„Gleich unter der Baggerschaufel. Ich habe gerade die nächste Bodenschicht abheben wollen, da habe ich die Knochen entdeckt.“
Anaïk und Monique zogen sich Plastikhauben über ihre Schuhe und traten näher an den Fundort. Das Skelett war deutlich zu sehen. Kein Zweifel, es sah nach einem Verbrechen aus, schon von oben konnte Anaïk den eingeschlagenen Schädel erkennen. Dustin trat mit seinem Alukoffer an den Graben.
„Na, das sieht ja mal ganz anders aus als die üblichen Tatorte“, meinte er und wollte in den Graben steigen.
„Kannst du bitte warten bis ich mir das Opfer angesehen habe?“, hörten die drei jetzt eine Stimme hinter sich. Yannick Detru war eingetroffen und kam rasch auf sie zu.
„Selbstverständlich Monsieur Detru“, scherzte Dustin und winkte Yannick an sich vorbei.
Yannick stieg in den Graben. Nach ein paar Minuten wandte er sich seinen Kollegen zu.
„So wie es aussieht, haben wir es mit einem Verbrechen zu tun!“
„So weit war ich auch schon“, meinte Anaïk und sah gespannt auf Yannick.
„Das Opfer ist erschlagen worden. Dem Loch im Schädel nach zu urteilen vermutlich mit einem scharfkantigen Gegenstand. An den Knochen finden sich noch kleine Reste von organischem Material. Vielleicht reicht es aus um eine DNA zu erhalten. Sicher bin ich nicht. Ich schätze, dass der Leichnam höchstens 17 bis 19 Monate hier liegt. Die Haare und Nägel sind noch nicht völlig zersetzt.“
„Das bedeutet, dass unsere Leiche vor höchstens zwei Jahren ermordet worden ist?“
„Wie ich schon gesagt habe, Anaïk, eher zwischen einem und eineinhalb Jahren. Genaueres kann ich euch erst sagen wenn ich mit meinen Untersuchungen fertig bin, das kann aber diesmal deutlich länger dauern.“
„Es ist doch schon einmal ein Anhaltspunkt. Wir suchen nach einem Menschen, der inzwischen seit über einem Jahr vermisst wird. Vielleicht findet Dustin ja noch weitere Hinweise in dem Grab oder in dem Aushubmaterial auf der Plane.“ Er zeigte auf das Erdreich, das der Arbeiter auf eine ausgebreitete Plastikplane geworfen hatte.
„Es ist doch möglich, dass darin noch Reste von seiner Kleidung oder anderen Gegenständen verborgen sind.“
„Lass dich nicht von der Arbeit abhalten, Dustin“, meinte Anaïk und wandte sich dem Baggerfahrer zu.
„Sie haben das Skelett freigelegt?“
„Ja! Ich sagte Ihnen bereits, ich war dabei den Graben auszuheben, damit wir an die tiefergelegenen Mauerschichten kommen können. Von der Hafenseite kann man nämlich deutlich sehen, dass die Mauer im unteren Bereich stark beschädigt ist. Wir gehen deswegen von der Innenseite in die Tiefe, die Mauer ist hier mit Erde stabilisiert worden. In den letzten zwei- oder dreihundert Jahren sind in diesem Bereich Bäume gewachsen, das Wurzelwerk hat sich bis zur Mauer ausgebreitet und sie beschädigt.“
„Haben Sie zu Beginn der Arbeiten den Eindruck gehabt, dass der Boden hier aufgegraben worden ist?“
„Aufgegraben? Nein! Wie auch! Wenn man mit einem Bagger in den Boden geht kann man nicht feststellen, ob die Erde weicher oder fester ist. Da müssten Sie besser meine Schaufel fragen.“ Francis Merer grinste über seinen Witz.
„Danke, das wars fürs Erste“, antwortete Anaïk und sah Monique an.
„Hier können wir im Moment nichts mehr machen, lass uns nach Quimper zurückfahren.“
Die beiden Kommissarinnen wandten sich um und gingen zur Absperrung zurück. Ein etwa 50-jähriger und 100 kg schwerer Mann mit dunkelgrauem Schnurrbart, rundlichem Gesicht und einer halben Glatze kam auf die beiden Kommissarinnen zu.
„Bonjour Mesdames, Yann Goarec mein Name. Ich bin der Unternehmer, der die Arbeiten hier an der Mauer ausführt. Ich habe von meinem Arbeiter Francis gehört, dass ein Skelett gefunden worden ist. Ich möchte Sie in ihrer Arbeit unterstützen aber unsere Arbeiten dürfen keine langen Unterbrechungen haben, meine Termine mit der Stadt müssen eingehalten werden. Wir müssen vor der neuen Saison fertig sein. Daher meine Frage, wie lange werden wir die Arbeiten hier unterbrechen müssen?“
„Bonjour Monsieur Goarec, ich kann das Anliegen sehr gut verstehen, im Augenblick können wir diese Frage aber nicht beantworten. Wir haben erst vor wenigen Minuten mit unserer Arbeit begonnen. Bevor die sterblichen Überreste geborgen sind und das gesamte Umfeld durchsucht worden ist können wir die Baustelle nicht freigeben. Ich gehe schon davon aus, dass wir hier ein oder zwei Tage benötigen um alles zu sichern.“
„Zwei Tage? Geht es nicht etwas schneller?“
„Wie ich schon gesagt habe, wir müssen alles genau durchsuchen. Vielleicht geht es ja auch schneller, versprechen kann ich Ihnen aber nichts.“
„Nun ja, dann hoffe ich, dass Sie es schneller schaffen. Au revoir.“ Damit verließ Yann Goarec die beiden Kommissarinnen und ging zu seinem Vorarbeiter.
„Tanguy, die beiden Kommissarinnen haben mir gesagt, dass die Arbeiten an dieser Stelle für vielleicht zwei Tage ruhen müssen. Können wir solange an einer anderen Stelle weiterarbeiten?“
„Wir können die Ausbesserungen an der Mauer an der Porte aux Vins beginnen. Die Arbeiten haben wir uns zwar für den Schluss aufgehoben, weil sie zeitlich besser zu kalkulieren sind, aber es wird kein Problem sein sie vorzuziehen.“
„Gut Tanguy, dann geht ihr am besten sofort zur Porte aux Vins, ich veranlasse, dass euch alles benötigte Material umgehend gebracht wird. Nur gut, dass wir die Steine schon seit Längerem auf Lager haben.“
Yann Goarec griff zu seinem Mobiltelefon und rief den Lagermeister in Trégunc an. Er orderte den Transport des Materials für die Ausbesserungen an der Mauer der Porte aux Vins.
Anaïk Bruel und Monique Dupont standen vor der leeren Pinnwand und begannen damit, die ersten Informationen anzubringen.
„Wir haben ein Skelett. Der oder die Unbekannte liegt seit höchstens zwei Jahren dort vergraben. Das heißt, wir suchen nach einem Menschen, der in den letzten zwei Jahren verschwunden ist. Alle vorher verschwundenen Personen können wir ausschließen. Ich werde mich sofort mit der Vermisstenabteilung in Verbindung setzten und nachfragen.“
„Der zwischen 17 und maximal 20 Monaten verschwunden ist“, korrigierte Monique.
„Du hast natürlich recht, Monique, unsere Leiche liegt ja erst seit höchstens eineinhalb Jahren an dieser Stelle. Sobald Yannick uns sagen kann, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt können wir die Suche weiter einengen. Ich überlege schon die ganze Zeit, wie jemand auf die Idee kommen kann, in der Ville Close eine Leiche zu vergraben?“
„Die Frage habe ich mir auch gestellt. Ein Grab in der Ville Close kann doch schneller gefunden werden als ein Grab in einem Wald in der Umgebung. Abgesehen davon, dass es doch auffällt, wenn man hier anfängt zu graben. Ich kann mir nur vorstellen, dass unser Mörder den Mord hier begangen hat und den Leichnam sofort verscharren wollte. Damit könnten wir die Tat auf die Stunden nach Mitternacht eingrenzen. Vorher sind ja immer Menschen in der Ville Close unterwegs. Außer in den Wintermonaten, da dürfte es viel früher menschenleer sein.“
„Ja, Anaïk, das sehe ich auch so, aber hatte der Mann sofort eine Schaufel zur Hand? Das kann bedeuten, dass der Täter hier in der Ville Close wohnt und sich eine Schaufel schnell besorgen konnte, oder hat er eine Schaufel mitgebracht?“
„Lass uns alles zusammentragen, was wissen wir bisher oder nehmen es an? Vielleicht ergibt sich daraus ja schon ein Muster. Also, da ist das Skelett, gefunden an der Mauer, ca. 180 Meter von der Anlegestelle der Fähre entfernt, die nach Le Passage Lanriec fährt.“
Anaïk malte einen Kreis und schrieb Opfer in die Mitte. Danach zeichnete sie eine kleine Skizze von der Ville Close und markierte darin den Fundort. Auf der linken Seite notierten sie ihre Fragen. Warum in der Ville Close? Warum das Grab an der Mauer? Woher hatte der Täter das Werkzeug? Wie konnte er das Grab in der Kürze der Zeit ausheben?
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