Paul Keller
Titus und Timotheus und der Esel Bileam
Roman
Saga
Titus und Timotheus und der Esel Bileam
© 1927 Paul Keller
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711517475
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Wer nie verstand das Treiben der Narren,
Der hat wohl selber den grössten Sparren;
Was auch über Narrtum zu sagen sei,
Das Blödeste bleibt die Philisterei.
„Nun sind wir nahe am Ziele,“ sagte der Paulusjünger Timotheus zu seinem Bruder Titus, „diese Stadt ist Altenroda.“
Zu ihren Füssen lag eine deutsche Gebirgsstadt, umrahmt von stattlichen Bergen, umgürtet von Wiesen und Wäldern. „Eine schöne Stadt!“ rief Titus.
„Gottes Welt ist überall schön,“ sagte der andere, „am schönsten ist sie in der Steppe. Dort, wo Abraham König über Hunderte von Hirten und Herden war, wo David seine Harfe schlug, wo Tobias unter seinem Feigenbaume wohnte, dort war die Welt schön. Hier aber? Siehst du den Fabrikschlot? Hörst du die Eisenbahn bimmeln? Tutet nicht hinter uns ein Auto? Ach, warum sind wir nicht nach dem Morgenlande gezogen!“
Titus sagte: „Schön ist’s für mich nur in Deutschland, in der Heimat!“
Der andere erwiderte in einem seltsamen Gemisch von Nüchternheit, Schwärmerei und Verdrossenheit:
„Was ist Heimat? Nennst du das Heimat, wo du ein Weilchen wohnst unter viel Ärger und Qual und dann fortziehen musst für immer? Unsere Heimat ist jenseits unserer Augen.“
„Das ist richtig, aber du hast selbst gesagt, Gottes Erde sei schön. Wenn der Mensch gesund ist und Frieden im Herzen hat, und wenn er zu Hause ist, kann er schon auf Erden im Vorgarten des Paradieses sein.“
So sprachen zwei Wanderer auf einer deutschen Bergstrasse. Sie stiegen den Bergweg hinab, der vom Eulenwalde nach der Stadt Altenroda führt. Es waren seltsame Gestalten. Der eine, der Titus genannt wurde, war jung und schlank und von jener durchgeistigten Schönheit, wie man sie manchmal bei jungen Mönchen findet, es war etwas Johanneshaftes an ihm, oder er hätte auch ein Gralsritter sein können, wenn er nicht in konfuser Gewandung gesteckt hätte; der zweite der Wanderer, Timotheus genannt, war klein und wohl weit über die vierzig Jahre alt. Über der Wölbung seines Bauches leuchtete ein freundliches Vollmondgesicht.
Die beiden waren seltsam gekleidet. Sie trugen lange mantel- oder talarartige Gewänder, die bis über die Knie reichten, gehalten durch einen strickartigen Gurt. Diese Röcke waren Russenkitteln ähnlich, hatten im Zuschnitt aber auch etwas von der Tracht orientalischer Mönche. Sie gehörten wohl keiner besonderen Kleiderordnung an, waren sichtlich „selbst komponiert“. Auf dem Rücken hing jedem eine Kapuze. Unter den Knien waren grobwollene lange Strümpfe sichtbar, die nach unten in feste Bergschuhe mündeten. Die beiden Männer waren barhäuptig. Der Jüngere hatte eine blonde Lohengrinmähne, der Ältere die Glatze eines Falstaff. Im Äusseren waren sie ein ganz ungleiches Paar. In den Händen trugen sie lange, weisse Pilgerstöcke.
Am Wegrande stand ein freundliches Landhaus, abgeschlossen durch einen niederen, grünen Zaun. Dem Hause gegenüber war eine Eiche voll Pracht und Majestät; unter der Eiche sah man eine Steinbank, darüber war ein Steinschild, an der Eiche befestigt, mit der Inschrift:
„Auf diese Bank von Stein sollst du dich setzen, dem müden Wanderer zur Ruh bereitet.“
Die beiden Pilgrime blieben stehen und lasen die Inschrift.
„Das ist von Schiller, aus dem ‚Tell‘,“ sagte der kleine Dicke.
„Richtig!“ lobte der andere, „deinen Schiller kennst du!“
„Es war der erhabenste profane Geist. Wie alt, meinst du, mag dieser herrliche Baum sein?“
„Fünfhundert Jahre!“
„Ja, so meine ich auch. Und die Bank ist fast ebenso alt. Sieh, ihre mittelalterliche Form und ihre starke Verwitterung. Die Tafel ist natürlich jüngeren Datums.“
„Ja, sonst würden wahrscheinlich Schillers Jamben nicht darauf stehen.“
„Ich bin zwar nicht sehr müde; aber einer Einladung, die von Schiller kommt, soll man folgen.“
Der Dicke setzte sich, und sein schlanker Gefährte nahm neben ihm Platz. Sie sassen kaum, da öffnete sich die Tür des Landhauses, ein junges Mädchen in weissem Kleide kam heraus, lehnte sich an den Zaun und betrachtete die beiden mit unverhohlener, ja dreister Neugierde.
Und es entspann sich sofort am Gartenzaune eine Unterhaltung, wie sie immer flink zur Stelle ist, wenn sich zwei neugierige Menschen begegnen. Das Mädchen, das am Zaun lehnte, war neugierig, und der Dicke von den zwei Pilgrimen war auch neugierig, und beiden sass die Zunge locker. So schwadronierten sie alsbald darauf los.
Der dicke Timotheus sagte:
„Jungfrau, wir haben uns ein wenig auf diese Bank gesetzt. Verzeihe uns, wenn wir es etwa nicht hätten tun sollen. Gehört dieser schöne Baum und diese uralte Bank deinen Eltern?“
Das Mädchen kicherte in sich hinein.
„Er duzt mich.“ Laut sagte sie:
„Nein, Baum und Bank gehören der Stadt. Jeder kann sich darauf setzen, dem es Spass macht. Sie sind wohl Mönche?“
Der Schlanke schüttelte den Kopf; der Dicke schnob durch die Nase:
„Nein, wir sind keine Mönche; wir sind auch selbstverständlich nicht katholisch. Oder sehen wir etwa so aus? Wie? — Wir sind gute Christen!“
„Ja, meint Ihr denn, dass Mönche und Katholiken keine guten Christen sind?“
„Das meinen wir gewisslich!“
„Nun, da seid Ihr gewisslich auf dem Holzwege.“
„Du bist wohl selber katholisch?“
„Nein, von Hause aus bin ich evangelisch, seit zwei Jahren bin ich freireligiös.“
Der Dicke schlug mit sichtbarem Schreck die fleischigen Hände zusammen.
„Freireligiös? Also unreligiös, heidnisch? Jungfrau, wie kommst du dazu in deinen jungen Jahren?“
Das Mädel zuckte die Achseln.
„Vernunftgründe! — Lektüre! — Aufklärung! — Übrigens, wie kommen Sie dazu, fremder Herr, mich zu duzen? Halten Sie mich noch für ein Schulmädel? Ich werde in einem halben Jahre einundzwanzig, bin dann grossjährig.“ „Wir duzen alle Leute,“ sagte nun der Schlanke. „Eine andere Anrede als ‚du‘ ist unsinnig.“ Der Dicke setzte hinzu: „Was meinst du, Jungfrau, wie das geklungen hätte, wenn der Apostelfürst Paulus zu den Leuten ‚Sie‘ gesagt hätte? Etwa: ‚Gehen Sie hin und sündigen Sie nicht mehr!‘ Fehlt nicht dem ‚Sie‘ jede Weihe und Würde und jede Vernunft?“
Das Mädel war verdutzt und musterte die Seltsamen noch neugieriger.
„Ja, was hat denn das hier an unserem Zaun mit Religion und Bibel zu tun?“
Der Dicke antwortete: „Wir haben uns dem Dienste Sankt Pauli geweiht. Wir verlassen die Welt, weil sie gottlos ist und gefährlich für die, die den Weg zum Heile suchen.“
„So sind Sie ja doch Mönche!“
„Wir sind es nicht! Wir verlassen die Welt ganz freiwillig.“
„Das tun die Mönche auch!“
„Nein, die werden in ihre Klöster hineingezwungen und eingesperrt!“
Das Mädel lachte ihn aus.
„Sie sind ein komischer Heiliger! Wenn es nun schon durchaus über Religion gehen muss, was sind Sie denn?“ „Wir sind gute Christen, wenn auch mein Bruder Titus leider der Irrlehre des Luthertums anhängt.“
Das Mädel lachte wieder.
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