Paul Keller - Die Heimat

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"Im Buchenhofe war ein Hühnchen ermordet worden. Der Verdacht lenkte sich auf Waldmann, den Dachshund, der nach der Tat flüchtig geworden war. Es war auch dem Schaffersohne Hannes, der sich sofort aufgemacht hatte, die Spuren des Mörders zu verfolgen, nicht gelungen, des Attentäters habhaft zu werden." Mit diesen Worten beginnt Paul Kellers berühmter schlesischer Heimatroman, der das Wort «Heimat» ja schon im Titel trägt. Zu den kleinen Katastrophen, wie der Sache mit dem Huhn, gesellen sich freilich bald auch die großen, und so gestaltet sich das Buch zu einer packend erzählten Tragödie menschlicher Irrungen und Fehden und singt darüber hinaus das Hohelied der Treue und Liebe zur Heimat. Im Zentrum der Handlung um Heim und Hof, Familie, Feindschaft, Treue und Liebe stehen packende Gestalten wie der Hannes und die Lene und vor allem der Sohn seines Herrn, Heinrich Raschdorf, sowie dessen Familie und, nicht zu vergessen, Heinrichs geliebte Lotte. Ein Buch, das man nicht nur gerne liest, sondern das auch eine Palette wunderbar fein gezeichneter Charaktere entfaltet, die den Leser auch nach Ende der Lektüre noch lange begleiten. «Die Heimat» – von Felix Dahn als «echte Heimatkunst» gelobt – gehört zu den erfolgreichsten Büchern des großen Unterhaltungsautors Paul Keller, dessen Werke in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Millionenauflagen erzielten und die teils bis heute immer wieder aufgelegt werden.Paul Keller (1873–1932) wurde als Sohn eines Maurers und Schnittwarenhändlers geboren. Zwischen 1887 und 1890 besuchte er die Präparandenanstalt in Bad Landeck und anschließend von 1890 bis 1893 das Lehrerseminar in Breslau. Nachdem er acht Monate als Lehrer im niederschlesischen Jauer tätig war, wechselte er 1894 als Hilfslehrer an die Präparandenanstalt in Schweidnitz. Zwischen 1896 und 1908 war er Volksschullehrer in Breslau. Keller gründete die Zeitschrift «Die Bergstadt» (1912–1931) und schrieb schlesische Heimatromane sowie «Das letzte Märchen», eine Geschichte, in der ein Journalist in ein unterirdisches Märchenreich eingeladen wird, um dort eine Zeitung aufzubauen, und dabei in Intrigen innerhalb des Königshauses hineingerät. Die Namen wie «König Heredidasufoturu LXXV.», «Stimpekrex», «Doktor Nein» (der Oppositionsführer) haben wahrscheinlich Michael Ende zu seinem Roman «Die unendliche Geschichte» angeregt. Zusammen mit dem schlesischen Lyriker und Erzähler Paul Barsch unternahm Keller zwischen 1903 und 1927 zahlreiche Reisen durch Europa und Nordafrika. Zudem führten ihn etliche Lese- und Vortragstourneen durch Deutschland, Österreich, die Schweiz und die Tschechoslowakei. Er war 1910 Mitglied der Jury eines Preisausschreibens des Kölner Schokoladeproduzenten Ludwig Stollwerck für Sammelbilder des Stollwerck-Sammelalbums Nr. 12 «Humor in Bild und Wort». Keller starb am 20. August 1932 in Breslau und wurde auf dem dortigen Laurentiusfriedhof bestattet. – Paul Keller gehörte zu den meistgelesenen Autoren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, was sich in einer 1931 bei fünf Millionen liegenden Gesamtauflage seiner Bücher widerspiegelt, und wurde in 17 Sprachen übersetzt. Schriftsteller wie der alte Wilhelm Raabe oder Peter Rosegger schätzten den Autor sehr. Gerade die früheren Werke wie «Waldwinter», «Ferien vom Ich» oder «Der Sohn der Hagar» zeichnen sich durch künstlerische Kraft und Meisterschaft aus. Seinen Roman «Die Heimat» (1903) nannte Felix Dahn «echte Heimatkunst». Seine bekanntesten Werke wurden zum Teil auch verfilmt.-

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Paul Keller

Die Heimat

Roman

Saga

Die Heimat

© 1912 Paul Keller

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711517345

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Im Buchenhofe war ein Hühnchen ermordet worden. Der Verdacht lenkte sich auf Waldmann, den Dachshund, der nach der Tat flüchtig geworden war. Es war auch dem Schaffersohne Hannes, der sich sofort aufgemacht hatte, die Spuren des Mörders zu verfolgen, nicht gelungen, des Attentäters habhaft zu werden. „Der Gauner is ausgerückt“, meldete er niedergeschlagen dem Sohne seines Herrn, dem vierzehnjährigen Heinrich Raschdorf, der zu den Ferien daheim war. „Ich sag’ dir, a muss in a Fuchsloch gekrochen sein, sonst hätt’ ich ’n erwischt. Ich hab’ gesucht wie verrückt!“

„Wenn er Hunger haben wird, kommt er von selber nach Hause“, sagte voll Überlegung Heinrich, der Quartaner.

„Ja, und weisste was? Dann machen wir ’n Heidenulk! Wir machen Gericht! Du bist der Richter, und ich bin der Poliziste, und du verurteilst a Dackel, dass ihm der Poliziste fünfe aufs Leder haut, und dass a ihn mit der Schnauze a paarmal aufs tote Hühndel stampt, und dass a ihn ’ne Stunde in a Kohlschuppen sperrt. Gelt, Heinrich, das machste?“

„Ich werd’ mir’s überlegen“, antwortete in vornehmer Ruhe der Quartaner.

Diese Zurückhaltung schien dem lebhaften Bauernburschen nicht zu gefallen. Er sann über etwas anderes nach.

Nicht lange, so hatte er’s.

„Ja, und weisste was, Heinrich? Das Hühndel werden wir begraben. So ’n Begräbnis macht auch ’n riesigen Spass! Du machst a Pfarrer ...“

„Das ist mir schon zu kindisch, das hab’ ich früher gemacht“, erwiderte Heinrich.

„Na, hör mal, wenn du auch Quartaner bist, kannste doch noch ’n Pfarrer machen. Siehste, ich bin der Totengräber. Wir machen ’n Leichenzug, und ich setz’ mir Vaters Zylinder auf und geh so wackelig vorm Zug her, gerade wie der alte Lempert. Was Ulkigeres wie ’n Totengräber gibt’s nich. Na, und die Mädel sind doch och dabei, die Lene und die Lotte und die Liese. Die müssen flennen. Und wenn du die Rede hältst, müssen sie immer mehr flennen, und nachher lassen wir das Hühndel ins Grab, und die Mädel singen: ‚In der Blüte deiner Jahre‘. Na, wenn das nischt is ...!“

Der Quartaner überlegte. Die Beredsamkeit seines ländlichen Freundes beeinflusste ihn. Skrupel hatte er ja freilich. Seine „Kollegen“ in der Quarta würden so etwas „einfach dämlich“ gefunden haben. Also sagte er langsam und bedächtig.

„Eigentlich ist es kindisch! Aber dir zu Gefallen können wir’s ja noch einmal machen. Doch es ist das letzte Mal, Hannes, das sag ich dir. Und Vater und Mutter dürfen nichts wissen.“

„Die wissen sowieso nischt“, sagte Hannes. „Der ‚Herr‘ sitzt drüben beim Schräger, und die ‚Frau‘ hat ’n Kopfkrampf und liegt im Bette. Besser kann sich’s nich treffen.“

„Na, denn meinetwegen, Hannes!“

Hannes war von diesem Zugeständnis freudig berührt. Er hob einen dürren Stecken aus dem Garten auf, rannte ans Fenster des stattlichen Bauernhauses und klopfte dreimal feierlich an.

Der Kopf eines dunkeläugigen, bildhübschen Mädchens von etwa zwölf Jahren wurde sichtbar.

„Was is ’n los!“

Hannes senkte geheimnisvoll das Haupt und sagte mit der düsteren Stimme eines „Grabebitters“:

„Der Herr Raschdorf lässt schön grüssen, und a lässt bitten, dass die Jungfer Magdalene so freundlich sein täte und ’m toten Hühndel ’s letzte Ehrengeleite geben. Der Pfarr’ und die Schule gehn mit!“

„Macht ihr wirklich Begräbnis?“ fragte sie, nicht ohne Begeisterung.

„Natürlich, Lene“, antwortete der Leichenbitter und fiel aus der Rolle. „Es wird riesig ulkig. Heinrich is Pfarrer und ich Totengräber, und du musst das Hühndel in a Sarg legen. Auf ’m Kleiderschranke sind ja die Zigarrenkisten; da nimmste eine, und da haste die Leiche!“

Damit warf er dem Mädchen das tote Hühnchen, das er bisher in der Hand getragen hatte, aufs Fensterbrett, schlug sich selber mit dem „Grabebitterstöckel“ ein paarmal auf die Waden und rannte davon.

Der „Buchenkretscham“ war vom „Buchenhofe“, auf dem Heinrich und Magdalene die Kinder der Herrschaft waren, Hannes aber als Sohn des „Schaffers“ lebte, nur durch die Strasse getrennt, die von der Stadt her nach dem schlesischen Gebirgsdorfe führte. Früher waren beide Höfe zu einer grossen „Herrschaft“ vereinigt gewesen. Der letzte Besitzer war bankerott geworden, das Gut wurde zerstückt, einzelne Teile des Ackers wurden an Bauern des Dorfes verkauft; aus dem Rest der Felder und den Gebäuden aber entstanden zwei neue Besitztümer, immer noch sehr stattlichen Umfanges: der Buchenhof Hermann Raschdorfs und der Buchenkretscham des Julius Schräger.

Vor dem Kretscham machte Hannes vorsichtig halt. Er schlich an ein Fenster der Gaststube und lugte vorsichtig durch die Scheiben. Die Ausschau befriedigte ihn. Sein „Herr“ und Schräger, der Gastwirt, sassen beisammen und sprachen eifrig miteinander. Diese beiden würden voraussichtlich die Trauerfeierlichkeit nicht stören. Also begab sich Hannes Reichel nach dem Hausflur. Er hatte Glück und traf die Schräger-Lotte, die er suchte.

Das etwas blasse Kind erschrak ein wenig, als es Hannes dreimal mit seinem Stecken auf den Arm klopfte und sagte: „Der Herr Raschdorf lässt schön grüssen, und ob die Jungfer Lotte vielleichte so freundlich sein täte und ’m toten Hühndel ’s letzte Ehrengeleite geben. Der Pfarr’ und die Schule gehn mit!“

„Was? Der Herr Raschdorf sitzt ja drin in unserer Stube. Und warum hauste mich denn so auf den Arm?“

Der Grabebitter fiel abermals aus der Rolle.

„Tumme Gans, der Herr Raschdorf is der Heinrich, und wenn du nich in ’ner halben Stunde drüben bist und mitmachst, da – da sollst du mal sehen!“

Das Mädchen wollte noch etwas fragen, aber Hannes „schmitzte“ bereits seine Waden und „sockte“ ab.

„Mit der Lotte is nischt los“, sagte er zu sich selbst.

„Sie is ’ne Tunte! Aber die Lene, die Lene!“

Und das Bürschlein blieb einen Moment stehen und verdrehte verliebt die Augen. Dann setzte es sich schnell wieder in Bewegung.

Im grellhellen Lichte des Julitags lag das Dorf langgestreckt drunten im Tal. Die Nordseite war durch einen waldigen Hügelzug abgeschlossen, an dessen Abhang, etwas abgesondert vom Dorfe, die Buchenhöfe lagen. Drüben die südliche Einrandung der Talmulde war viel niedriger, ganz mit gelben Saaten bestanden, über denen schwer und schwül die Sommersonne lag. Und all die vollen Ähren standen wie im heissen Fieber, in einem Fieber, welches das Leben zur Gluthitze bringt und doch die besten Säfte und Kräfte verkalkt, verzuckert und vermehlt, so dass nach dem heissen Rausch das Sterben kommt. Hannes rannte hinab ins Dorf. An ein paar Bauernhöfen lief er vorbei, dann kam eine grüne Aue, auf der ein kleines, nettes Haus stand.

Hannes reckte sich und klopfte mit seinem Stecken ans Fenster. Ein schmächtiges, blasses Mädel erschien.

„Der Herr Heinrich Raschdorf lässt schön grüssen, und ob die Jungfer Liese nicht so freundlich sein wollen mögen täte, ’m toten Hühndel ’s letzte Ehrengeleite zu geben. Der Pfarr’ und die Schule gehn mit!“

„Wenn is es denn? Wenn is es denn?“ fragte das Kind mit vielem Interesse. „Macht der Heinrich a Pfarrer?“

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