Gleichzeitig hoffte sie, das Dach des Hauses möge sich auftun, damit sie blitzartig entschwinden könnte, hoch hinaus in die Freiheit, die selig schützende Unendlichkeit des Himmels, doch ihre Beine fühlten sich schwer wie Blei an und hielten sie fest am Boden. Es gab kein Entrinnen. Dem Groll des Vaters war sie von jeher hilflos ausgeliefert gewesen. Mit jedem Schritt wurde ihr Atem schwerer, das Herz pochte zunehmend schneller, die Angst kroch langsam in sie hinein und nahm Besitz von ihr. Stand sie dann mit ihrer Schultasche neben ihm, war sie wie gelähmt, in grässlicher Angst vor dem, das gleich kommen sollte. Er kramte willkürlich ihre Schultasche durch, auf der Suche nach etwas, das nicht in Ordnung war, eine kricklige Handschrift, ein Fehler bei den Rechenaufgaben, ein Eselsohr, eine nicht akkurat angelegte Federtasche, im Grunde völlig einerlei. Er fand immer etwas. Der einzige Grund für seine Durchsicht war: Kontrolle, mit dem Ziel einen Wutanfall inszenieren zu können, um seine angestauten Aggressionen entladen und Hedda ihre Schulhefte und Bücher um die Ohren schlagen zu können, was er dann auch jedes Mal kräftig tat. In einer solchen Stimmung war das bloße Vorhandensein seiner Tochter für ihn die reinste Provokation.
Anfänglicher Protest oder auch ein leises, flehentliches Bitten um Verschonung und Nachsicht wurden ihr schon sehr früh herausgeprügelt. Wehlaute hatten ihn nur noch mehr angespornt, die kleine Hedda soweit mundtot zu machen, bis auch das letzte Wimmern verstummt war. Doch mit den Schmerzenslauten von damals war noch etwas ganz Elementares in ihr abgestorben: die natürliche, kindliche Lebendigkeit. Seit jenem Tag, Hedda war gerade erst vier Jahre alt, als er sie so brutal zusammengeschlagen hatte, dass sie sich drei Tage im Bett vor Schmerzen nicht mehr rühren konnte, war dann endgültig jegliche Spontaneität und der letzte Rest kindlicher Unbefangenheit und Fröhlichkeit aus ihrem Körper gewichen. Ihr Gesicht hatte sich zu einer grauen, ernsten Maske verändert, und die hohlen, leblosen Augen drückten fortan eine tiefe Kümmernis aus. Ein verstörtes, verschüchtertes Mädchen drückte sich von da an verängstigt durchs weitere Leben, immer im Bemühen, etwaigen Angriffen aus dem Wege zu gehen. Die Gründe für die immer wiederkehrenden Ausbrüche ihres Vaters, deren Narben auf ihrem Körper noch heute augenfällig sind, hatte sie nie verstanden, umso schwieriger war es für sie immer gewesen, einzuschätzen, wann sie warum bestraft werden würde.
Es war anscheinend Heddas Schicksal, sie war der Prellbock der schlechten Laune ihrer Eltern gewesen. Denn auch von ihrer Mutter konnte sie nicht den geringsten Schutz erwarten.
„Deinetwegen musste ich diesen Mann heiraten. Ich hätte weiß Gott etwas Besseres verdient.“ Ihre Mutter nutzte jede Gelegenheit, es ihr vorzuhalten. „Damals war das nicht so einfach mit der Abtreibung. Sonst, das garantiere ich dir, wärst du jetzt nicht auf dieser Welt und würdest mir mein Leben ruinieren.“
Auf der Arbeit ließen sie Hedda in Ruhe. Bis der neue Chef kam, jung, dynamisch und progressiv. Erschreckend progressiv.
„Nun, meine Damen“, offenbarte er dann auch gleich bei der nächsten Abteilungssitzung, „nach meiner ersten Einschätzung zum augenblicklichen Stand unserer Firma hat sich zweifelsfrei herausgestellt, dass uns bereits in nächster Zukunft eklatante Veränderungen ins Haus stehen werden, wollen wir weiter auf dem Markt bestehen bleiben. Unsere Strukturen sind überaltert, und die Rendite stagniert mit der Tendenz zur Rückläufigkeit. Hier besteht zwingend Handlungsbedarf, bevor unsere Versicherten noch zur Konkurrenz abwandern. Als innovatives Unternehmen dürfen wir uns den neusten Erkenntnissen der Marktanalyse nicht verschließen. Nur durch eindeutig bessere Leistungen können wir uns von unseren Konkurrenten abheben und eine führende Position auf dem Markt einnehmen. Und genau das ist unser Ziel!“
Seine Worte sprudelten wie auf Knopfdruck aus seinem Mund, voll automatisiert. Wahrscheinlich spulte er seine Ansprache in jeder Abteilung des Hauses in genau der gleichen Weise mit genau denselben Worten ab.
„Um das zu erreichen“, näherte er sich langsam dem Punkt, auf den es letztlich ankam und auf dessen Aussage alle mit Spannung warteten, „kommen wir nicht umhin, der Firma auch intern ein neues Gesicht zu geben. Das bedeutet für Sie eine drastische Umgestaltung Ihrer Abteilung, inhaltlich wie personell, da wir einen völlig neuen Modus, was die Betreuung der Versicherten betrifft, entwickeln werden. Kundenorientierung heißt die neue Linie.“
Sich seiner maßgebenden Position wohl bewusst, wippte er bei seinen bedeutungsschweren Ausführungen triumphierend auf seinen Füßen auf und ab, während sein selbstgefälliger, verheißungsvoller Blick die Runde machte. „Die Marketingabteilung ist bereits aktiv, die Außenwerbung auf unser neues Logo auszurichten. Tja, meine Damen . . .“ Er ließ seinen Blick mit hoch gezogenen Brauen in die Runde schweifen. „Das Ganze wird natürlich leider, wie Sie sich denken können, nicht ohne finanzielle Einbußen möglich sein. Neuorientierungen kosten Geld, und irgendwoher muss es ja kommen, nicht wahr? . . .“
Die eingelegte Kunstpause verfehlte nicht ihre Wirkung: Eine atemlose Stille beherrschte den Raum. Sämtliche Anwesenden klebten an seinen Lippen, gespannt, was jetzt kommen würde.
„Also“, fuhr er fort, „ werden wir in nächster Zeit sämtliche Abteilungen auf ihre Effizienz hin überprüfen lassen. Das betrifft natürlich auch Ihre Abteilung. Aber, meine Damen, ich kann Ihnen versichern, je besser Sie Ihre Arbeit machen, umso weniger haben Sie zu befürchten. Konkret gesprochen: Wir brauchen engagierte Mitarbeiter, die sich aktiv für die Firma einsetzen. In diesem Sinne . . .“ Er lächelte noch einmal süffisant in die Runde, machte auf dem Absatz kehrt und verließ gewichtig schreitend den Raum.
Sie waren sprachlos. Es war ein beeindruckender Auftritt, der ihnen geboten wurde. So etwas hatten sie hier noch nicht erlebt. Nach einer kleinen Pause, nachdem sich alle wieder gefasst hatten, überschlugen sich fast die Gemüter, und sie schnatterten aufgeregt durcheinander. Es war eine Mischung aus Anspannung, Neugierde und Verunsicherung.
Hedda stand etwas abseits und schwieg. Den Kolleginnen schien er zu gefallen. Endlich kam neuer Wind in die Firma und damit auch in ihre Abteilung. Hedda gefiel er gar nicht. Sie fühlte sich in ihrer Ruhe gestört und bedroht.
Der neue Chef hatte erreicht, was er erreichen wollte. Ein emsiges Arbeiten begann. Jede wollte aktiv, dynamisch und besonders engagiert erscheinen.
Hedda machte weiterhin ihre Arbeit, pflichtbewusst und zuverlässig, wie sie es immer getan hatte. Doch sie war verunsichert. Sie merkte schon sehr bald, dass ihre Kolleginnen sich nicht nur durch gezielten Übereifer anders verhielten als früher, auch ihr gegenüber hatten sie sich verändert. Was sie früher noch mit gespielter Freundlichkeit zu verbergen bemüht waren, zeigten sie jetzt ohne Hemmungen. Sie grenzten Hedda ganz offensichtlich aus und ließen sie ihre Abneigung unverblümt spüren. Gemeinsame Gespräche und ein sachlicher Informationsfluss fanden für Hedda nicht mehr statt.
Sie wollen mich nicht mehr haben, schoss es ihr durch den Kopf. W enn eine gehen soll - dann ich. Die missbilligenden Blicke und das neuerliche Getuschel hinter ihrem Rücken machten ihr deutlich, dass sie ihre Empfindungen nicht getäuscht hatten. Also hatte sie es gelassen, das mit dem Backen. Sie wussten es ohnehin nicht zu schätzen.
Sie gaben ihr mehr Arbeit, aber sie hatte nicht gemuckt, sondern sich bemüht, es zu schaffen und sie zufrieden zu stellen. Auch der Chef zitierte sie wiederholt zu sich und sah ihre Arbeiten durch. Ein bekanntes Gefühl durchflutete sie und trieb ihr den Angstschweiß unters Hemd.
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