„Ihr spottet, dass wir unseren Hund den Wagen nicht ziehen lassen? Das wäre eine Grausamkeit! Der Hund ist kein Zugtier; seine Füsse und seine Brust sind dazu nicht geeignet. Es ist eine Sünde, einen Hund ziehen zu lassen!“ Gelächter.
„Eine noch viel grössere Sünde ist es, einen Hund an die Kette zu legen,“ rief Timotheus.
Gelächter. Zurufe: „Verrückt, verrückt!“
Timotheus, der einen starken Hang zum Predigertum hatte, ereiferte sich mehr und mehr.
„Ich habe durch einige Torwege eurer Stadt Hunde an der Kette liegen sehen. Das ist eine schwere Versündigung! Solche arme Tiere sind nicht zur Marter auf der Welt. Ihre Herren sind gefühllos, sie sehen nicht, wie die angefesselten Tiere mit den Augen um Freiheit betteln, hören nicht, wie sie jammern in ihrer Qual, wie sie oft in Sonnenglut ohne Wasser sind. Es kommt der Tag, und er ist nicht weit, wo alle diese Schinder selbst gefesselt sein werden an die finstersten Wände der Hölle, in entsetzlichstem Durst, und viel lauter heulen werden, als Hunde je geheult haben!“
„Er hält eine Predigt — eine Hundepredigt!“
Gelächter.
Nun trat Titus in Erscheinung. Er stellte sich neben Timotheus und rief:
„Die letzte Predigt wird Gott halten, und sein ‚Amen‘ wird für viele furchtbar sein, schrecklich für alle Tierquäler. Heute in hundert Jahren wird jeder von euch, auch der Allerjüngste, der Allervermessenste, wissen, dass mein Bruder Timotheus recht gehabt hat!“
Da wurde es etwas stiller. Nur einige lachten roh oder spöttisch.
„Kettenhunde müssen sein!“
„Nein, man kann sich einen treuen Wächter anders erziehen als durch Barbarei. Und nun gebt den Weg frei; wir müssen weiter!“
Kein Mensch rührte sich vom Platze. Zu sechs, ja zu zehn Gliedern stand der Halbkreis um die Rathaustreppe.
„Ich bitte euch, ihr Leute, lasst uns in Frieden ziehen!“ „Dableiben! Dableiben! Der Dicke soll noch eine Predigt halten, aber nicht über die Hunde.“
„Über die Mondkälber soll er predigen!“
Grosses Halloh.
„Über die Mondkälber und Heupferde soll er predigen!“ — Da stand plötzlich ein blondes Mädchen neben den Brüdern.
„Ah — Helga Hiller! Die will auch predigen. Lasst sie!“
„Die Tochter der ‚Antragsspritze‘. Sie wird einen Antrag stellen!“ schrie der Zigarrenmacher Jeschke.
„Nein!“ rief Helga mit klarer, kräftiger Stimme, als es stiller wurde, „einen Antrag werde ich nicht stellen. Die Wahrheit will ich euch sagen: Es ist niederträchtig, dass ihr zwei Männern, die erst gestern hier ankamen und die niemand etwas zu Leide getan haben, den Weg verlegt. Einen Antrag werde ich nicht stellen, aber etwas anderes werde ich tun; ich gehe jetzt ins Rathaus und rufe telephonisch die Polizeiwache.“
Fünf Glieder der Kettenbildung lösten sich augenblicklich auf. Jeschke aber rief:
„Hierbleiben! Durch ein Mädel, noch dazu durch die Tochter der ‚Antragspritze‘ lassen wir uns nicht vertreiben.“
Helga liess sich nicht beirren.
„Wisst ihr, Leute, was das ist, was ihr hier treibt? Das ist grosser Unfug, Zusammenrottung, Freiheitsberaubung! All das ist strafbar!“
Da lösten sich zwei weitere Ringe der Kette. Auf einmal drängte sich ein dicker, brutal aussehender Mann hervor und schrie:
„Halloh, was sehe ich? Die Kerle haben ja meinen Hund, meinen Nero!“
Er rief das Tier an; es kuschte sich winselnd, in höchster Angst vor seine Füsse. Der Mann zerrte das Tier auf die Treppe, gab ihm einen rohen Stoss.
„Wer weiss, dass das mein Hund ist?“
Drei oder vier Zeugen meldeten sich. „Es ist sein Hund!“
„Vor fünf Tagen ist er mir gestohlen worden. Vom Strick, an den er gebunden war, ist er losgeschnitten worden. Nun, Fräulein, rufen Sie die Polizei, die kann die Hundediebe gleich festnehmen.“
Titus hob die Hand:
„Der Hund ist uns halbverschmachtet in letzter Nacht zugelaufen.“
„Kann jeder behaupten! Gestohlen ist er!“
Tumult!
„Ich habe den Hund soeben im Rathause als zugelaufen gemeldet.“
Da wurde es stiller.
„Der Hund ist furchtbar zerschlagen, wie sich jedermann überzeugen kann. Da ist er geflohen.“
„Nun soll ich wohl gar ein Tierschinder sein? Bei mir haben es die Hunde gut!“ schrie der Brutale. Er beugte sich zu dem Hunde herunter, der stiess ein Angstgeheul aus, jagte die Rathaustreppe hinab zwischen den Leuten hindurch und war auf und davon.
Der Brutale tobte und fluchte. Da flüsterte ihm Timotheus einige Worte zu.
„Verkaufen? Ich verkaufe keine Hunde!“
„Aber für gutes Geld?“
„Wieviel gebt ihr, auch wenn sich der Hund nicht wiederfindet?“ lauerte der Rohling.
„Fünfzig Mark, auch wenn sich der Hund nicht wiederfindet.“
Der Brutale erschrak freudig, aber er liess es sich kaum merken.
„Wenn ihr hundert Mark zahlt, und zwar sofort, gehört Euch der Hund.“
Timotheus reichte ihm die gewünschte Note.
„Also, es ist hier vor Zeugen abgemacht! Ihr dürft das Geld nicht wieder verlangen, auch wenn der Hund verloren geht.“
„So ist es!“
Endlich waren sie frei. Es wurden böse Urteile über die Paulusjünger gefällt. Man hielt sie für Narren. Nur ein Narr konnte hundert Mark für einen Hund geben, der kein echtes Tier und noch dazu fortgelaufen war. — Einige Geschäftsleute nahmen sich im stillen vor, die weltunerfahrenen Männer bei Gelegenheit zu schröpfen. Einigen ist das nachträglich gut gelungen.
Nicht gelang zwei schlimmen Individuen ein Einbruch, den sie planten, als durch die Schwatzhaftigkeit des Weinhändlers der reiche Inhalt der Brieftasche des Timotheus bekannt wurde. Der Einbruch konnte nicht ausgeführt werden, denn die beiden Schurken kamen inzwischen anderer Straftaten wegen für lange Zeit ins Zuchthaus.
Helga Hiller sagte sich mit einer gewissen Bitterkeit, über die sie sich selber wunderte:
„Warum geben sie sich dem Gelächter preis? Um den Dicken wär’s ja nicht so sehr schade. Aber der Junge! Er ist gross, stark, bildschön, sicher auch klug. Warum spielt er den Narren?“ —
Die Paulusjünger gingen still nach Hause. Sie zogen ihr Wägelchen und sprachen wenig. „Aller Anfang ist schwer,“ sagte Titus. — „Wie Gott will!“ antwortete Timotheus. Vor der Tür lag Amicus; er wäre fast gestorben vor Freude, als er die beiden sah.
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