Ehe sie auszogen, sagte Titus: „Nimm dein Handwerkzeug mit!“ — „Warum?“ — „Es könnte dir die Sehnsucht kommen nach deinem alten Berufe.“ Das bestritt Timotheus. Da sagte Titus: „Immer studieren kann man nicht; eine manuelle Tätigkeit ist für alle Geistesarbeiter gut. Der Garten wird uns nicht genug Beschäftigung geben, im Winter gar keine. Ich habe mich für deine Kunst immer interessiert, überhaupt für Kunstgewerbe; ich kann auch zeichnen und mancherlei entwerfen; möchtest du mich nicht als Lehrling annehmen, Timotheus?“ Auf diesen Plan ging der Meister mit Freuden ein. „Ich will dein Lehrmeister sein in der Goldschmiede- und Uhrmacherkunst, und du sollst mein Lehrer und Führer sein in allen geistigen Dingen, ausgenommen religiöse Unterweisung, die ich von einem Lutheraner nicht annehmen kann.“
So packten sie zu den wenigen Habseligkeiten, die sie mitzunehmen beschlossen hatten, die feinsten Handwerkszeuge des Meisters; alles andere, was zur Ausstattung einer vollständigen Werkstatt gehörte, wollte Timotheus aus der Hauptstadt kommen lassen, wenn er in Altenroda erst einen geeigneten Raum entdeckt hatte.
So wanderten sie fort. Sie hatten sich ihre Pilgerkleider nach eigenen Entwürfen nähen lassen und kümmerten sich nicht um die offenen Mäuler der Gaffer. Die Welt ging sie nichts mehr an. Als sie auf den Hügel kamen, über den die Landstrasse nach der Ferne führt, blieb Timotheus mit einem Ruck stehen. Titus betrachtete ihn stumm. Hinter ihnen lag die Stadt, in der Timotheus geboren war, in der er dreissig Jahre als Goldschmied und Uhrmacher gelebt hatte und ein hochgeachteter Bürger gewesen war. Nun lag diese Stadt hinter ihm für immer. Ein Gedanke flog zurück zu den Gräbern der Eltern, zu den kleinen Gräbern der Kinder; einem Gedanken an das böse Weib, das er geliebt und das ihn verraten hatte, wich Timotheus aus. Einige Sekunden stand er, an seinen Pilgerstock gelehnt, nach vorn geneigt da; zwei Tränen tropften in den Sand, es waren die einzigen, die Timotheus seiner Vergangenheit je nachgeweint hat. Dann sagte er: „Komm!“, und ohne sich umzuwenden, ging er den Berg hinab.
Nun waren sie in Altenroda, wo sie keine wahre Heimat, aber doch eine friedliche Behausung suchten. Titus auf seinem harten Lager konnte nicht schlafen. So armselig hatte er nie geruht; hatte er auch nie üppig gelebt, ein ordentliches Bett hatte er immer besessen, auch noch im Goldschmiedehause in der Stadt. Aber diese Armut war freiwillig. „Die Vögel haben ihre Nester, die Füchse haben ihre Gruben, der Menschensohn weiss nicht, wohin er sein Haupt legen soll.“ Es gab keinen anderen Weg der Nachfolge Christi als den der Armut und Demut. —
Drunten in der Stadt schlug eine Uhr zweimal. Schwarz war die Sommernacht, kein Ast am Baume rührte sich, manchmal nur flatterte ein Nachtschmetterling ans Fenster. Da hörte Titus seinen Bruder Timotheus leise singen. Also auch er schlief nicht; auch ihm war das harte Lager fremd, auch ihm scheuchte wohl die Vergangenheit den Schlummer. —
Da tönte ein Klagelaut schauerlich durch die Stille der Nacht. Kam er von einem Menschen oder von einem Tiere? Es war stöhnender Schmerz und flehende Bitte um Hilfe in diesem Rufe.
Titus erhob sich und kleidete sich notdürftig an. An der Haustüre traf er seinen Bruder Timotheus.
„Wer ruft da um Hilfe in der Nacht? Ich denke, es wird ein Hund sein!“
Ja, es war ein Hund. Vor der Gartenpforte lag ein brauner Jagdhund. Er winselte und stiess mit der Vorderpfote nach der Tür.
„Er will zu uns herein,“ sagte Timotheus, „ob er wohl toll ist?“
Statt aller Antwort öffnete Titus die Tür. Der Hund kroch auf dem Bauche in den Garten, immer mit dem Kopfe nach dem Erdboden zuckend, als ob er fürchtete, geschlagen zu werden.
„Er ist sehr verängstigt,“ sagte Timotheus, „sieh, wie er sich fürchtet!“
„An seinem Halsbande hängt der Teil eines zerrissenen Strickes. Und sieh, wie elend er aussieht und wie furchtsam er sich gebärdet.“
Timotheus leuchtete mit seiner Laterne den Rücken des Tieres ab, das leise winselnd vor ihm kauerte. Der Mond schien jetzt ein wenig, und so konnte Timotheus feststellen: „Er sieht ganz heruntergekommen aus und hat wohl vier oder fünf Wunden.“
Titus sagte erbittert: „Wahrscheinlich hat ihn sein roher Herr, der ihn anband, so furchtbar zugerichtet. Da hat der gemarterte Hund den Strick zerrissen und ist geflüchtet. Und nun ist er bei uns. Er scheint ganz verschmachtet zu sein.“
Titus beugte sich nieder und streichelte dem Tiere den Kopf. Da knurrte der Hund und schnappte nach oben.
„Er fürchtet sich, er glaubt, man könne sich ihm nur nähern, um ihn zu quälen. Es hat ihn wohl noch niemals jemand gestreichelt. Komm, armer Freund, wir werden dich füttern! Wir haben doch noch etwas, Timotheus?“
„Ja, es ist noch ein grosses Stück Wurst da und noch ziemlich viel Brot. Milch wäre am besten, aber wir haben keine. Nun, morgen gehen wir nach der Stadt, um einzukaufen. Ich werde unserem Nachtgaste zunächst eine kräftige Suppe bereiten.“
Sie standen in der Küche beim schwachen Schein der Laterne. Über einem Spirituskocher wurde Wasser erwärmt. Aus der Handreisetasche, die sie auf der Wanderung abwechselnd getragen hatten, nahm Timotheus von dem letzten Provianteinkauf ein Stück Brot, schnitt in eine grosse Schüssel viele Brocken, entnahm einem Töpfchen einen reichlichen Esslöffel Schmalz, fügte Salz bei und schnitt dann sieben Scheiben Zervelatwurst in die Suppe.
„So,“ sagte Timotheus befriedigt, „diese Suppe ist nicht schlecht, sie wird ihn aufrichten.“
Der Hund sah derweil all diesen Verrichtungen gierig zu, setzte sich auf die Hinterbeine und bettelte jaulend mit den Vorderpfoten. Timotheus ermahnte ihn zu standhafter Geduld, goss heisses Wasser in die Schüssel und reichte dem Hunde nicht eher das Mahl, bis er sich durch Eintauchen des Zeigefingers und Umrühren mittels dieses beliebten Küchenutensils überzeugt hatte, dass sich nun der Hund mit der Suppe nicht den Schlund verbrennen könne. Selten hat man einen Gast sein Nachtmahl mit so gediegenem Appetit verzehren sehen wie diesen Hund. Der Inhalt der grossen Schüssel war verschwunden, ehe man es für möglich gehalten hätte. Der Hund beleckte sich das Maul und sah fragend zu Timotheus auf.
„Noch mehr? Nein, mein Freund, für den Anfang genügt das! Du hast jetzt einen schwachen Magen und musst dich an kräftigere Kost erst gewöhnen. Auch könntest du leicht Alpdrücken und schlimme Träume bekommen. Komm, du gehst mit mir schlafen!“
Er löschte die Laterne aus, sagte: „Gute Nacht, Titus!“ und verschwand mit dem Hunde nach seiner Stube. Titus dachte: „Jetzt wird er eine der beiden Wolldecken, die er hat, dem Hunde opfern!“
Am Morgen nach der ersten Nacht verfrühstückte der Hund die letzten Vorräte an Lebensmitteln. Titus und Timotheus begnügten sich jeder mit zwei Frühäpfeln und etwas Beerenobst.
Dann beschlossen sie, nach Altenroda aufzubrechen und die nötigsten Einkäufe zu besorgen.
„Was aber tun wir mit dem Hunde?“
„Wir nehmen ihn mit. Wir müssen uns polizeilich melden,“ sagte Timotheus, „es ist lästig, aber wir müssen es tun. Das Gebilde, das sich Staat nennt, ist nun einmal darauf aus, den Menschen Beschwerlichkeiten und Geldkosten zu bereiten. Wir werden den Hund als ‚zugelaufen‘ bald mit anmelden.“
Timotheus war Kommunist, freilich nicht von der Art der Leute, die sich heute Kommunisten nennen. Timotheus war Kommunist nach Art der ersten Christen. Er sagte: „Auch unser benedeiter Herr Jesus war Kommunist. Auch die Apostel, auch die ersten Christen waren Kommunisten. Aber sie haben nicht tobende Umzüge gemacht, nicht herumgeschossen, gelärmt, gelästert, geplündert, gemordet. Die sich jetzt Kommunisten nennen, sind keine; es sind die lebensgierigsten Egoisten, die es gibt — die selbst nicht dulden, aber andere peinigen wollen, niemals geben, aber immer nehmen, niemals glauben, sondern immer höhnen, stürmisch streben nach jeder Lust der Welt. Mögen sie, wenn sie ans Kreuz gebunden werden, ein gnädiges Urteil hören.“
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