„Das waren hässliche Begegnungen,“ sagte Timotheus. „Die meisten Menschen sind hässlich, was willst du anderes von ihnen verlangen als Hässliches?“
Sie kamen in die Stadt durch das Tor des mächtigen Schuldturmes, der so fest war, dass er selbst den Dreissigjährigen Krieg sowie die Ausbesserungsarbeiten städtischer Baumeister überdauert hatte. Und nun waren sie in der Stadt mit den winkligen Gassen, den Fachwerkhäusern, den grünen, buntbemalten Fensterläden, den Erkern und blumenbewachsenen Balkonen, Laubengängen und offenstehenden Geschäften. Bald war ein Trupp von Kindern hinter ihnen her. Zum Glück waren die berüchtigten Gymnasiasten dieser Stadt jetzt in der Schule, überhaupt alle grösseren Kinder, aber die kleinen, noch nicht schulpflichtigen, sammelten sich zu Scharen.
„Es sind zwei Nikolause!“ krähte ein Junge. „Zwei Nikolause!“ jubelte die ganze kleine Bande, klatschte in die Händchen und tanzte vor Vergnügen.
„Dicker Nikolaus, schenk’ mir was!“
„Langer Nikolaus, schenk mir was!“
Da schrie ein Mädchen, das fast sechs Jahre alt war:
„Es sind ja gar keine Nikoläuse, sie haben ja keine Bärte!“
„Nussknacker sind es!“
„Nussknacker, Nussknacker!“
„Oder es sind Kasperle!“
„Kasper! Kasper! Kasper!“
Das war das Richtige. Als aber ein besonders dreister Junge den Timotheus am Kittel zog, erhob Amicus ein wütendes Gebell, schnappte nach dem Jungen, der schreiend davonlief, und auch die andere Schar zerstob. —
Der erste Gang der Paulusjünger führte nach der Apotheke. Stattlich ragte das Haus auf dem Marktplatz über die Nachbargebäude empor, nur übertrumpft vom „Goldenen Löwen“, dessen Wappentier seinen gespaltenen Schweif hoch in die Luft reckte, und vom Rathause, das seinen Renaissanceturm mit dem überschnörkelten Rokokohause possierlich vereinigte.
Der dicke Apotheker stand stattlich in der Tür. Er tat, als schaue er nach dem Wetter, in Wirklichkeit hatte ihn die Neugierde vor die Tür getrieben.
„Bist du der Apotheker?“ fragte Timotheus den Stattlichen.
„Wieso du?“ fragte der Apotheker.
„Unsere Lebensauffassung gebietet uns, zu allen Menschen ‚du‘ zu sagen,“ versetzte Titus ganz milde. „Auch zu den allervornehmsten Menschen würden wir ‚du‘ sagen. So gestatte uns gütigst, auch zu dir ‚du‘ zu sagen, verehrter Herr Apotheker. Wir bitten dich, uns auch zu duzen.“
„Das nennt man eine schnelle Brüderschaft,“ lachte der Apotheker in einem abgrundtiefen Bass. „Meinetwegen,“ setzte er gemütlich hinzu, „mir verschlägt das nichts. Wollt ihr etwas von mir, ihr schnurrigen Gäste?“
„Herr Apotheker,“ sagte Timotheus, „wir bitten dich, wirf ein prüfendes, mitleidiges Auge auf diesen Hund. Er ist uns in der letzten Nacht zugelaufen, und er ist verwundet.“ Der Apotheker stieg die Treppe herab, besah den Hund und sagte:
„Das Tier ist furchtbar geschlagen worden, das sind lauter blutige Striemen. Ich werde Ihnen, entschuldigt, ‚Euch‘ Salbe geben. Es wird bald alles gut werden.“
Timotheus begleitete den Apotheker ins Haus und bekam die Salbe, und der Apotheker fragte, ob er sonst noch etwas geben solle. Timotheus wurde rot und sagte, ja, er brauche wohl noch etwas, aber es sei peinlich, es zu sagen.
„Beim Arzt und beim Apotheker braucht sich niemand zu genieren,“ sagte die Bassstimme.
Da brachte Timotheus heraus, der Hund sei verwahrlost und nicht insektenfrei.
„Flohseife!“ verordnete der Apotheker. „Mit heissem Wasser tüchtig abseifen, vorher aber die Striemen verharschen lassen.“
Dann begehrte Timotheus noch ein Stück Menschenseife; sie dürfe aber keineswegs parfümiert sein.
„Unparfümierte Seife führe ich nicht,“ sagte der Apotheker, „zweite Querstrasse rechts, drittes Haus, da gibt es Oranienburger Kernseife.“
Timotheus bedankte sich und ging. Sie machten nun ihre weiteren Einkäufe, immer von mehr oder weniger neugierigem Volke begleitet, kauften ein Handwägelchen und zwei Rucksäcke, versorgten sich mit Lebensmitteln, hauptsächlich mit Mehl. Timotheus kaufte seinen Tabak, Fleisch, Dauerwurst und einen geräucherten Schinken, blieb aber vor der Tür einer Weinhandlung unschlüssig stehen.
„Ich schäme mich, hineinzugehen.“
„So gib mir die Brieftasche!“ sagte Titus. „Ich werde den Wein für dich kaufen. Du trinkst immer roten Wein?“
„Ja, der ist für ältere Leute am besten. Burgunder! Die Flasche zu 5 bis 6 Mark, es muss guter, naturreiner Wein sein.“
„Gut,“ sagte Titus und verschwand in der Weinhandlung. Timotheus stand aufgeregt auf der Strasse und sah sich scheu um, ob die Leute auch nicht beobachteten, dass die Paulusjünger mit einem fragwürdigen Hause, wie es eine Weinhandlung nun einmal ist, in Verbindung ständen.
Titus trat in den Laden, der vor den Trinkstuben war. Der Weinhändler stürzte aus der Trinkstube in den Laden, scheuchte das Bedienungspersonal zur Seite, betrachtete Titus mit grösster Neugierde und fragte nach seinem Begehr.
„50 Flaschen Rotwein! Burgunder! Die Flasche 5 bis 6 Mark. Naturrein!“
„Wollen sich — wollen sich der Herr was aussuchen?“ fragte der verblüffte Weinhändler und überreichte Titus eine Preisliste. Die Liste zeigte als Titelblatt einen halbberauschten Bacchus, der von einer wenig bekleideten Trinkmaid mit Weinlaub bekränzt wurde. Titus legte die Liste schnell aus der Hand, mit der Bildseite nach unten. „Ich habe mit solchen Dingen nichts zu tun,“ sagte er errötend. „Empfehlen Sie mir einen guten, bekömmlichen Burgunder!“
„Da wäre Nummer 59,“ sagte der Händler geschmeidig. „Ausgezeichneter Burgunder! Prima Qualität! Rund, amtig. 1921er! Wachstum Lusche und Grünberg. Äusserst preiswert, Flasche 6 Mark. Günstige Zahlungsbedingungen!“
„Ich zahle sofort!“ sagte Titus.
Der Weinhändler erschrak geradezu. Ein Kunde, der beim Weinhändler sofort bezahlt, muss entweder ein Krösus sein, oder er ist nicht normal oder — er ist verdächtig. Dem Weinhändler war Titus verdächtig.
Der Kunde zog eine dicke Brieftasche. Der Händler überzeugte sich durch einen diskreten Blick von dem erstaunlich reichen Inhalt dieser Tasche. Titus legte drei Hundertmarkscheine auf den Tisch, die der Händler gierig an sich nahm.
„Einen Augenblick, mein Herr! Ich wechsele nur. Die Rechnung macht zwar 300 Mark, aber bei Barzahlung gibt meine Firma 2 Prozent Skonto. Einen Augenblick. Bitte, nehmen Sie einstweilen Platz!“
Der Weinhändler eilte nach der Trinkstube, wo der Apotheker als einziger Gast zu so früher Stunde schon seinen Schoppen trank, und erzählte das Abenteuer im Laden. „Mir haben sie eine Schachtel Borsalbe und ein Stück Flohseife abgekauft,“ sagte der Apotheker.
„Drei Hundertmarkscheine. Der Mann hat wenigstens für fünftausend Mark Scheine in seiner Tasche. Bitte, sieh die Scheine an. Sind sie echt?“
Der Apotheker nahm die Scheine, besah sie durchs Fensterlicht und sagte:
„Wer unterscheidet heute echt von unecht? Die Fälschungen werden immer frappierender. Ich will mal für dich schnell zur Bank hinübergehen, Direktor Peiper fragen.“ „Ich bitte dich, tue das; ich halte den verdächtigen Mann inzwischen auf. Ob man auch die Polizei benachrichtigt?“ „Nein, warte noch!“
Der Weinhändler schwatzte indes auf Titus ein, versprach bereits am Nachmittag die 50 Flaschen prompt nach oben zu liefern.
„Diskret!“ verlangte Titus.
„Ganz diskret!“ versicherte der Händler.
Indessen kam der Apotheker schnaufend zurück.
„Echt!“ sagte er und warf die Scheine auf den Tisch. — Nun ward auch dieses Geschäft abgeschlossen. Die Jünger zogen nach dem Rathause. Titus ging hinein, die Anmeldungen zu besorgen, Timotheus wartete vor dem Portal. Als Titus zurückkam, hörte er, wie Timotheus von der Rathaustreppe herab eine Ansprache an das zahlreich versammelte Volk hielt. „Paulus predigt von der Treppe der Akropolis!“ fiel Titus ein.
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