellt, dazwischen hängen Waldschläge und Wiesen. Im Tale läuft neben der geraden Chaussee der krumme Fluß. Die Häuser stehen alle etwas erhöht am Hange, der Überschwemmungsgefahr wegen, die stets nach schweren Gewittern oder zur Zeit der Schneeschmelze eintritt. Wenn der Schmied, der jetzt auch am Hange wohnt, im Gasthause einen über den Durst getrunken hat, wird er weinerlich und erzählt, wie „er“ (er meint den Fluß) ihm seine schöne Schmiede weggerissen habe. Nur den Amboß habe er stehen lassen, der sei „dem Aas“ doch zu schwer gewesen. Sonst aber alles weg, alles hin! Vom Berge aus habe er zusehen müssen, wie seine ganze Habe fortschwamm. Am meisten habe es ihm um seine schöne Kuckucksuhr leid getan. Die sei schon weit fortgeschwommen, da habe sie noch dreimal ganz kläglich „Kuckuck“ gerufen.
Wenn dann jemand einwendet, es sei vielleicht ein wirklicher Kuckuck gewesen, der gerufen habe, wird der Schmied wild und sagt, er werde doch wohl seine Uhr an der Stimme erkennen, so wie sie rufe kein einziger Kuckuck in der ganzen Welt. Es sei eine wunderschöne Kuckucksuhr gewesen. Alle seine Sachen aber seien unten in Bärsdorf von den Leuten mit Rechen herausgefischt worden. „Strandgut“ nannten das die Lumpen. Aber er gehe oft sonntags durch Bärsdorf und horche, ob da nicht etwa irgendwo seine Kuckucksuhr rufe. Wenn er seine Uhr entdecke, dann habe für ihren Räuber das letzte Stündlein geschlagen.
Danach trinkt der Schmied noch einen Korn oder zwei, geht nach Hause und haut auf den Amboß: „Dich hat das Beest doch nicht wegschleppen können, dich hat doch kein gauneriger Bärsdorfer mit dem Rechen angeln können. Haha!“ Der Schmied haßt den Fluß. Wenn er über die Brücke geht, spuckt er jedesmal übers Geländer.
Andere Leute lieben den Fluß. Am meisten die Kinder. Die letzten Tage im März waren warm gewesen, da beschlossen zehn Büblein und Mägdlein, auf dem Heimwege aus der Schule die harte Chaussee zu meiden und lieber im Fluß, der seichtes Wasser führte, nach Hause zu waten. Es wurden also Schuhe und Strümpfe ausgezogen und zu Katechismus und Diarium in den Ranzen gepackt. Das Wasser war beißend kalt; aber es war doch ein Spaß, über die großen bemoosten Steine zu klettern, die Forellen zu scheuchen und sich von schäumenden Strudeln bespritzen zu lassen. Christel Bräuer rutschte auf einem der Steine aus und fiel in die Fluten. Das gab ein schreiendes Gelächter. Nur Christel weinte; denn es war ihr „gutes“ Kleid, und die Mutter war streng.
Klaus Heinrich stieg drei Minuten vor dem Heinrichshof an Land, rieb sich erst mit Sand die Füße und Knöchel trocken, setzte sich dann auf einen Straßenstein und zog Strümpfe und Schuhe an. Es war heute der 31. März. Vor dem Georgstag, dem 23. April, aber war es streng verboten, barfuß zu gehen, geschweige ins Wasser zu plantschen, mochte es noch so warm sein, denn „das Gift steckte noch in der Erde“. Nach dem 23. April durfte jeder barfuß gehen, auch wenn’s noch so kalt war; denn „das Gift war raus“.
Das galt in Wiesenthal wie in ganz Schlesien.
Der Heinrichshof war die schönste Besitzung des sauberen, stattlichen Dorfes. Einhundertachtzig Morgen Ackerland, Wiesen und Waldbestand, sieben Pferde, der Stall voll friesischer Rinder, Scheuern und Ställe genau so blitzweiß angestrichen und mit rotem Flachwerk gedeckt wie das große, längliche Wohnhaus. Im Hofe herrschte peinlichste Ordnung, da war alles so sachgemäß und praktisch geregelt, daß einem besuchenden Landwirt die Hochachtung ankommen mußte.
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