Alle möglichen Leute! Dabei wusste Heddas Mutter ganz genau, dass Hedda niemanden kannte.
Hedda stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Ihre Mutter in ihrer Wohnung. Grauenvoll. Würde diese auch nur einen einzigen Schritt durch die Tür setzen, das Ende der Idylle wäre für immer besiegelt gewesen.
Ihre Wohnung bedeutete ihr alles. Was hatte sie denn auch sonst? In mühevoller Kleinarbeit hatte sie sich ein Heim geschaffen, das ihr die so lang ersehnte Geborgenheit geben sollte. Und diesen lieb gewonnenen Ort, die einzige Rückzugsmöglichkeit von allem, was auf sie einströmte und dessen sie sich nicht erwehren konnte, ihre sichere Burg, wo niemand das Recht hatte, ihr Vorhaltungen zu machen und sie zu reglementieren, diesen Ort wollte ihre Mutter entweihen mit ihrem ständigen Gejammer und ihren permanenten Vorschriften, wie Hedda alles besser zu machen hätte. Absolut alles zerstören würde sie. Es würde Hedda die Luft zum Atmen in ihrer eigenen Wohnung rauben. Oh nein, bitte nicht, flehte sie innerlich.
„Also bis morgen“, war das einzige, was Hedda noch mühsam herausbrachte.
Hedda legte den Hörer wie in Trance, ohne genau zu wissen, was sie tat, auf die Gabel. Sie taumelte in die Küche und lies sich auf einen Stuhl sinken. Reglos starrte sie vor sich auf den Boden. Ihr Atem war deutlich zu hören, er wurde schwerer und schwerer. Sie fasste sich an die Brust. Da war er wieder, dieser beklemmende Schmerz, den sie oft fühlte, wenn ein Besuch bei ihrer Mutter bevorstand. Heute war der Druck besonders stark. Ihre Mutter hatte diesmal den Bogen weit überspannt. Hedda konnte sich kaum noch beruhigen. Ihr Innerstes schien sinnlos gegen etwas zu revoltieren, dessen Macht sich als grenzenlos entpuppte. Der Schmerz wurde immer stärker, als ob etwas anschwoll, das ihre Luftröhre jeden Moment zum Zerbersten bringen würde. Gleichzeitig war ihr Brustkorb wie zugeschnürt. Die eingeatmete Luft war gefangen und konnte nicht mehr heraus. Hedda versuchte aufzustoßen, um wenigstens etwas überschüssige Luft entweichen zu lassen und sich von etwas zu befreien, was den Schmerz verringern könnte. Selbst ein forciertes Gähnen, das manchmal befreiend wirkte, brachte keine Erleichterung.
Der Druck in ihrer Brust nahm weiter zu. Es war grauenvoll, nichts mehr steuern zu können, dem Schmerz gnadenlos ausgeliefert zu sein. Sollte das das Ende sein? Ihre letzten qualvollen Atemzüge? Sie presste mit aller Macht ihre Faust auf die Brust. Was konnte sie nur tun? Sie wusste sich nicht mehr zu helfen. Der Schmerz wurde bohrender, drückender - immer entsetzlicher. Es war nicht mehr auszuhalten. Alles war nicht mehr auszuhalten. Die Verzweiflung stand ihr im Gesicht.
Wie von etwas getrieben, sprang sie plötzlich auf und stürzte hastig aus der Küche. Im Flur stolperte sie über Verenas Zeitungsstapel. Sie fiel zu Boden und stieß mit dem Kopf an den Türrahmen zu Verenas Zimmer. Sie rappelte sich hoch und wankte ins Bad. Wie erstarrt blieb sie regungslos in der Tür stehen. Nur ihre Augen bewegten sich noch. Der ganze Raum war gefüllt mit Verenas Wäsche. Ein eisiger Blick taxierte jedes einzelne Wäschestück. Im nächsten Moment drehte sie sich um, riss die Tür zu Verenas Zimmer auf und verharrte ebenso starr, wie sie es beim Anblick der Wäsche getan hatte. Der widerliche Eigengeruch Verenas strömte ihr entgegen. Dieser modrige Gestank, der ihr den Atem raubte, nahm jetzt auch noch Besitz von der übrigen Wohnung. Sie schlug die Tür wieder zu und lief zurück in die Küche. Und hier bewahrheitete sich ihr eben gewonnener Eindruck: Sämtliche Flächen waren belagert mit Verenas Sachen.
Verena - überall Verena!
Erneut versuchte sie sich gegen das schmerzhafte, beklemmende Gefühl in ihrer Brust zu wehren. Sie fühlte sich völlig eingeengt, innerlich wie äußerlich. Wie lange kann man so etwas aushalten? So rundum beherrscht zu werden? Die Antwort wollte sie gar nicht wissen. Es musste etwas geschehen und zwar sehr schnell. Denn, wenn sie dem Ganzen jetzt keinen Einhalt gebieten würde, dann würde es ein jähes, schreckliches Ende für sie bedeuten. Und so geistesgegenwärtig war Hedda auf jeden Fall noch, um zu wissen, dass sie das nicht wollte.
Am liebsten hätte sie alles zu Boden geschleudert und für immer verbannt, um sich damit endlich Luft zu machen. Aber nach wie vor verbot ihr eine innere Schranke, eine dicke Barrikade im Kopf, derlei ungehörige Auswüchse. Doch irgendwas musste geschehen. Jetzt waren es schon Zwei, die sie nicht in Ruhe ließen. Nicht nur ihre Mutter, auch diese Frau hier in ihrer Wohnung raubten ihr die Luft zum Atmen. Verena verbreitete eine Atmosphäre, die angespannter nicht sein konnte. Bei Hedda hatte sich eine Frau - ein Ungetüm! - eingenistet, die dem eigenen Anspruch nach glaubte, eine ganze Wohnung gemietet zu haben.
Wie spät war es? Hedda blickte auf die Uhr. In Kürze würde Verena in der Tür stehen. Hedda ließ ein tiefes Stöhnen vernehmen. Sie musste sich etwas überlegen. Aber was? Wie konnte sie Verena dazu bewegen, dass sie ihre Wohnung für immer verließ, ohne ihr vor die Augen treten und es direkt aussprechen zu müssen? Eines war sicher: Hedda musste hier erst einmal raus und zwar ganz schnell. Noch bevor Verena nach Hause kam. Aber wo sollte sie hin? Ursprünglich sollte ihre kleine Wohnung ihr den Schutzraum vor allen Angriffen bieten, und jetzt empfand sie es als bedrohlich, sich hier aufzuhalten. Sie spürte deutlich ein böses Unheil auf sich zukommen, würde sie dem nicht etwas Gravierendes entgegensetzen.
Hedda versuchte sich zu konzentrieren. Hatte sie nicht erst kürzlich etwas gelesen, was ihr dienlich sein könnte? Angestrengt versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen, bis ihr schließlich der rettende Einfall kam, woraufhin sie sofort in hektische Geschäftigkeit fiel. Während sie eilig ihre Idee in die Tat umsetzte, musste sie sich zwischendurch immer wieder schmerzerfüllt an ihre Brust fassen. Zehn Minuten später dann trieb sie letztlich die Angst, qualvoll zu ersticken, nach draußen an die frische Luft.
Hedda irrte durch die Straßen. Es war bereits November, und ein kalter Wind sorgte für ziemlich ungemütliches Wetter. Es hatte geregnet und die feuchte Luft tat noch das ihrige dazu. Hedda schlug schützend ihren Mantelkragen hoch. Sie hatte weder an einen Schal noch an einen Schirm gedacht, einzig ihren Mantel hatte sie gegriffen, als sie sturzartig das Haus verlassen hatte.
In ihrem Kopf schwirrte alles durcheinander. Fernab von jeglicher Realität taumelte sie vorbei an den Menschen, die ihr entgegenkamen. Die Geräusche drangen teilweise ohrenbetäubend an sie heran und verflüchtigten sich dann wieder in den Hintergrund. Mal hörte sie ganz deutlich Getuschel, Kindergeschrei, Gezeter von Erwachsenen, Hupen, Verkehrslärm, das Aufheulen von Sirenen, mal waren die Geräusche nur verzerrt aus der Ferne zu hören. Hedda hatte wohl die Augen und Ohren offen und sah und hörte dennoch nicht wirklich, was um sie herum vor sich ging.
Lange Zeit irrte sie ziellos durch die Stadt. Die Tage waren jetzt schon merklich kürzer, die Dunkelheit setzte bereits ein. Die Straßenlaternen wurden eingeschaltet, Leuchtreklame flimmerte von den Läden. Hedda lief unbeirrt weiter.
Sie musste viele Stunden herumgelaufen sein, denn die Nacht hatte mittlerweile ihren Einzug gehalten. Die Geräuschkulisse war verblasst, und die meisten Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen.
Hedda spürte, dass ihre Beine langsam lahm wurden. Eine Pause, um sich etwas auszuruhen, würde ihr jetzt gut tun. Sie blieb stehen und schaute sich um. Die Gegend war ihr fremd hier. Sie steuerte auf eine Grünanlage zu, die sie vor sich erspähte. Vielleicht würde sie dort eine Bank entdecken, auf der sie ein wenig verweilen könnte.
Der Weg führte sie in einen großen Park hinein. Überrascht lief sie weiter. Das war genau das richtige, was sie jetzt gebrauchen konnte, eine Abgeschiedenheit weit weg von der Straße. Und je weiter sie in die Grünanlagen hineinging, umso bekannter kam ihr alles vor. Es war ihr Park, durch den sie lief, nur war sie diesmal von der anderen Seite hereingekommen. Ein freudiges Leuchten erhellte ihr Gesicht. Jetzt musste sie nur noch ihren einst so geliebten Platz finden, ihre Bank, die sie bisher nur aufgesucht hatte, wenn sie sich in Hochstimmung befand. Doch heute war es anders. Wie ein Magnet fühlte sie sich plötzlich von dieser Bank angezogen. Hier erhoffte sie, die ersehnte Balance für ihren inneren Frieden zu finden, die nötig war, um sich selbst wieder ein Stückchen näher zu fühlen.
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