»Schau nicht hin. Das muss eine von Tornaks Tränen sein«, flüsterte Wulfhelm eindringlich.
Die Kriegerin blickte Wulfhelm verständnislos an und betrachte dann wieder fasziniert den Stein. Geifer rann ihr aus dem Mundwinkel. Wulfhelm spürte den bösen Einfluss des Steines, auch wenn er ihn nicht ansah. Jetzt wusste er wenigstens, warum die Hexe auf einmal so böse geworden war, wie der Kobold es erzählt hatte. Er musste schnell etwas unternehmen. Er war zusammen mit einer Frau eingesperrt, die sich nach und nach in ein mordlüsternes Ungetüm verwandelte. Nicht dass man dafür zwangsläufig solch einen Diamanten brauchte, aber Wulfhelm hatte seine neue Freundin noch nie so gesehen. Der Käfig war groß genug, dass sich Wulfhelm hinter Harika bewegen konnte, die regungslos vor den Gitterstäben hockte und vor sich hin knurrte. Wulfhelm bemühte sich, den Diamanten nicht anzusehen, obwohl er spürte, wie sich der böse Einfluss weiter in seiner Seele ausbreitete. Er zog ein Taschentuch aus seiner Robe und band es Harika um die Augen. Die Kriegerin blieb einige Sekunden still sitzen, dann fing sie an zu wüten und zu toben. Sie schlug wild um sich und wischte Wulfhelm mit einer Hand aus dem Weg. Der Jungzauberer flog quer durch den Käfig und prallte ziemlich unsanft gegen die Gitterstäbe. Die Luft entwich seinen Lungen und er beschloss, erst einmal liegen zu bleiben.
»Hört gefälligst mit dem Theater auf! Was ist das denn für ein Benehmen?«, keifte die Hexe und schwang drohend einen Holzlöffel.
Harika riss sich das Taschentuch vom Kopf und rüttelte mit aller Kraft an den Gitterstäben. Wulfhelm blickte sich verzweifelt um. Nicht weit entfernt hing ein Brett an der Wand, an dem Löffel, Schaber und eine Bratpfanne hingen. Er langte durch die Gitterstäbe und griff nach der Pfanne. Harikas volle Aufmerksamkeit galt immer noch den Gitterstäben, also hielt Wulfhelm den Zeitpunkt für günstig, die Berserkerin zu beruhigen. Die Pfanne gab ein dumpfes »GONG« von sich, als sie auf Harikas Kopf traf. Mit einem seligen Lächeln und verdrehten Augen ging sie zu Boden. Es war nicht Wulfs Art Frauen zu schlagen (oder überhaupt jemanden), aber er tröstete sich damit, dass es nur zu ihrem Besten war.
»Ruhe verdammt! Wie soll ich mich bei diesem Krach auf mein Kochbuch konzentrieren?« Die Hexe trat an den Käfig heran und musterte ihre Beute.
»Ihr seid etwas mager«, diagnostizierte sie.
»Soll das heißen, dass sie keine Pastete aus uns machen?«, fragte Wulfhelm mit einem hoffnungsvollen Unterton in der Stimme.
»Quatsch, mein Cholesterinspiegel ist sowieso zu hoch. Wenn der Ofen heiß genug ist, kann es losgehen.« Um ihre Worte zu bekräftigen, deutete die alte Frau auf den Ofen.
»Heiß genug? Wenn man in das Ding einen Kuchen stellt, ist er in ein paar Sekunden verbrannt.« Wulf hatte das Gefühl, das die Hexe nicht besonders viel vom Kochen verstand.
»Ich werde dir das mal erklären, Junge. Dieser modische Küchenofen ist aus sehr dicken Steinplatten zusammengesetzt. Hier unten ist die Brennkammer, dort wird das Holz oder die Kohle eingefüllt. Zusätzlich zu einem magischen Brennstoff. Um aber oben in der Backröhre eine ausreichende Temperatur zu erreichen, müssen die Steinplatten durchgewärmt werden. Das würde mit einem normalen Feuer ewig dauern, daher muss in der Brennkammer richtig Dampf gemacht werden. Wenn der Ofen dann richtig warm ist, kann man das Feuer ruhig ausgehen lassen. Die Nachwärme, die in den Steinen gespeichert ist, hält einige Tage.« Die Hexe beendete ihren Vortrag und blätterte wieder in ihrem Kochbuch. Wulfhelm kam eine grandiose Idee, aber für seinen Plan musste der Ofen so heiß wie möglich sein.
»Vielleicht solltet ihr noch etwas Holz nachwerfen, dann geht es schneller.«
»Du kannst es wohl kaum erwarten, wie?«, kicherte die Hexe. »Aber ich will dir den Gefallen tun, ich kriege langsam Hunger.«
Die Hexe trat an den Ofen und nahm ein dickes Ledertuch, um die Brennkammer zu öffnen. Als das Tuch die Steintür berührte, zischte es, eine feine Rauchsäule stieg auf und es roch nach verbranntem Leder. Die Hexe griff ein paar Holzscheite von einem kleinen Stapel neben dem Ofen. Wulfhelm murmelte die Formel für den Spruch Levitation von kleinen Gegenständen und konzentrierte sich auf den Diamanten. Sofort spürte er unschöne Gedanken in sich aufsteigen, aber er musste jetzt durchhalten. Während die Hexe das Holz aufsammelte, ließ er den Edelstein zum Ofen schweben, direkt in die Brennkammer. Er hoffte, dass der Ofen heiß genug war, um seinen Plan aufgehen zu lassen. Tatsächlich, der Diamant fing an zu glühen und begann zu verbrennen. Von wegen, »ein Diamant ist unvergänglich«. Schon früh hatte Wulfhelm von Martor (dem Wissenden) gelernt, dass ein Diamant im Grunde nichts anderes als ein Stück Kohle war, das unter großem Druck und Wärme zu einem Edelstein geworden war. Martor hatte viele Versuche durchgeführt, um diesen Effekt auf künstliche Weise zu erzielen und vor allem schneller, denn in der Natur dauerte so etwas Tausende von Jahren. Wulfhelm war sich sicher, dass hinter diesen Versuchen weniger der wissenschaftliche Gedanke, als vielmehr die Gier nach Reichtum seines Lehrherren stand. Andere Zauberer versuchten Blei in Gold zu verwandeln, davon hatte Martor (der Skeptische) überhaupt nichts gehalten. Blei war viel teurer als Kohle und Diamanten wiederum mehr wert wie Gold, die Gewinnspanne war bei seiner Methode also viel größer.
Die Hexe hatte von Wulfhelms Aktion nichts mitbekommen und richtete sich gerade wieder auf. Sie warf das Holz in die Brennkammer und schloss die Tür. Jetzt konnte er nur noch abwarten und beobachten, ob sich bei der Hexe irgendwelche Veränderungen abzeichneten. Harika lag immer noch in Tiefschlaf, aber Wulfhelm spürte wie das Böse, das seinen Geist umklammert hielt, langsam vom Feld schlich. Die Hexe blätterte derweil in ihrem Kochbuch und blickte mit steigernder Verwunderung und Abscheu auf ihre kannibalischen Rezepte.
Kapitel 6: die nette Omi von nebenan
»Iiih, das ist ja eklig«, sagte die Hexe und schüttelte sich.
»Wo habt ihr denn diesen Dreck her?« Sie warf das Buch angewidert in die Ecke. Wulfhelm entschloss sich, erst einmal schweigend abzuwarten, wie die Dinge sich entwickelten.
»Was ist passiert?«, stöhnte Harika, die gerade aus dem Wunderland zurückkehrte.
Wulfhelm winkte Schweigen gebietend ab und konzentrierte sich wieder auf die Hexe.
»He, was macht ihr in diesem Käfig? So etwas, ich kann mich an gar nichts erinnern ... Wartet, ich lasse euch erst mal hinaus und dann setze ich einen schönen Kräutertee auf.« Sie nestelte eifrig am Schloss des Käfigs herum.
»Kinder setzt euch doch, ich habe ja so selten Besuch. Ach ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Myrna und wer seid ihr? Wo kommt ihr her? Ihr müsst mir alles erzählen.« Während sie munter vor sich herplapperte und über das Wetter und ihr Leben im Wald tratschte, bereitete sie einen aromatisch duftenden Tee zu und holte Kekse aus einem kleinen Vorratsschrank. Wulfhelm und Harika sahen sich unterdessen unsicher an. Der Zauberstab lag immer noch auf dem Tisch und Wulfhelm erinnerte sich der Ausrüstung, die immer noch in ihrer Deckung vor dem Haus lag. Er entschuldigte sich kurz, um sie zu holen.
Als er vor die Tür der Hütte trat, stürzten die Gedanken über ihm zusammen. War das nun ein Trick oder hatte er es geschafft? Harika war allein mit der unheimlichen Frau, also beeilte er sich, seinen Rucksack zu holen. Als er wieder auf dem Rückweg zur Hütte war, bemerkte er zwei Orks, die auf einem Baum hockten und vergeblich versuchten, sich wie Äste zu benehmen. Sie hatten die Arme ausgebreitet und gaben von Zeit zu Zeit ein leises Rauschen von sich. Es wirkte einfach lächerlich und grotesk. Wulfhelm signalisierte ihnen, dass alles nach Plan verlief, und stapfte zurück zur Tür.
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