Paul Keller
Saga
Dorfjunge
German
© 1920 Paul Keller
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711517444
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Am Abend und am Morgen ist der Himmel rot. Am Abend und am Morgen ist die Luft kühler als am Tag, singen die Vögel heller, ist der Wald frischer, ist die Welt freundlicher. So auch in den Morgenstunden und in der Abendzeit des einen flüchtigen Tages, der das Menschenleben heisst. Abend und Morgen sind einander näher verwandt als dem Tage. Ihr Gemeinsames ist, dass der Mensch an seinem Morgen in ein Leben hineinwächst, das ihm noch fremd ist, und am Abend langsam einem anderen Leben sich naht, das er nicht kennt. Kinder bleiben wir immer, weil wir immer neu werden müssen.
In den Jahren meiner Wanderung bin ich oft nach meinem alten Kinderlande zurückgekehrt, manchmal nur von den Hügeln der Erinnerung aus in sehnsüchtiger Schau, öfter aber auch, indem ich nach Hause fuhr, die alte Strasse entlang wanderte und in alle Seitengässchen ging, bei Vater und Mutter einkehrte und bei alten Freunden. Sonntags hörte ich in der Kirche die alten Lieder, und wenn ich über den Friedhof wanderte, stand auf jeder Grabtafel ein Name, den ich kannte. Niemals versäumte ich, über die Felder zu gehen, ich wusste ja von der kleinsten Parzelle, wem sie gehörte und wie es um ihre Ertragsfähigkeit stand. Der Dorfjunge ist in mir so lebendig geblieben, dass ich noch jetzt immer um das Wetter bange, ob es auch im Frühjahr nicht zuviel Trockenheit, im Sommer nicht zu viel Regen, im Winter genügend Schnee bringe. Ich bin meiner Kinderheimat treu verbunden geblieben, habe nichts von ihrer Art, Sprache, Gewohnheit, ihren Mühen und Freuden aus den Augen verloren. Ich war Dorfjunge so durch und durch, dass ich wohl Dorfjungengeschichten schreiben konnte. Sie sind im Laufe vieler Jahre entstanden, in meinen Büchern verstreut und erscheinen hier zum ersten Male gesammelt. Ein paar Stücke, die noch nicht in meinen Büchern stehen, sind dazu gekommen.
Möge es dem „Dorfjungen“ gut gehen! Ich denke, man wird zugeben, dass er ein gesunder Bursche ist, manchmal ein bisschen frech und voll spitzbübischer Schelmerei; aber das gehört dazu. Die Jungen sollen erkennen, wie sie sind, die Alten, wie sie waren. Ein leichter Morgenwind fährt durch alle Jugend; wem er aber in der Schwüle der Not oder durch lieblose Art der Erzieher erstarb, der ist bitter zu beklagen.
Ich war einmal ein armer, aber herzfröhlicher Dorfjunge, dafür danke ich Gott und allen denen, die mir meine Kindheit so liebevoll und verständig betreuten.
Breslau, im Juli 1925.
Paul Keller.
Von meinem Grossvater
Arbeit und Leid.
Zehn „Morgen“ Ackerland sind 2½ Hektar. So gross war das Besitztum meines Grossvaters. An Viehstand besass er zwei Kühe, ein Schwein, das jährlich zweimal „erneuert“ werden musste, einen Hund und eine Katze, also fünf Tiere. Kinder waren acht. Mit fünfen von ihnen musste der Grossvater, als schon alle verheiratet gewesen waren, zu Grabe gehen. Die verwaisten Enkel musste er in sein Haus aufnehmen, sie nähren und kleiden. Dann kam noch ein schwerer Prozess, der sich wohl an die zwei Jahre hinzog und viel Geld kostete. Leicht hat es Johann Keller nicht gehabt. Aber er war der fröhlichste Mann des ganzen Dorfes, wohl, weil er trotz seines Bauernkittels ein Philosoph war, den kein Ungemach zerbrach.
Bei allem Fleiss, bei aller Fröhlichkeit des Grossvaters aber wäre es doch wohl auf seiner schmalen Hube mit den vielen Essern recht traurig hergegangen; wir hätten hungern müssen. Aber niemand von uns hat gehungert oder auch nur gedarbt.
Die Saugpumpe! Die „saugte“ Geld heran. Überall im weiten Umkreise, wo die Wasserversorgung nicht funktionierte, wurde nach Johann Keller gerufen. Manchmal wurde er mit einem Gefährt abgeholt. Das war in ganz dringlichen Fällen, wenn die Wassernot schon bis an den Hals reichte. Ich prägte damals das geistreiche Wort: „Bei Wassersnot“ ersauft man, bei „Wassernot“ verdurstet man. Das alles macht so ein kleines „Ringel-s“. Und in der Schule prahlte ich: „Meinen Grossvater holten sie heut wieder mal „per Achse“. Abgeholt haben sie ihn oft „per Achse“, aber nach Hause haben sie ihn immer zu Fuss gehen lassen. Mich wunderte das; aber später habe ich im Leben das gelernt: wenn dich jemand dringend braucht, so wird er ausserordentlich höflich sein; aber wenn sein Wunsch erfüllt ist, dann wird sich die Hochachtung vermindern.
Meine Grossmutter, Christiane Keller, war von Gemütsart das gerade Gegenteil ihres Mannes. Herb von Natur, durch tägliche schwere Arbeit und durch vieles Herzeleid unfroh gemacht, war sie nervös und fast schwermütig geworden. Ich erinnere mich nur, sie einmal lachen gesehen zu haben und erinnere mich nicht, dass sie dem Grossvater ein liebes Wort gegeben hätte. Aber sie liebte ihn trotzdem. Wenn er auf „Brunnenarbeit“ war, litt sie immer schreckliche Angst. „Da kriecht er nun auf solchen wackligen Leitern in diese ‚Löcher!‘ Wie leicht kann er verunglücken!“
Sie atmete auf, wenn er abends todmüde nach Hause kam. Dann bereitete sie so freundlich, wie sie es vermochte, das Mahl, und Grossvater sagte befriedigt;: „23 Böhm habe ich heute verdient;“ Dreiundzwanzig „Böhm“ in hochdeutsche Valuta übersetzt, sind 2 Mark 30 Pfennige.
In jeder richtigen Bauernstube gibt es Schaben. Die wohnen an dem grossen Ofen. Mit Insektenpulver liessen wir uns nicht ein. Da hätte der Hund oder die Katze dran lecken können, oder die kleine Bertha konnte denken, das sei Kuchenstreusel. Wir fingen im Herbst mittels eines Vogelkastens ein Rotkehlchen. Der Grossvater sagte: „Das ist vernünftig; denn erstens macht es Spass, zweitens braucht es im Winter nicht zu frieren und zu hungern, und drittens frisst es die Schwaben.“ Hierzu muss bemerkt werden, dass in Schlesien die Schaben „Schwaben“ heissen. Wahrscheinlich heissen in Schwaben die Schaben „Schlesinger“. Es wäre nicht mehr als recht und billig.
Wenn wir nun das Rotkehlchen im Kasten hatten, trugen wir es sorgsam nach Hause. Unterwegs redeten wir dem verängstigten Tierchen gut zu. „Fürcht’ dich nicht! Sollst es gut haben, fast so gut wie unser Hund!“ — „Und“, sagte ich, „die Katze mache ich morgen tot.“ Da zwinkerte der Grossvater das Rotkehlchen an und sagte: „Schwindel! Lass dir nichts vorreden!“
Dann liessen wir das Rotkehlchen in der grossen Bauernstube, die sechs Fenster hatte, fliegen. Es wurde bald so zahm, dass es auf den Tisch kam und sich sein Teil wegholte. Alle passten auf die Katze auf. Der Hund war ein so dummguter Kerl, dass ihm das Rotkehlchen auf den Kopf flog und ihn ins Ohr piekte. Höchstens dass er mal leise brummte: „Lass das! Es zwickt mich!“ Aber das Rotkehlchen liess es nicht. Da liess sich der Hund zwicken. Das Rotkehlchen flog wie ein kleines, rotbrüstiges Wunder den ganzen langen Winter durch unsere Stube. Manchmal sahen wir drei, das Rotkehlchen und ich und der Hund traurig durch die Eisblumen zum Fenster hinaus und wünschten, dass es Sommer würde. Aber gleich darauf waren wir alle wieder lustig.
Das ging so bis zum St. Georgstag, dem 23. April. An diesem Tage ist für die schlesischen Bauern der Winter aus. Ich erhielt dann stets vom Grossvater die Erlaubnis, nach Belieben barfuss zu gehen, und an diesem Tage wurde das Rotkehlchen entlassen. Ich trennte mich mit grossem Schmerz von dem lieben Tierchen. Dem Hunde war’s egal. Traurig sagte ich zum Grossvater: „Die Schwaben sind zwar weg, aber sie haben doch in die Risse hinter dem Ofen Eier gelegt. Da werden wieder Kleine! Vielleicht eine Million!“
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