„Bonjour Yannick, bringst du deinen Bericht heute persönlich vorbei?“
„Genau das, liebe Anaïk. Ich glaube, wir können unseren Toten recht schnell identifizieren. Ich habe seine DNA festgestellt und eine Übereinstimmung in unserer Datenbank gefunden. Auch wenn die Übereinstimmung nicht 100%ig ist.“
„Hmmm, was heißt nicht 100%ig?“
„Nun, ich will sagen, dass wir in unserer Datenbank nicht seine DNA vorliegen haben, sondern die eines nahen Verwandten.“
„Nahen Verwandten? Wie nah?“
„Seinem Alter nach zu urteilen, könnte es sich um seinen Großvater handeln. Aber langsam. Die DNA in unserer Datenbank gehört einem Mann, der ist 1936 geboren worden. Sein Name ist Heneg Bolloc´h. Der Mann ist 2002 bei den Ermittlungen zu einem spektakulären Bankraub ins Visier der police judiciaire geraten, dabei wurde seine DNA abgenommen. Bei dem Bankraub wurde eine Filiale der BNP Paribas hier in Quimper überfallen, just zu dem Zeitpunkt als ein Geldtransporter eine große Menge Bargeld in der Filiale abgeliefert hat. Es handelte sich damals um die erste Lieferung der neuen Euro-Scheine. Diese Informationen habe ich noch von deinem Vorgänger Ewen. Ich habe heute Morgen mit ihm telefoniert. Ich hatte seit Längerem vor ihn einmal wieder anzurufen. Ewen konnte sich noch sehr gut an den Fall erinnern, weil damals ein Wachmann zu Tode gekommen ist. Aber es geht noch weiter. Also, dieser Heneg Bolloc´h wurde damals anonym angezeigt. Der Mann war zu dem Zeitpunkt bereits weit über 60 Jahre alt. Die unbekannte Person, die ihn angezeigt hat, hat behauptet, dass Heneg Bolloc´h in den Überfall verwickelt gewesen ist. Die police judiciaire ist der Anzeige nachgegangen, hat Bolloc´h aber nicht nachweisen können, dass er etwas mit der Sache zu tun gehabt hat. Bei dem Überfall sind damals sechs Millionen Euro gestohlen worden.“
„Sechs Millionen Euro! Das ist ein ganz schöner Batzen Geld!“
„Genau sechs Millionen Euro, eine ganz schön hübsche Summe. Die Kollegen vom Raubdezernat haben zwei Komplizen festnehmen können und 3,6 Millionen des gestohlenen Geldes sichergestellt. Da an dem Überfall drei Männer beteiligt gewesen sind, handelt es sich bei dem gefundenen Betrag eventuell um ihren Anteil an der Beute. Die restlichen 2,4 Millionen sind bis heute verschwunden. Die beiden Ganoven haben den dritten Beteiligten nie verraten. Sie sitzen ihre Strafe in Brest ab. Vermutlich werden sie demnächst freikommen, vielleicht sind sie auch bereits entlassen worden. Einem der beiden hatte Ewen den Mord an dem Wachmann nachweisen können. Da der Richter damals dem Verteidiger gefolgt war, wurde der Mann nur wegen Todschlags verurteilt.“
„Und was hat jetzt unser Skelett mit dem Überfall zu tun?“
„Das, liebe Anaïk ist deine Aufgabe. Ich kann dir sagen, dass unser Toter vermutlich der Enkel von Monsieur Bolloc´h ist. Ob Bolloc´h damals wirklich an dem Überfall beteiligt gewesen ist oder nicht, oder wie sein Enkel in die Sache verstrickt sein könnte, das entzieht sich meiner Kenntnis.“
„Danke, Yannick, damit sind wir jedenfalls ein Stück weiter. Dustin hat mir seinen vorläufigen Bericht auch gegeben. Er hat festgestellt, dass der Mann orthopädische Schuhe getragen hat, und in den Schuhen hat er tatsächlich den Namen des Schuhmachers gefunden.“
„Ich musste ihn erst auf die Spur bringen, denn ich habe festgestellt, dass der Mann einen Klumpfuß hatte. Allerdings war ich mit der DNA-Analyse zu dem Zeitpunkt noch nicht soweit, so dass ich gehofft habe, dass wir den Namen über die Schuhe herausfinden können.“
Monique Dupont betrat Anaïks Büro.
„Na, Yannick, hast du schon eine heiße Spur?“
„Yannick hat mir gerade gesagt, um wen es sich wahrscheinlich bei unserem Toten handelt. Ich erzähle es dir gleich.“
Yannick verabschiedete sich von den beiden Kommissarinnen und verließ den Raum. Anaïk trat an die Pinnwand und begann mit den Eintragungen, während sie Monique gleichzeitig auf den neuesten Stand brachte. In den großen Kreis schrieb sie jetzt den Namen Bolloc´h. Einen Vornamen hatten sie noch nicht.
„Wissen wir schon, wo sich dieser Heneg Bolloc´h zurzeit aufhält?“
„Nein, Monique, das wird die nächste Aufgabe werden. Hast du eine Auskunft von der Vermisstenstelle erhalten?“
„Ja, das habe ich. In dem Zeitraum ist eine ganze Reihe von Personen als vermisst gemeldet gewesen. Ich habe die Liste gerade erhalten.“
„Dann lass uns nachsehen, ob der Name Bolloc´h erscheint.“
Sie brauchten nicht lange zu suchen bis sie den Namen Mewen Bolloc´h fanden. Der Mann war vor 19 Monaten verschwunden. Damit konnten sie relativ sicher sein, dass es sich um das Opfer handelte.
„Lass uns in der Datenbank überprüfen wer den Mann als vermisst gemeldet hat“, meinte Anaïk, ging zu ihrem Rechner und wählte sich in die Datei ein.
„Da ist es schon. Sein Vater, Tadeg Bolloc´h hat die Anzeige aufgegeben. Der junge Mann soll demnach am Tag vor seinem Verschwinden abends aus dem Haus gegangen sein. Er hat sich mit einem Freund treffen wollen. Den Namen des Freundes konnte der Vater den Kollegen nicht sagen. Nachdem er auch am übernächsten Tag nicht wieder aufgetaucht ist hat sein Vater die Anzeige aufgegeben. Die Suche nach dem Vermissten hat zu keinem Ergebnis geführt.“
„Dann sollten wir uns mit dem Vater unterhalten“, meinte Monique und sah Anaïk gespannt an.
„Genau das werden wir jetzt sofort machen. Zuerst ergänze ich aber den Namen unseres Opfers. Dustin hat noch andere interessante Hinweise gefunden. Eine kleine Notiz scheint mir besonders interessant zu sein.“ Anaïk zog die Plastikhülle mit dem Zettel aus dem Bericht von Dustin und zeigte sie Monique.
Ca. 160 Meter von dem Quai der Fähre. Markierung an Mauer, Kreuz im Stein, 60 – 80 cm tief, in Ölpapier eingepackt
„Aber Anaïk, das ist doch die genaue Beschreibung des Fundortes der Leiche.“
„Das liest sich auch wie die Beschreibung zu einem Versteck, findest du nicht, Monique?“, meinte Anaïk und betrachtete den kleinen Zettel. Dann fügte sie hinzu:
„Und wenn es sich hier um das Versteck von dem Geld aus dem Raubüberfall handelt?“
„Raubüberfall? Welcher Raubüberfall?“
„Entschuldige, du kennst noch nicht die ganze Geschichte, die Yannick mir gerade erzählt hat. Demnach ist der Großvater unseres Toten verdächtigt worden, vor 14 Jahren an einem Raubüberfall auf die BNP Paribas beteiligt gewesen zu sein. Allerdings konnte man dem Mann nichts nachweisen. Seine Kollegen haben dichtgehalten, so dass nur zwei von den drei Ganoven verurteilt worden sind. Da bei dem Überfall ein Wachmann ums Leben gekommen ist, ist mein Vorgänger, Ewen Kerber, an der Aufklärung beteiligt gewesen. Und Kerber hat Yannick die Einzelheiten erzählt.“
„Das heißt, dass unser Mord eventuell mit dem Bankraub vor 14 Jahren zu tun hat?“
„Das weiß ich nicht und möchte es auch nicht behaupten, aber möglich wäre es. Die beiden Verurteilten sitzen eventuell noch im Gefängnis von Brest und könnten in der nächsten Zeit entlassen werden. Wir müssen das überprüfen.“
„Gut, das bedeutet, dass die beiden ein Alibi haben, falls sie noch einsitzen. Warum ist der Enkel des dritten mutmaßlichen Beteiligten ermordet worden? Das passt nicht so richtig ins Bild“, fragte Monique nachdenklich.
„Das sind Fragen, die wir zu klären haben. Aber es ist ja noch nicht einmal sicher, dass der Bankraub von damals etwas mit dem Mord zu tun hat.“
„Dann lass uns zuerst mit dem Vater von Mewen Bolloc´h sprechen. Hast du seine Adresse?“
„Die steht in der damaligen Anzeige. Der Mann wohnt in der Rue Neuve, in Beuzec Conq, einem Vorort von Concarneau.“
Monique und Anaïk machten sich auf den Weg nach Concarneau. Es regnete schon seit Stunden in Strömen. Der Himmel hing voller schwarzer Wolken. Die Bäume hatten ihr Laub zum größten Teil verloren. Anaïk mochte diese spätherbstliche feuchte Jahreszeit nicht besonders. Sie liebte ihre Bretagne hell und blühend, mit dem Geschrei der Möwen und dem Geruch von Algen, Meer und Fisch. Die letzten Tage des Herbstes und die Wintermonate erlitt sie mehr. Natürlich hatten auch die Winterstürme ihren Reiz. Wenn der Wind das Meer aufpeitschte und die Wellen sich bis zu zwanzig Meter hoch auftürmten und krachend über die vorgelagerten Felseninseln stürzten, die Leuchttürme mit einem Wasserschleier umgeben waren, und der Algenschaum sich wie ein Schneeteppich über die Strände ausbreitete und allen angespülten Schmutz zudeckte. Es gab nicht wenige Touristen, die genau deswegen in den Wintermonaten in die Bretagne reisten.
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