Als nächstes nahm er sich das Portemonnaie vor. Einen schnellen Blick hatte er bereits an der Fundstelle auf die wenigen Münzen geworfen. Er ließ den Inhalt der Börse jetzt auf seinen Arbeitstisch fallen und sah sich die Münzen genauer an. Es waren exakt 3 Euro und sieben Cent. Die Scheinfächer waren leer. Dustin untersuchte das Portemonnaie. Hinter der Münztasche befand sich noch ein Fach, das er am Tatort übersehen hatte. Darin steckte ein Papier. Dustin nahm seine Pinzette und zog das Stück Papier vorsichtig aus dem Fach. Er gab acht, es nicht zu beschädigen. Die Feuchtigkeit des Erdreichs hatte auch dem zusammengefalteten Papier zugesetzt. Dustin faltete es auseinander und versuchte zu entziffern was auf dem kleinen Blättchen geschrieben stand.
Ca. 160 Meter von dem Quai der Fähre. Markierung an Mauer, Kreuz im Stein, 60 – 80 cm tief, in Ölpapier eingepackt
Die Schrift war noch gut zu lesen, trotz der Bodenfeuchtigkeit. Die Notiz schien auf etwas hinzuweisen, das in Ölpapier eingepackt worden und wohl an der Stelle vergraben gewesen war. Der kleine Fetzen Ölpapier gehörte also offensichtlich zu einem Paket. War das die Antwort auf die Frage, ob das gefundene Stück Ölpapier mit der Leiche zusammenhängt und eventuell mit ihr vergraben worden war?
Dustin arbeitete sich weiter durch das Portemonnaie durch. Außer den Münzen und der Notiz war nichts mehr darin enthalten. Er hatte keinen Hinweis auf den Besitzer gefunden. Die Notiz könnte Anaïk bei der Suche nach einem Motiv helfen. Es wäre durchaus denkbar, dass die Person wegen eines an der Stelle vergrabenen Pakets ermordet worden war. Was auch immer in dem Paket gesteckt hatte, Heroin, Ecstasy, Gold, Falschgeld oder echte Scheine? Dustin legte den kleinen Notizzettel in eine eigene Plastiktüte, er würde ihn noch auf Fingerabdrücke oder andere Spuren untersuchen müssen, dann nahm er sich die gefundene Münze vor. Er reinigte sie. Es war eine 1/2 Sol Münze, eine Umlaufmünze aus Kupfer. Auf der einen Seite zeigte sie eine Jahreszahl, darunter ein gekröntes Wappenschild und ein Symbol. Auf der anderen Seite war das Abbild von König Ludwig XVI. Die Münze hatte vielleicht einen Wert von ein oder zwei Euro. Dafür würde niemand einen Menschen ermorden. Als nächstes nahm er sich das kleine Stück Eisen vor, das direkt unter dem Kopf des Toten gelegen hatte. Er untersuchte es unter dem Binokular und kam zu dem Schluss, dass es sich um ein Stück Metall von einem Arbeitsgerät handelte, von einem Spaten, einer Schaufel oder einer Hacke. Es schien keine weiteren Geheimnisse zu bergen.
Die Überbleibsel der Plastiktüte verrieten ihm, dass es sich um eine Tüte der bekannten Chocolaterie Larnicol handelte. Das Unternehmen hatte Geschäftslokale in ganz Frankreich. In Paris, Toulon, Rennes, Nantes, Quimper und natürlich in der Ville Close von Concarneau. Seine Fabrikationsanlagen lagen nicht weit von der Altstadt von Concarneau entfernt. In dem etwa sieben Kilometer entfernten kleinen Ort Melgven, oder Melgwenn, wie die Bretonen die Kleinstadt nennen. Das Stück Plastik trug noch den Aufdruck eines Datums. Das könnte eventuell noch wertvolle Hinweise beinhalten. Die Tüte war 2014 bedruckt oder hergestellt worden. Was auch immer in der Tüte gewesen war, Dustin konnte es nicht mehr ermitteln.
Es blieben jetzt noch das Fläschchen und die Reste der Kleidungsstücke zu untersuchen, ein rot blau kariertes Hemd, eine blaue Jeans und ein schwarzer Wollpullover.
Yannick Detru hatte sich das Skelett akribisch angesehen. Er konnte auf Grund des Knochengerüsts bereits definitiv sagen, dass es sich um einen Mann handelte. Das Opfer war erschlagen worden. Der Schädel zeigte zwei Öffnungen, die dem Toten mit einem scharfkantigen Gegenstand zugefügt worden waren. Das Os frontale, das Stirnbein, und das Os parietale, das Scheitelbein, waren zertrümmert worden. Jeder dieser Schläge war für sich bereits tödlich gewesen, hinter der Tat schien eine enorme Brutalität zu stecken.
Haar- und Nagelreste waren für eine DNA-Untersuchung ausreichend vorhanden. Vielleicht gelang es die Identität des Opfers zu bestimmen. Yannick machte sich sofort an die Arbeit. Die beiden Kommissarinnen warteten bestimmt auf die Antwort.
Yannick näherte sich langsam der Pensionierung. Noch wenige Jahre, dann würde er seinem Freund Ewen Kerber folgen. Wie viele Jahre hatte er mit Ewen zusammengearbeitet? Warum dachte er gerade jetzt an ihn? In den nächsten Tagen würde er seinen alten Freund einmal wieder anrufen und ein kleines Schwätzchen halten.
Yannick Detru liebte gutes Essen, was an seiner Statur abzulesen war. Er war noch ein attraktiver Mann, trotz seiner grauen Haare, mit dunklem Teint, mit einem ovalen Gesicht, großen hellblauen Augen, einer wohlgeformten Nase und ebensolchen Augenbrauen. Yannick erschien stets korrekt gekleidet im Kommissariat, obwohl er keine Frau hatte, die darauf achtete. Er war Single, daran würde sich auch in den nächsten Jahren nichts ändern.
Yannick arbeitete gewissenhaft und hoffte, dass er die Ergebnisse der DNA-Analyse bis zum nächsten Morgen vorliegen hatte. Er war selbst gespannt auf das Ergebnis. Vielleicht gab es die DNA ja bereits in einer Datenbank. Nachdem er alles für die Analyse in die Wege geleitet hatte ging er wieder zum Skelett zurück. Seiner Meinung nach handelte es sich um einen jüngeren Mann. Die Gelenke zeigten keinerlei Abnutzungsspuren oder Kalkeinlagerungen. Auch der Knorpel, soweit noch vorhanden, passte zu einem jüngeren Menschen. Die Knochen an einem Fuß waren deformiert, das war ihm nicht sofort aufgefallen. Der junge Mann hatte einen Klumpfuß, der nicht behandelt worden war. Er hatte bestimmt besonderes Schuhwerk getragen. Vielleicht hatte Dustin Überreste davon gefunden. Wenn sie Glück hatten, dann konnten sie feststellen, bei welchem orthopädischen Schumacher die Schuhe angefertigt worden waren. Am Ende seiner Untersuchung war er sicher, dass die menschlichen Überreste zu einem jungen Mann von 20 bis 30 Jahren gehörten. Eine wichtige Erkenntnis für die Kommissarinnen.
Yannick ging an seinen Schreibtisch und wählte Dustins Nummer.
„Na du Leichenfledderer, hast du keine Lust mehr an den Knochen herumzuspielen?“ Dustin zog Yannick auf. Und, obwohl sie sich schon seit mehr als zwanzig Jahren kannten, fiel Yannick immer noch auf Dustin herein.
„Was heißt hier Leichenfledderer? Ich gehe absolut wissenschaftlich vor.“
„Ja, ja, Yannick, nur keine Aufregung. Was kann ich für dich tun? Es ist äußerst selten, dass du mich anrufst.“
„Ich habe eine Frage, hast du Schuhe sichergestellt? Der Knochenmann hatte einen Klumpfuß, was spezielles Schuhwerk erfordert.“
„Ich bin noch nicht mit allen Fundstücken durch. Warte kurz, ich sehe nach.“
Es dauerte nur wenige Minuten, dann war Dustin wieder am Apparat.
„Yannick, der Mann hatte solche Schuhe. Die Schuhe scheinen speziell angefertigt worden zu sein.“
„Sehr gut, wenn du jetzt noch rausfindest wer die Schuhe gemacht hat, dann können sich unsere hübschen Frauen über die Arbeitserleichterung freuen.“
„Das sollen die selber machen, Yannick, warum soll ich das herausfinden?“
„Weil manche Schuhmacher an der Innenseite der Schuhe ihren Namen anbringen.“
„Okay, dann habe ich tatsächlich etwas von einem Pathologen gelernt. Ich werde mir die Schuhe sofort vornehmen. Hoffentlich hat der Aufenthalt im Erdreich dem Leder nicht zu stark zugesetzt.“
Yannick war zufrieden.
Am nächsten Morgen fand Anaïk einen ersten Bericht von Dustin auf dem Schreibtisch vor. Sie überflog die zwei Seiten, auf denen Dustin die Ergebnisse seiner Untersuchung der gefundenen Gegenstände beschrieb.
„Bonjour, wünsche ich“, schallte es aus dem Flur. Im Türrahmen stand Yannick mit einem Schnellhefter. Üblicherweise pflegte er darin seine Berichte zu senden.
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