„Monsieur Bolloc´h, wenn Sie ein Interesse daran haben, dass der Mörder ihres Enkels ins Gefängnis kommt, sollten Sie offen mit uns sprechen. Wir haben in Mewens Portemonnaie einen Zettel gefunden.“
Anaïk öffnete ihre Handtasche und nahm die mitgenommene Plastiktüte heraus. Dann trat sie näher an Monsieur Bolloc´h heran und hielt ihm die Notiz vors Gesicht.
„Bitte sehen Sie sich diese Notiz an.“
Heneg Bolloc´h blickte auf das Blatt.
„Ohne meine Brille kann ich leider nichts sehen. Warten Sie.“
Heneg Bolloc´h griff zur Fensterbank, auf der seine Brille mit den dicken Gläsern lag und setzte sie sich auf die Nase.
„So jetzt geht es besser“, sagte er und sah auf den Notizzettel, den Anaïk ihm immer noch hinhielt. Jetzt konnte er die Notiz lesen.
Ca. 160 Meter von dem Quai der Fähre. Markierung an Mauer, Kreuz im Stein, 60 – 80 cm tief, in Ölpapier eingepackt
Anaïk beobachtete ihn. Seine Augen hafteten an dem Zettel, er konnte den Blick nicht abwenden. Dann nickte er ein wenig mit dem Kopf. Heneg Bolloc´h nahm die Brille wieder ab und sah ihr in die Augen.
„Ja, das habe ich Mewen gesagt, und er hat sich das wohl aufgeschrieben. Sie können mich festnehmen und ins Gefängnis bringen. Ohne Mewen macht das alles sowieso keinen Sinn mehr.“
„Was meinen Sie, Monsieur Bolloc´h?“
Heneg Bolloc´h lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück und begann leicht zu schaukeln.
„Ich bin 80 Jahre alt, mein Leben geht langsam dem Ende entgegen. Ob ich noch einige Zeit im Gefängnis sitze oder nicht spielt für mich keine Rolle mehr. Ich sage Ihnen jetzt alles was ich weiß, aber finden Sie den Mörder meines Enkels.
Es ist 2001 gewesen, ich war damals 65 Jahre alt und wieder einmal ziemlich abgebrannt. Sie müssen wissen, dass ich Schweißer gewesen bin auf der Werft in Lorient. Als dort die Aufträge ausgeblieben sind, weil die Reeder ihre neuen Schiffe lieber in Südkorea oder auf Taiwan geordert haben, habe ich von einem Tag auf den anderen meine Arbeit verloren. Ich hatte nicht vor meinem Sohn auf der Tasche zu liegen, der selber nicht viel verdient hat. Einige Jahre habe ich noch Arbeitslosengeld erhalten, danach eine mickrige Rente. Da traf es sich ganz gut, dass ich in einer Kneipe zwei Männer kennengelernt habe, die ihren Lebensunterhalt mit kleinen Einbrüchen und Überfällen finanzierten. Die hatten von einem Bankangestellten der BNP Paribas in Quimper erfahren, dass eine größere Lieferung Bargeld in der Bank erwartet wurde. Sie können sich vielleicht noch an die Einführung des Euro erinnern? Eine erste Lieferung der neuen Banknoten sollte also in der Bank eintreffen. Alles war streng geheim, niemand durfte davon etwas wissen. Die Beiden hatten von dem Angestellten der Bank den Tipp erhalten. Der Angestellte wollte 10% der Beute haben. Den Rest durften sie unter sich aufteilen. Die beiden Männer waren auf der Suche nach einem dritten Mann, der ihnen bei der Sache helfen würde. Sie hatten einen Plan ausgearbeitet und bereits Waffen besorgt. Ich habe nicht lange überlegt und ihnen meine Hilfe zugesagt. Wir haben die Bank überfallen. Bei dem Überfall hat einer meiner Komplizen einen Wachmann erschossen, gerade als sie die Bank mit der Beute verlassen wollten. Wir haben die Beute aufgeteilt und der Angestellte hat seine 10% erhalten. Danach habe ich die zwei aus den Augen verloren. Es war abgemacht, dass wir das Geld nicht sofort ausgeben. Mein Anteil waren 1,8 Millionen Euro. Ich habe mein Geld in der Ville Close vergraben. Ich hatte die Hoffnung, eines Tages in der Altstadt von Concarneau eine Wohnung kaufen zu können, damit wäre das Geld dann immer in meiner Nähe und ich könnte mir davon holen, falls ich welches brauchte. Ich habe mir nach einer gewissen Zeit von meinen 1,8 Millionen 300.000 genommen und mir für 200.000 Euro dieses kleine Studio hier gekauft. Die restliche Summe habe ich wieder an derselben Stelle vergraben.
Mein Sohn heiratete später und zog nach Beuzec Conq. Meine Frau starb mit 48 Jahren an Krebs. Für meinen Lebensunterhalt brauchte ich nicht viel, ich kam recht gut mit dem Geld von der Stütze aus. Wenn ich mir etwas Besonderes gönnen wollte, dann hatte ich immer noch das Geld von der Beute. Mein Geld nahm nur langsam ab. Monate nach der Einführung des Euro habe ich die mir verbliebene Summe von 100.000 Euro auf verschiedene Konten verteilt. Der Rest der Beute, es waren immerhin noch 1,5 Millionen Euro, blieb vergraben. Mewen hatte es in seinem kurzen Leben nicht einfach. Ich wollte ihm mit dem Geld einen Start in eine bessere Zukunft ermöglichen. Also habe ich ihm von dem Banküberfall erzählt und ihm genau beschrieben, wo er das Geld finden kann. Ich habe ihm gesagt, dass er nicht sofort die ganze Summe ausgeben soll, das würde auffallen. Er sollte immer nur so viel davon nehmen wie er unbedingt brauchte. Den Rest sollte er in einem sicheren Versteck verwahren. Ich habe ihm auch gesagt, dass er das Geld alleine und möglichst nach Mitternacht aus dem Versteck holen soll damit ihn niemand beobachtet. Die Ville Close ist nach Mitternacht menschenleer, da kann man in aller Ruhe graben. Ich kann mir vorstellen, dass er beim Ausgraben des Geldes überfallen worden ist. So, das ist meine Geschichte. Jetzt dürfen Sie mich verhaften und ins Gefängnis bringen.“
„Monsieur Bolloc´h, das ist nicht unsere Aufgabe. Wir werden die Information an das Raubdezernat weitergeben. Sie werden dann von unseren Kollegen hören. Ob Sie ins Gefängnis müssen wird ein Gericht entscheiden. Die Tat liegt zwar schon lange zurück, aber leider ist sie noch nicht verjährt.“
„Ich bin bereit, eine Strafe für meine Tat zu erhalten.“
Henan Bolloc´h hatte aufgehört zu schaukeln.
„Haben Sie etwas mit der Tötung des Wachmanns zu tun?“, fragte Anaïk.
„Nein, das habe ich nicht. Der Tod des Wachmanns ist aufgeklärt worden. Mein damaliger Komplize hat die Tat gestanden. Mich haben die beiden, die gefasst worden sind, weil sie zu viel von dem Geld ausgegeben haben, nie verpfiffen. Ganovenehre, Sie wissen schon!“ Henan zwinkerte mit dem rechten Auge.
„Dann bedanken wir uns für das Gespräch, Monsieur Bolloc´h“, sagte Anaïk und stand auf. Auch Monique, die während der ganzen Zeit zugehört hatte, erhob sich. Die Kommissarinnen verabschiedeten sich von dem alten Mann. Henan Bolloc´h lehnte sich in seinem Schaukelstuhl zurück und nickte ihnen zu. Wären sie länger geblieben, so hätten sie zusehen können, wie der Mann innerlich zusammenbrach. Mewen war seine Hoffnung gewesen, die letzten Jahre seines Lebens nicht alleine verbringen zu müssen. Diese Hoffnung war in den letzten Minuten erloschen.
Das Wetter hatte ein Einsehen mit den beiden Kommissarinnen. Ein wolkenloser, strahlend blauer Himmel empfing sie beim Verlassen der Récidence Vauban. Sie verließen die Ville Close durch die Rue Vauban, die zwar immer noch recht spärlich besucht war, aber immerhin hatten einige Geschäfte ihre Kleiderständer bereits wieder vor die Türen gestellt.
„Das Gespräch mit Bolloc´h hat sich gelohnt. Jetzt wissen wir definitiv, dass in dem Grab eine Menge Geld gewesen ist. Das könnte das Motiv für den Mord sein. Dann suchen wir also einen Raubmörder“, meinte Monique als sie durch die Gasse zum Ausgang der Altstadt gingen.
„Das Motiv für den Mord wird das Geld gewesen sein. Da stimme ich dir zu. Und wie finden wir den Täter? Immerhin liegt die Tat mindestens 19 Monate zurück. Wir haben bis jetzt keinerlei DNA oder Fingerabdrücke des Mörders gefunden, wir haben keine Zeugen, keine Hinweise, wo sollen wir suchen?“
„Vielleicht gibt es doch einen Hinweis“, meinte Monique und sah Anaïk verschmitzt an.“
„Was meinst du?“
„Lass uns herausfinden, ob die Banknoten für die Bargeldlieferung registriert worden sind. Wenn das der Fall ist, könnten wir gezielt nach Euroscheinen suchen, die in den letzten Monaten aus der Beute in Umlauf gebracht worden sind.“
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