„Nanu, katholisch lassen Sie nicht gelten, freireligiös auch nicht und jetzt auch nicht lutherisch? Ja, was sind denn dann Sie? Sind Sie Jude?“
Timotheus erhob sich erbost.
„Jude? Ich? Seh’ ich so aus? Wie?“
„Nein,“ lachte das Mädel, „die Juden sehen im allgemeinen — wie soll ich sagen — zivilisierter aus. Ich möchte gern wissen, was Sie sind.“
„Calvinianer bin ich!“ sagte der Dicke stolz. „Mein Bruder Titus ist leider Lutheraner.“
„Aber,“ staunte das Mädchen, „ich denke, das ist ganz dasselbe; ich denke, Luther und Calvin sind überhaupt ein und dieselbe Person und Fassung!“
Timotheus seufzte abgrundtief.
„Daher hat es der böse Feind so leicht! Er fischt in den trüben Gewässern der grenzenlosen Unwissenheit der Menschen.“
„Ach,“ lachte das schöne Mädchen, „ich bin gar kein so trübes Gewässer. Sagen Sie mir lieber, wie Sie heissen, wenn es nicht unbescheiden ist, so zu fragen. Ich heisse Helga Hiller.“
„Helga ist kein christlicher Name.“
„Das weiss ich nicht; jedenfalls ist es ein hübscher Name. Und wie heissen Sie?“
„Mein Bruder heisst Titus; ich heisse Timotheus.“
Dem Mädel gab es einen sicht- und hörbaren Ruck in die Kehle.
„Tit — und Timot —“
Sie musste erst etwas verschnaufen, ehe sie sagen konnte:
„Ist denn das möglich? Titus und Timotheus? Ja, erlaubt denn so was die Polizei?“
„Warum soll sie es nicht erlauben? Wir wollen die Welt verlassen, und so haben wir die bürgerlichen Namen die wir bisher trugen, abgelegt und nennen uns nach den beiden Lieblingsjüngern unseres grossen Meisters Paulus — Titus und Timotheus. Wir sind uns unserer Unwürdigkeit, diese ehrwürdigen Namen zu tragen, wohl bewusst, aber wir müssen erhabene Vorbilder haben, wenn wir auf dem schweren Wege, den wir uns erwählt haben, nicht erliegen wollen. So heissen wir Titus und Timotheus!“
Helga klatschte vergnügt in die Hände:
„Das ist glänzend, das ist famos! Titus und Timotheus! Ich habe so etwas Urverrücktes rasend gern.“
„Es ist nicht verrückt,“ sagte der Dicke sanft, ohne jedes Anzeichen, beleidigt zu sein. „Die Ungläubigen haben die echten Christen allezeit für Toren und Narren gehalten. Wie aber steht in der Schrift vom Jüngsten Gericht? ‚Wie stöhnen die, die sich auf der Welt für Weise hielten und nun auf der Seite der Verdammten stehen, wie stöhnen sie, indem sie sehnsüchtig hinüber zur Rechten sehen? Seht diese! Wir hielten sie für Toren und ihr Leben für Unsinn. Seht, wie sie zu den Auserwählten gezählt werden!‘“
„Möchten wir nicht weitergehen?“ fragte der andere der Pilger, der Titus genannt worden war, verdrossen.
„Ja, wir wollen gehen. Zuvor aber möchte ich die Jungfer noch fragen, ob sie wohl weiss, wie alt dieser stattliche Baum ist.“
„Siebenhundert Jahre, sagen die Gelehrten. Wird woh aber etwas weniger sein. Inwendig ist der Baum ganz hohl. Als ich noch jung und übermütig war, habe ich einmal ein Meerschweinchen in den Baum gesperrt. Das hat rumort und abscheulich und ängstlich gequiekt. Zwei alte Weiber, die vom Holzsammeln kamen, haben die Krämpfe gekriegt, als sie das Rumoren und Quieken hörten und nicht wussten, woher es kam. Sie warfen ihre Holzhucken weg und rannten schreiend nach der Stadt, wo sie erzählten, was sie erlebt hätten. Da gingen noch andere neugierige Leute hin, hörten auch den Spuk, der sich Abend für Abend erneuerte. Denn am Tage nahm ich das arme Tierchen heraus aus dem Baume. Schliesslich galt der Baum als verhext; es hiess, eine arme Seele quieke darin. Das war mein schönster Spass!“
„Der Spass war sehr hässlich!“ verwies Timotheus. Dann sah er an der Eiche empor. „Siebenhundert Jahre, fürwahr ein ehrenvolles Alter! Calvin war noch nicht geboren, als der Baum schon gross und stattlich war. Siebenhundert Jahre! Die Bank muss auch uralt sein.“
„Gar so uralt nicht, sie ist zwei Jahre alt.“
„Verspottest du mich, Jungfer?“
„Nein! Wir haben hier einen Künstler, der macht Bänke, Vasen, Urnen, Waffen, Sarkophage, Torsos, alten Schmuck in allen Dessins, aus allen Zeiträumen, in allen Stilarten und in jeder Preislage. Alles hervorragend echt. Spezialist ist er in etruskischen und keltischen Ausgrabungen. Auch die Inkaskultur liegt ihm. Er beliefert fast alle Altertumshandlungen des Kontinents und hauptsächlich des Orients. Selbst in Altertumsmuseen ist mancherlei von ihm; darauf ist er mit Recht stolz. Ich habe ihm einen uralten Ägypter abgekauft (7000 Jahre vor Christus). Es sind die Uranfänge ägyptischer Kunst, da die primitiven Menschen noch nichts konnten, als plump und ungeschickt drei Tiere in Stein zu ritzen, den Elefanten, die Schlange und den Dackelhund. Mein Vater hat mir unter Grimm und Schimpfen eine solche prähistorische Reliquie aus der Werkstatt des Meisters kaufen und sie über meinem Bette einmauern lassen müssen. Wenn es nur irgend Ihre Zeit erlaubt, sollten Sie sich die Werkstatt des Meisters mal anschauen: Kringelgasse 9. Meister Leonhard ist sehr leutselig!“
„Wir werden die Werkstatt eines solchen historischen Fälschers nie betreten,“ sagte Timotheus voller Entrüstung. „Hätte ich gewusst, dass diese mittelalterlich anmutende, verwitterte Bank eine Fälschung ist, hätte ich mich nie darauf gesetzt. Ich mag mit Fälschungen in gar keiner Weise in Berührung kommen. Wir werden diesen Betrüger nicht aufsuchen, obwohl wir Zeit genug dazu hätten.“
„Ihr wollt wohl morgen noch in unserer schönen Stadt bleiben?“
„Morgen und übermorgen und so viel hundert oder tausend Tage, wie uns der Herr noch zumisst.“
„Ihr wollt doch nicht etwa in Altenroda wohnen?“
„Ja, wir haben das Besitztum gekauft, das früher dem Gärtner Zeidler gehörte. Dort werden wir wohnen.“
Helga schlug in erstauntem Entzücken die Hände zusammen.
„Ist das möglich? Ist etwas so Herrliches zu glauben? O, wenn es wahr ist, dann begrüsse ich Euch stürmisch. Bisher waren in dieser biederen Stadt nur zwei spleenige Personen: der Student Brünning und ich. Jetzt sind wir vier! Das ist herrlich!“
„Wir wollen endlich gehen!“ sagte Titus und stand entschlossen auf.
„Behüt’ dich Gott, Jungfrau, hüte deine Zunge und bessere dein Leben!“ sagte Timotheus.
„Ich danke — gleichfalls,“ lachte Helga. „Zeidlers Besitztum ist zehn Minuten denselben Weg hinab, das kleine weisse Haus rechts am Wege. Auf dem Dache ist ein Storchnest. Sie können nicht fehlgehen.“
Die Paulusjünger wanderten den Berg hinab. Titus war niedergeschlagen.
„Warum haben wir uns verweilt?“ fragte er. „Um festzustellen, dass dort oben ein leichtfertiges Mädchen neben einer hohlen Eiche und einer gefälschten Altertumsbank wohnt?“ Timotheus antwortete: „Das Mädchen mag vielleicht noch nicht hoffnungslos verloren sein, aber leichtfertig ist sie und sehr geschwätzig.“
„Du warst auch geschwätzig, lieber Bruder!“
Timotheus sah erschrocken auf. Es war Gesetz zwischen den Paulusbrüdern, dass einer den anderen auf seine Fehler rückhaltlos aufmerksam machte. Timotheus sagte leise: „Du hast recht; ich war auch geschwätzig! Verzeihe mir!“
Nun sahen sie das Haus, das sie durch einen Agenten, ohne es vorher geprüft zu haben, gekauft hatten. Übermässig betrogen waren sie nicht, und da sie die Übervorteilung, die natürlich vorhanden war, nicht merkten, waren sie überhaupt nicht betrogen. Wer einen Betrug nicht merkt, ist nicht betrogen; daher haben alle Dummköpfe der Welt so stillvergnügte Gesichter.
Das Haus war ein viereckiger Kasten mit spitzem Strohdach; die Fenster waren eigentlich keine Fenster, es waren nur Ausluge. Die Käufer hatten Strohdach und kleine Fenster dem Agenten zur Bedingung gemacht und einen grossen, für Anbau geeigneten Garten; auch sollte das Haus in der Nähe einer kleinen Gebirgsstadt liegen, wo man das für das Leben Notdürftigste, auch im Bedarfsfalle einen Arzt, haben könne, ja nicht aber in der Stadt selbst, sondern abseits müsse es liegen, da man vom Lärm der Welt nicht berührt zu sein wünsche. Der Agent hatte einige Zeit suchen müssen, ehe er ein geeignetes Kaufobjekt fand, und sich für diese Bemühung durchaus schadlos gehalten ... Die Paulusjünger blieben stehen und betrachteten ihr neues Besitztum.
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