Um sich derlei unerquicklichen Gesprächen nicht mehr freiwillig auszusetzen, nahm Hedda ihre Mahlzeiten nur noch alleine ein, wenn nötig sogar in ihrem Wohnzimmer. Der leidende Ausdruck in den Augen und die betont vorgeschobene dicke Unterlippe in Verenas Gesicht, wenn sie zur Tür hereinkam, ließen Hedda jeweils schon vorher erahnen, welch ein Gejammer heute wieder auf sie zukommen würde, setzte sie sich erneut einem Gespräch aus. Sie zog es dann lieber vor, nach einem kurzen Gruß auf dem Absatz kehrt zu machen und das Weite zu suchen.
Abends zog Verena es vor, sich vor den Fernseher zu setzen. Da sie nur über wenig Geld verfügte, wie sie unverblümt wiederholt bemerkte, könnte sie sich nicht leisten auszugehen. Sie zog ihre Feierabendkleidung an, eine etwas unästhetische, alte, hellbraune, völlig ausgebeulte Trainingshose, legte sich auf das Bett, verteilte ihr Knabberzeug um sich herum und zapte sich durch die Fernsehprogramme. Somit stand sie Hedda nicht mehr zur Verfügung. Sie widmete sich voll und ganz ihrem Fernseher. Die Zimmertür ließ sie dabei allerdings offen stehen.
Hedda spürte deutlich ein Gefühl von Aversion gegen die permanente Berieselung durch diese verdammte Flimmerkiste. Sie suchte nach einer Erklärung dafür, schließlich hatte sie sich doch eigentlich mehr Leben in ihrer Wohnung gewünscht. Bedeutete der Fernseher gar eine Konkurrenz für sie? Da Hedda aber die Unterhaltungen mit Verena von sich aus mied, konnte es das eigentlich nicht sein. Es war eher die Unmöglichkeit, sich den Abend selbst gestalten zu können. Somit war der Fernseher samt Untermieterin als Störenfried und Eindringling zu bezeichnen, weil er, aufgrund der herüber schallenden Lautstärke, schlichtweg nicht zu ignorieren war.
„Hast du die Tür eigentlich immer offen stehen?“ wagte Hedda einmal an einem frühen Abend einen Vorstoß, als sie erneut befürchtete, in ihrer Ruhe gestört zu werden. Sie hatte sich gerade in eine Zeitschrift vertieft, die sich ausführlich mit den heutigen Sicherheitsstandards technischer Geräte im Haushalt, insbesondere von Heizstrahlern, Fernsehgeräten und Toastern und den möglichen Gefahren bei falscher Anwendung, befasste. Verena war wie üblich nach Hause gekommen, hatte etwas gegessen und wollte gerade, nachdem sie in ihre grässliche Hose geschlüpft war, ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen und sich ihrem Fernseher widmen. Ihre Zimmertür ließ sie weit geöffnet.
„Die Tür muss immer offen bleiben, zumindest wenn ich nicht schlafe“, gab sie zur Antwort. „Sonst habe ich in diesem kleinen Raum noch das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Und ausschließlich darauf beschränkt zu sein, in so einem winzigen Zimmer leben zu müssen, finde ich ziemlich furchtbar.“
So winzig fand Hedda das Zimmer gar nicht, und sie hatte nicht den Eindruck, an Wahrnehmungsstörungen zu leiden. Elke hatte sich über die Größe des Zimmers jedenfalls nie beklagt. Allmählich betrachtete Hedda Verena mit einiger Skepsis. Vielleicht arbeitete sie daran, die Miete drosseln zu können, so penetrant, wie sie auf dieses ach-so-kleine Zimmer, gekoppelt mit ihrer bemitleidenswerten finanziellen Situation hinwies. Ihr Verhalten deutete ganz offensichtlich daraufhin. Oder wurden jetzt langsam die Ellbogen ausgefahren? Merkte Verena tatsächlich nicht, wann sie den Bogen überspannte?
Leider sollte diese Ruhestörung nur der Anfang einer misslichen Wohnsituation sein, wie sich schon sehr bald herausstellte.
Eigentlich hatte Hedda sich das Zusammenleben mit dieser Untermieterin ganz anders vorgestellt: freundliche Gepflogenheiten, wenn man sich begegnete, anregende Gespräche bei Tisch, gemeinsame Spaziergänge ... Aber nichts von dem hatte sich eingestellt. Nicht nur, dass die gemeinsamen Unterhaltungen nicht richtig zustande kamen, von Ausflügen ganz zu schweigen, auch die allgemeinen Modalitäten des miteinander Wohnens hatte Hedda so nicht geplant.
Schon nach kurzer Zeit musste Hedda in Zweifel ziehen, ob sie hier noch die Hauptmieterin war oder die Rollen sich vertauscht hätten. Verena besaß keinerlei Skrupel, die Wohnung nach und nach für sich zu vereinnahmen. Immer weiter breitete sie sich über ihr Zimmer hinaus aus. Nicht nur, dass sie, zusätzlich zu den zwei Fächern, die ihr Hedda im Küchenschrank zugewiesen hatte, die freien Flächen in der Küche - wie auf dem Kühlschrank, der Fensterbank, dem Regal und einem Teil des Tisches - mit ihren Sachen belegte, sie nutzte auch im Flur den Fußboden, um leere Flaschen und alte Zeitschriften unterzubringen. Was nun nicht gerade zur Verschönerung des Flures beitrug, abgesehen von der Behinderung beim Vorbeigehen. Ihre leeren Vasen stellte sie ebenfalls in den Flur oben auf die Kommode. „Du kannst ja wohl kaum erwarten, dass ich die auch noch in mein klitzekleines Zimmer stellen soll.“ Im Badezimmer spannte sie eine Wäscheleine über die Badewanne, die dann fast täglich mit ihrer Wäsche voll hing. „Extra jedes Mal in den Keller laufen, finde ich doch recht umständlich“, begründete sie dann ihr Tun. „So geht’s doch auch.“
Verena machte Hedda völlig sprachlos. Es machte sie sprachlos, wie eine Frau sich, in der für sie doch eigentlich fremden Wohnung, einfach eigennützig mehr und mehr Raum verschaffte. So völlig selbstverständlich. Es hatte den Anschein, als würde sie Stück für Stück allmählich ihre ganze Wohnung in Beschlag nehmen. In ihren eigenen vier Wänden konnte Hedda sich nicht mehr frei bewegen. Die Wohnung war quasi besetzt von ihrer Untermieterin.
Selbst als Hedda eines Tages in der Küche beim Kuchenbacken war, wurde sie verdrängt. Verena kam nach Hause, als sie gerade den Kuchenteig auf dem Tisch durchknetete.
„Mann, bin ich kaputt“, ließ Verena zur Begrüßung verlauten. „Den ganzen Tag haben wir nur am Computer gesessen. Mir dröhnt vielleicht der Kopf. Aber jetzt muss ich erst mal was essen.“ Demonstrativ holte sie Geschirr und Besteck aus dem Schrank und packte ihre Lebensmittel aus dem Kühlschrank auf den Tisch. „Brauchst du noch lange hier?“ Sie wies abschätzig mit dem Kopf auf den Tisch, während sie eine Scheibe Brot aus der Tüte nahm. „Ich habe wahnsinnigen Hunger.“
„Es dauert noch ein bisschen, ich habe gerade erst angefangen“, gab Hedda zu verstehen. Etwas betreten beobachtete sie Verenas Treiben auf dem Küchentisch, der ja eigentlich mit ihren Kuchenzutaten belegt war. „Kannst du nicht heute mal ausnahmsweise in deinem Zimmer essen? Ich wusste ja nicht, dass du so früh kommst.“
„In meinem kleinen Zimmer? Das kannst du wohl kaum erwarten. Womöglich noch an meinem Schreibtisch?“ Unnachgiebig schob sie Heddas Mehl- und Zuckertopf beiseite und packte ihren Käse auf einen Teller, den sie dann zur Mitte schob.
Verenas allgemein fordernde Haltung wurde noch bekräftigt durch ihre massive, körperliche Ausstrahlung. Sie war eine kräftige Frau von großer Statur. Ihr relativ großer Kopf wies deutlich grobe Gesichtszüge auf. Sie hatte große Augen, eine etwas dicke Nase und einen breiten Mund, dessen wulstige Lippen deutlich vorstanden. Die kantige und doch füllige Form ihres Gesichtes wurde noch dadurch hervorgehoben, dass sie ihre glatten strähnigen Haare gerne mit einer Spange nach hinten am Kopf befestigte. Zudem wurde ihr allgemeines Erscheinungsbild noch untermauert durch den klagenden Ausdruck ihrer Augen und die betont herunterhängenden Mundwinkel, die unmissverständlich ihr jeweiliges Anliegen offen zutage trugen. Und wenn Verena, so wie jetzt, in der Küche hantierte, tat sie dies mit ausladenden Bewegungen, so dass kaum noch Platz für andere war.
Hedda sah sich genötigt, das Feld zu räumen. Sie machte den Tisch frei, wusch sich ihre mehligen Hände in der Spüle, legte ihre Schürze über den Stuhl ab und verließ die Küche. Im Vorbeigehen kam ihr wieder dieser sonderbare Geruch, den sie immer vernahm, wenn Verenas Zimmertür offen stand, in die Nase. Mit einem Male wurde ihr klar: Es waren nicht die Möbel, die so merkwürdig rochen, es war Verena selbst, die diesen Geruch verbreitete. Sie hatte eine Körperausdünstung, die Hedda zutiefst unangenehm war. Automatisch öffneten sich ihre Nasenflügel, gleichzeitig hielt sie die Luft an, um so wenig wie möglich von dieser gärenden Penetranz einzuatmen. Angewidert verzog sie das Gesicht.
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