Titus zog aus und fand seinen Bruder Timotheus. Er fand ihn in Verzweiflung. Der Mann, der wohl an die zwanzig Jahre älter war als Titus, aber die Fünfzig noch nicht erreicht hatte, war völlig ergraut. Er erzählte die Tragödie seines Lebens ganz kurz: Ein Weib hatte er genommen, obwohl er sich immer vor der Ehe gefürchtet hatte. Sie war fünfzehn Jahre jünger als er. Und sie war so ganz anders als er. Strebte er zu religiösen oder wissenschaftlichen oder künstlerischen Versammlungen, so ging ihr Sinn lediglich nach Tand, Spiel, Tanz, Kino, Reisen, Theater. Sie hat ihm zwei Kinder geboren; sie starben, kaum drei Jahre alt, an einem Tage. Damals, so bekannte Timotheus, sei er von seinem Gott abgefallen, hätte nicht mehr glauben mögen, dass die Welt von einem liebevollen Vater regiert werde, dass Weisheit und Gerechtigkeit die Menschheit beherrschen. Er habe nie wieder gebetet, kein frommes Lied mehr gesungen, sei nie wieder zu einem Gottesdienst gegangen; dagegen habe er mit Eifer alles gelesen, was die Weltordnung verachtete als böse, verpfuscht und grausam, viel mehr als die Schöpfung eines Dämonen denn als die eines Lichtgottes betrachtete. Da sei sein Damaskus gekommen. Eines Tages habe er an den beiden Kindergräbern gestanden und gesagt: „Nun weiss ich, warum ihr so früh sterben musstet; ihr solltet nicht erfahren, dass eure Mutter eine Dirne war!“
Als Titus bei Timotheus anlangte, war dieser gerade vor einer Woche von seiner Frau geschieden worden. — Und nun wusste auch Timotheus nicht, was er im Leben noch beginnen sollte. Zur Arbeit hatte er jede Lust verloren. Timotheus war Goldschmied und Uhrmacher gewesen. Er galt als berühmter Meister weit und breit und war ein wohlhabender Mann. Nun liess er die geschickten Hände müssig im Schosse ruhen.
Timotheus weinte vor Freude, als Titus in sein Zimmer trat. „Dich sendet Gott, du kommst als mein Erretter, bleibe bei mir immer, lasse mich nicht untergehen!“ Titus blieb dem Unglücklichen mit wortreichen Tröstungsversuchen fern. Er tröstete durch Stille, durch leises, vorsichtiges Ablenken von dem Schmerzhaften. Und dann kam er auf das beste Trost- und Ablenkungsmittel — auf den Kampf! Ein ganzes Jahr haben sie — Lutheraner und Calvinianer — einen Religionskampf geführt, hauptsächlich über die Prädestinationstheorie und über die Abendmahlslehre. Wenn Timotheus mit seinem heiligen Augustinus angerückt kam und anderem ganz schwerem Geschütz, dann geriet Titus in Lutherzorn, und der Kampf wurde zwar nicht so heftig, wie es in den Tagen des Mittelalters war, da die Menschen um nichts anderes rangen als um religiöse Überzeugungen, um die sie entsetzliche Kriege führten, sich im Namen des liebreichen Erlösers gegenseitig verfluchten und verbrannten, aber der Streit nahm doch manchmal auch Formen an, welche die sanfte Flamme der Zuneigung, die ihr einsames Leben erhellte, zu verlöschen drohten. Etwas Gutes hatten diese oft leidenschaftlichen Erörterungen: das Bild der ungetreuen Frau verblasste in der Seele des Timotheus als etwas Kleines und Verächtliches, für das Herz und Hirn anzustrengen, töricht war. Die Strassenecke, an der Timotheus die Frau zuletzt mit dem andern gesehen hatte, war für den Religionsstreiter nur noch ein ganz gleichgültiger, fast unwirklicher Ort, der in seinem Leben keine Rolle mehr spielte. Was aus ihr geworden war, würde er nie wissen, denn er würde nie danach fragen.
So blieben die beiden ein ganzes Jahr zusammen, mit nichts anderem beschäftigt, als mit dem Studium der verschiedensten Werke, die sie sich käuflich erwarben oder aus grossen Büchereien leihweise verschafften. Das Goldschmiedsgeschäft ging derweil zurück, denn der Meister liess sich in Werkstatt oder Laden kaum noch sehen.
Sie verlebten das Jahr in Weltabgeschiedenheit, und da sie kaum mit einem anderen Menschen sprachen, so verkapselten sich ihre Gedanken und Gefühle, und sie standen schon, als sie noch in der Stadt lebten, abseits ihrer Zeitgenossen. Mehr und mehr erfüllte sie Bewunderung für den Apostel Paulus. Timotheus sagte: „Christus war der Gründer der Kirche, Paulus der Organisator; Christus brachte das Gold des Glaubens aus der Schatzkammer seines himmlischen Vaters auf die Erde, Paulus schmiedete es zu königlichem Diadem und zu kostbaren Münzen.“ Anfangs, erst mehr als liebevolle Neckerei, nannten sie sich Titus und Timotheus, mehr und mehr aber wurde es ernst mit diesen Namen, die ihnen ehrwürdig und vorbildlich waren. Sie betrachteten mit Bewunderung die Lebensgeschichte dieser beiden, die aus Heidenland in den Sonnenbezirk des christlichen Heros kamen, ihn begleiten durften und in Heiligkeit starben, der eine auf Kreta, der andere in Ephesus.
Auch mit einigen profanen Büchern beschäftigten sich die Jünger. Eines Tages hatten sie die Lektüre des „Faust“ beendet. Sie hatten während der Lesung über dies und das aus dem Werke gesprochen, viel darüber nachgedacht. Nun fragte Timotheus: „Ist dieses Buch wert, dass man es liest?“ — „Nein,“ sagte Titus, „es fehlt ihm das ‚Unum necessarium‘, und damit fehlt ihm alles.“
Timotheus, der ohne sprachliche Bildung war, erkundigte sich, ob dieses Wort griechisch, hebräisch, arabisch oder aramäisch sei; das waren die Sprachen, die, hauptsächlich der Schrift wegen, Titus auch heute noch eifrig betrieb. „Es ist Latein,“ sagte Titus, „es stammt von dem grossen mährischen Pädagogen Commenius und heisst auf deutsch: ‚Das eine, was not tut‘.“ Und Titus sagte damals: „‚Das eine, was not tut,‘ ist, den Weg in den Himmel zu finden. Alles andere, was von diesem Wege ablenkt, ist unselig. Auch im ‚Faust‘ fehlt das ‚Unum necessarium‘. Die Heimat, die ewige, ist alles, die Erde ist nichts als auf öder Wüstenwanderung eine schmutzige Karawanserei. In dürrer Wüste der Gedanken und Gefühle, mit verlogenen Fata Morganen, mit brutschwülen Tagen und frostschauernden Nächten, mit ungeheuer viel Kamelgeschrei und elendem Fusel. Das blühende Eiland, dahin die Wanderung gehen soll, ist unermesslich weit. Wer nicht ganz stark bleibt, der erliegt; seine Gebeine bleichen in der Wüste, und die meisten der liegenbleibenden Knochen stammen von Menschen, die, vom Sonnenstich des eigenen Hochmuts betroffen, von dem zweihöckerigen Kamel ihres Weisheits- und Kunstdünkels in den Sand fielen.“
Damals hatte Timotheus die Hände aufgehoben und seinen Bruder beschworen, beim Predigerberuf zu bleiben. „Wer sollte predigen, wenn nicht du? Der Geist ist über dir, überhöre seine Stimme nicht! Du bist rein; du hast im Leben nie ein Weib berührt. Du hast dich, wie Johannes Baptist, enthalten aller berauschenden Getränke, du verschmähst sogar den Tabak, ohne den ich Schwacher nicht sein kann. Du hast mich seit einem Jahre lehren wollen, nicht das Fleisch ermordeter Tiere zu verzehren, sondern zu leben von den unschuldigen Produkten der Natur, die Gott uns schenkt und zur Speise bietet. Ich bin meinen angewohnten Schwachheiten bis jetzt unterlegen. Wer sollte Prediger und Führer einer Gemeinde sein, wenn nicht du?“
„Ich fühle mich zum Führer nicht berufen; ich bin nicht stark und still genug in mir selbst.“
Dabei blieb es, und dann kam der Plan, auszuwandern und abseits der Welt in Frieden die kurze Spanne Zeit zu verbringen, welche die Menschen so hochtönend und falsch „Leben“ nennen. So sagte Titus: „Lebt denn einer, der von Geburt an zum Tode verurteilt ist? Das Leben muss ewig sein, oder es ist kein Leben, sondern nur ein Scheindasein. Darin täusche sich niemand, glaube vor allen Dingen nicht an den Unsinn irgendwelcher ‚Unsterblichkeit‘ hier auf Erden, seien es Personen, Werke oder Ideen.“ —
Der Agent wurde gefunden, das alte Patrizierhaus des Timotheus durch einen Anwalt für gutes Geld verkauft und das Geld klug und vorsichtig angelegt. Timotheus war ein recht wohlhabender Mann.
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