Wenn Timotheus so sprach, sagte Titus: „Amen.“ Nun berieten sie über den Hund. Titus sagte:
„Ich wünschte, wir könnten ihn behalten. Hoffentlich fordert ihn sein Herr nicht zurück. Sieh, wie treuherzig, demütig und dankbar er uns anschaut! Alles für ein wenig Suppe und ein bisschen Freundlichkeit!“
„Wenn der Hund zurückgefordert wird, werde ich versuchen, ihn zu kaufen. Wie soll er heissen?“
Titus dachte einen Augenblick nach, dann sagte er:
„‚Amicus‘ soll er heissen, das heisst zu deutsch ‚Freund‘. Die Freunde aus der Hundewelt sind meist viel treuer als die Menschenfreunde.“
„Gut! — So wollen wir gehen! Komm, Amicus!“
„Jetzt,“ sagte Titus lächelnd, „müsste es ‚amice‘ heissen.“ Timotheus sah verwundert auf.
„Lass nur, lieber Bruder, ruf ihn nur ‚Amicus‘ was geht ihn und uns die Weisheit der Sextaner an?“ —
Sie stiegen den Berg hinab. Ganz nahe ihrem Besitztum begann prachtvoller Hochwald. Gemischter Wald, Laubund Nadelbäume durcheinander und eine üppige Flora, deren Blüten hier in der reinen Gebirgsluft von wundersamem Glanze waren. Die beiden atmeten tief und glücklich. „Gott hat es gut mit uns gemeint, als er uns hierher führte. Es ist wie ein Gelobtes Land.“
„Ja,“ sagte Titus und betrachtete mit tiefer Freude den herrlichen Wald. Leise rauschte der Morgenwind, Duftwogen umströmten die beiden, die Vögel jubilierten. — Timotheus aber seufzte.
„Lieber Bruder, ich muss, ehe wir nach der Stadt kommen, mich über wichtige Dinge mit dir aussprechen. Du stehst auf der Leiter der Tugend sehr hoch, ich sehr tief.“
„Schweig,“ sagte Titus unwillig.
„Es ist so,“ sagte Timotheus, „du bist frei von viel Unnützem, Törichtem, Gebrestigem, dem ich noch kraft- und willenlos unterworfen bin. Und weisst du, woher das kommt? Weil du nie mit einem Weibe zu tun gehabt hast, ich aber wohl. Das Weib zieht den Mann hinab, es macht ihn schwach und schlecht!“
„Wo willst du eigentlich hinaus?“ fragte Titus.
„Ich möchte dich fragen, ob du mich wohl sehr verachten würdest, wenn ich weiterhin Fleisch und Wurst ässe?“
„Nein, der Herr hat das Osterlamm gegessen. ‚Was zum Munde eingeht, ist keine Sünde‘, lehrt Luther.“
„Nun, auf das, was Luther gesagt hat, kann ich ja allerdings nichts geben, aber auch Calvin hat Fleisch gegessen, ich glaube am liebsten Hammelfleisch.“
„So iss!“
„Ja, aber jetzt kommt eine schwierigere Frage. Wir sind hierhergekommen, um zur Vollkommenheit zu streben; meinst du, dass diesem Streben etwas im Wege stünde, wenn ich meine Gewohnheit beibehielte, täglich ein Quantum Rotwein zu geniessen, mittags ein Glas und abends zwei Gläser? Siehe, Paulus schreibt an Timotheus: Trinke nicht nur Wasser, sondern auch etwas Wein deines Magens und deiner öfteren Unpässlichkeiten wegen.“‘
„So trinke! Auch der Herr hat Wein getrunken. Trinke! Aber gehe nicht alle zwei Tage nach der Stadt, dir eine Flasche zu holen. Das würden die Leute bemerken, und sie würden lästern. Bestell’ dir heute eine ganze Kiste Wein!“ „Eine ganze Kiste,“ sagte Timotheus erfreut, „das ist ein guter Vorschlag! Nein, mit der Einzelflasche, das könnte Anstoss erregen, während eine ganze Kiste kein Ärgernis aufkommen lässt. — Ja, aber noch eine Frage, lieber Bruder, wie ist das mit dem Tabak?“
„Nun,“ sagte Titus, „beim Tabak kannst du dich ja nicht auf Paulus und Calvin berufen. Die waren sicherlich Nichtraucher; denn damals war dieses Rauschgift noch unbekannt. Ich werde dir eine kleine Geschichte erzählen. Friedrich Wilhelm, der grosse Kurfürst von Brandenburg, hatte einen Leibmohren, der der neuen Sitte des Tabakrauchens fröhnte. Dieser Mohr lud eines Tages einen Bauern ein, zu rauchen. Aber der Bauer wehrte heftig ab und sagte: ‚Nee, gnädiger Herr Düwel ick frette keen Füer!“‘
„Also Teufelswerk — also Rauschgift! Ich darf nicht mehr rauchen?“
„Du darfst! Was nicht Sünde ist, das darf man! Die meisten Dichter, Gelehrten, Staatsmänner rauchen wie die Schlote. Sie haben eine sehr zwiespältige Ausrede dafür. Auf der einen Seite sagen sie, das Rauchen rege sie an, auf der anderen, das Rauchen beruhige ihre Nerven.“
„Mir beruhigt es die Nerven!“
„So rauche!“
„Nun, Titus, noch eine letzte Frage: Wie steht es mit dem Schnupfen?“
Titus sagte:
„Es war ein König — Fridericus Rex — ein Genie — der hat in seinem Leben zwar nicht ganz soviel Schnupftabak in seine Nase gesteckt, wie Sand in seinem Königreiche war, aber immerhin erstaunliche Mengen. Schnupfe, Timotheus, wenn es dir gut tut!“
„Es tut mir gut, Schnupfen ist das beste Mittel, sein Augenlicht lange zu erhalten. Die meisten Schnupfer lesen mit sechzig Jahren noch ohne Brille, beim Augenarzt trifft man sie selten oder nie. Ach, wie bist du klug und tolerant, lieber Bruder! Du hast mein Gewissen beruhigt und mich glücklich gemacht.“
So stiegen sie den schönen Sommerwald hinab, fröhlich und friedlich. Amicus, der Hund, hielt sich dicht an der Seite des Timotheus, für den er eine grosse Dankbarkeit hatte, weil er von ihm gefüttert und gestreichelt worden war.
Am Waldrands stand ein Mütterchen. Als sie die beiden gewahrte, kam sie rasch auf sie zu und sagte mit zittriger Stimme: „Ach, die heiligen Männer, die seit gestern hier sind! Ich habe mir wohl gedacht, dass sie herabkommen würden, da warte ich hier seit zwei Stunden.“
Sie wandte sich an Timotheus, den Älteren: „Ach, ich leide so Not; ich habe offene Beine. Helft mir, heiliger Vater!“ Timotheus schnob:
„Bleib mir nur mit dem heiligen Vater vom Leibe! Ich bin kein Wundertäter, sondern ein in Sünden und Schwächen verstrickter Mensch. Offene Beine hast du?“
„Ja, ich leide sehr Not.“
Timotheus zog eine dicke Brieftasche aus seinem Kittel, gab der Frau einen Zehnmarkschein und sagte:
„So, Mütterchen, gehe zum Arzt, Gott helfe dir!“ —
Sie gingen weiter.
„Das wäre noch schöner, wenn ich etwa hier als heiliger Vater ausgeschrien würde,“ knurrte der Calvinianer erbost.
Er wurde bald eines anderen belehrt.
Unten auf der Chaussee gingen zwei halbwüchsige Burschen hinter ihnen her. Sie unterhielten sich in dem bekannten, so ausserordentlich deutlichen Flüstertone.
„Der den Mord begangen hat, ist der Dicke. Aber er ist aus Brasilien, da dürfen sie ihm hier nichts tun, da steht er unter dem Völkerrecht.“
„Ja, und der Lange, der hat auch seine zehn Jahre Zuchthaus hinter sich. Feine Neulinge!“
Sie bogen in eine Seitengasse ein. —
„Hast du es gehört?“ fragte Timotheus. „Erst sollte ich ein heiliger Vater sein und jetzt bin ich ein Mörder aus Brasilien.“ Titus lächelte.
„Die Leute haben uns gestern abend beobachtet, und schon auf dem Heimwege waren viele Märchen über uns fertig. Das Volk dichtet schnell und kräftig.“ —
Aus einem Hause, an dem „Vorkosthandlung“ geschrieben stand, kam eine Frau eilig heraus und fragte, was es wohl kosten würde, sich von den Brüdern wahrsagen zu lassen. „Das kann dich deinen Kleiderrock kosten,“ sagte Timotheus, „sieh dir nur diesen Hund an; er ist sehr grimmig.“ Amicus aber spielte die ihm zugedachte Rolle schlecht; er sah die Frau freundlich an und wedelte mit dem Schwanze, denn aus dem Laden kamen für seine Hundenase ergötzliche Düfte. Die Frau aber wich vor dem Hunde erschrocken zurück und kreischte: „Eduard! Eduard!“ Ein starker Mann erschien in der Tür, und die Frau erklärte ihm japsend, der dicke Kerl da hätte sie belästigt, sie geduzt und gedroht, den bösen Hund auf sie zu hetzen.
„Komm weiter!“ mahnte Titus. Sie gingen rasch davon. Der Vorkosthändler lärmte hinter ihnen her, schrie etwas vom Knochenentzweischlagen und von Benachrichtigung der Polizei. —
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