Stefan Jürgens - Von der Magie zur Mystik

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"In 25 Jahren seelsorglicher Praxis ist mir bei vielen Menschen nur wenig Glaube begegnet, dafür aber viel Magie; wenig Gottvertrauen, dafür aber viel Angst; wenig Entwicklung, dafür aber viel Tradition", sagt Stefan Jürgens. Viele Christen leben ihren Glauben so, als solle Gott durch fromme Leistung gnädig gestimmt werden.
Stefan Jürgens erzählt, wie er selbst zu einem erwachsenen Glauben gefunden hat: nicht, weil er gut ist, sondern weil Gott gut ist. Er folgt den Spuren geistlicher Entwicklung, wie sie auch in der Bibel ihren Ausdruck finden. Er fragt nach den tieferen Ursachen für das Verharren im Kinderglauben. Entwickelte Spiritualität und Identität zeigt er als entscheidende Schritte zu einem erwachsenen Glauben auf, der nicht fordert, sondern fördert, der im Alltag trägt und der letztlich zur persönlichen Freiheit führt. Ein neuer Blick auf die Kirche und auf die wesentlichen Inhalte des Christentums macht dieses leicht lesbare Buch zu einem anregenden Grundkurs des Glaubens.

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Stefan Jürgens

Von der Magie zur Mystik

Der Weg zur Freiheit im Glauben

Patmos Verlag

Inhalt

Vorwort

Von Kindern und Zwergen

Geistliche Entwicklung in der Bibel

Erfahrung und Deutung

Altes Testament

Neues Testament

Negative Theologie: die analoge Rede von Gott

Entwicklung im Alten Testament

Entwicklung im Neuen Testament

Was den Kinder- vom Erwachsenenglauben unterscheidet

Beten und Bitten

Sakramente und Sakramentalien

Religion versus Glauben

Engel und Schutzengel

Teufel und Dämonen

Himmel oder Hölle

Maria mit dem Kinde lieb

Magische Orte und heilige Zeiten

Zeichen und Wunder

Ursachen für das Verharren im Kinderglauben

Misstrauen und Minderwertigkeitsgefühl

Fehlende Reflexionsbereitschaft

Klerikalismus

Wege zum erwachsenen Glauben

Spiritualität und Identität

Pastorale Wegmarken

Es geht um Freiheit

Kindlich, nicht kindisch

Österlich leben

Buße und Beichte

Hierarchie

Kontemplation

Das Beispiel Bonhoeffer

Konkrete Schritte

Einladung

Über den Autor

Über das Buch

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort

Das Thema »Von der Magie zur Mystik« zieht sich wie ein roter Faden durch mein seelsorgliches Handeln. Bereits die Glaubens- und Kirchenerfahrung meiner Kindheit und Jugend war davon geprägt. Ich habe Menschen erlebt, getaufte Christinnen und Christen, die im Glauben nicht reifen konnten, die zeit­lebens in religiösen Kinderschuhen steckten und deshalb an magischen, meistens angstbesetzten Vorstellungen hingen, ja, diese sogar vehement als den angeblich wahren Glauben verteidigten. Seitens der Gemeindeleitung wurde wenig dagegen unternommen, da die kirchlichen Machtstrukturen auf Autorität und Gehorsam angelegt waren.

Erst während des Theologiestudiums bin ich meinem eigenen Kinderglauben entwachsen. Bei einer Vorlesung über den Römerbrief des Apostels Paulus ist mir aufgegangen: Gott liebt mich nicht, weil ich gut bin, sondern weil er gut ist. Mit einem Mal ist mir klargeworden, dass mein kindlicher Glaube nicht nur naiv und magisch, sondern auch eine finstere Leistungs­religion gewesen war. Hatte ich bei meinen Eltern gelernt, lieb und artig zu sein, so war die Religiosität meiner Heimatpfarrei darauf angelegt, Gott – oder wen man dafür hielt – durch fromme Leistung gnädig zu stimmen. Ich wurde zu Hause mit unendlicher Geborgenheit beschenkt, wodurch ein starkes Urvertrauen entstehen und sich mein Glaube trotz eines gewissen Jesus-Defizits entwickeln konnte. Dieses Defizit bestand darin, dass der Gott meiner Kindertage im Grunde genommen eine Schutzgottheit war, »Herrgott« genannt, der gemeinsam mit dem »lieben Heiland« die Aufgabe hatte, angepasstes Verhalten mit persönlichen Vorteilen zu vergelten. In der Pfarrei glaubte man ebenfalls nicht an Jesus Christus und die befreiende ­Botschaft seines Evangeliums, sondern an die Autorität des Pfarrers.

In 25 Jahren seelsorglicher Praxis ist mir bei vielen Menschen nur wenig Glaube begegnet, dafür aber viel Magie; wenig Gottvertrauen, dafür aber viel Angst; wenig Entwicklung, dafür aber viel Tradition. Ich behaupte, stets die frohe Botschaft, das Evangelium, gepredigt zu haben; dennoch entdecke ich gerade bei vielen älteren Menschen ein Bestehen auf der alten Angst, ein Verharren in kindlich-naiven Vorstellungen von der Bibel, den Sakramenten und der Kirche. Selbst junge Menschen, die ansonsten mitten im Leben stehen, beharren auf magischen, geradezu grotesken Ansichten. Theologische Aufklärung jedenfalls wird immer noch scharf bekämpft, ja, die gesamte Theologie steht bei vielen Christen unter dem Generalverdacht der Häresie. Wer beispielsweise die Bibel historisch-kritisch auslegt, gilt oftmals als nicht fromm genug, da er ja »nicht mehr alles glaubt«, was angeblich darin geschrieben steht.

Ein Großteil der Christen, so scheint mir, glaubt an einen Gott, den es gar nicht gibt, nämlich an das mit der jeweils herrschenden (weltlichen und auch kirchlichen) Macht verwechselbare und von der Religionskritik längst als Projektion entlarvte Über-Ich, das kontrolliert und beschützt, belohnt und bestraft, verflucht und segnet. Das ist wohl der Grund, warum mittlerweile die meisten Christen ihren Glauben mitsamt ihrer ambivalenten Kirchenerfahrung loswerden wollen, warum sie ihn einfach vergessen oder bewusst verdrängen. An den Vater Jesu Christi, der herausfordert zu entschiedener Nachfolge und leidenschaftlicher Liebe, glauben offenkundig nur die wenigsten.

Mit einem Wort: Die Magie hat es leicht, denn jeder Mensch ist von Natur aus religiös. Der Glaube aber hat es schwer, denn er braucht, um wachsen und reifen zu können, nicht nur fromme Gefühle, sondern intellektuelle Anstrengung, nicht nur das Mitmachen von Ritualen, sondern deren kritische Reflexion – psychologisch gesprochen: nicht nur Regression, sondern vor allem Individuation. Magisch empfinden faktisch zunächst alle Menschen; mystisch sind sie erst dann, wenn sie sich um eine verbindliche, aufgeklärte und handlungsbereite Spiritualität bemühen: Ora et labora. Interessant ist, dass Menschen gerade im Ringen um einen reifenden Glauben jeden Leistungsgedanken über Bord werfen und sich von Gott beschenken lassen können wie ein Kind. Ihr Glaube wird von selbst zur Nachfolge Christi; sie können gar nicht mehr anders, als auf seine Liebe und Hingabe zu antworten.

Ich bin davon überzeugt, dass die Weltgeschichte anders verlaufen wäre, wenn es mehr gereifte und erwachsen gewordene Christinnen und Christen gegeben hätte. Wie hätten sonst zwei Weltkriege von einem Land ausgehen können, dessen Kirchen zur selben Zeit noch zum Bersten voll waren? Nur wenige waren damals couragiert, reflektiert, mutig; die meisten waren gefangen in alten Gehorsamsstrukturen oder haben einfach weggeschaut. Ich bin davon überzeugt, dass die Kirche reformfähiger wäre, wenn die leitenden Persönlichkeiten wirklich erwachsen wären. Die Zugangsbedingungen zum Amt beispielsweise verhindern geradezu, dass wirklich gereifte Menschen in hohe Ämter kommen. Durch den Pflichtzölibat werden Beziehungsunfähigkeit und Infantilität faktisch gefördert und spiritualisiert. Die Auftritte mancher Kirchenoberer jedenfalls machen einen durchaus kindlich-selbstverliebten Eindruck, wenn es hauptsächlich darum geht, Papa Papst und Mutter Kirche zu gefallen; man regiert autoritär, tut dabei fromm und zieht eine Schleimspur angepasster Kirchenfrömmigkeit hinter sich her. Reformen werden verhindert, weil man selbst – wie übrigens alle Traditionalisten – an seiner eigenen Kinderkirche festhält. Die wahren Krabbelgottesdienste, so scheint mir manchmal, finden in den Hochchören unserer Kathedralen statt. Schließlich bin ich davon überzeugt, dass die heutige Weltpolitik anders liefe, wenn die darin machthabenden Christ­innen und Christen im Glauben weiter gereift wären; denn dann würden sie religiöse Gefühle nicht nationalistisch missbrauchen, sondern die kritische Kraft und Herausforderung des Evangeliums entdecken.

An der persönlichen Entwicklung von der Magie zur Mystik führt deshalb kein Weg vorbei. Dazu möchte ich allen Christinnen und Christen Mut machen, denn dafür ist es nie zu spät. Ich bin davon überzeugt: Gott will keine infantilen Angsthasen, die nur perfekt gehorchen, sondern erwachsene Töchter und Söhne, die sich entwickeln zu mehr Freiheit und Verantwortung, herausgefordert zu Hingabe und Liebe.

Um eine bessere Lesbarkeit zu ermöglichen, verzichte ich an den meisten Stellen im Buch auf die Nennung beider Geschlechter sowie auf das Gender*sternchen. Gemeint sind aber immer alle (w/m/d).

Von Kindern und Zwergen

Glaube ist kein Zustand, sondern ein Weg. Der Glaube entwickelt sich im Laufe des Lebens. Bleibt ein Mensch auf einer bestimmten, meist frühen religiösen Stufe stehen, spricht man vom Kinderglauben. Wenn ein Kind nicht wächst, wird aus ihm weder ein erwachsenes Kind noch ein kleiner Erwachsener, sondern ein Zwerg. Ich betone, dass es sich hierbei um eine Metapher handelt: Mit dem Zwerg ist selbstverständlich nicht die physiologische Kleinwüchsigkeit gemeint, sondern eine ver­zögerte oder gar zum Stillstand gekommene religiöse Entwicklung. Man sollte den Kinderglauben deshalb nicht romantisieren, so als habe eine solche Entwicklungsstufe mit unver­dorbenem Vertrauen zu tun, gar mit unverbrauchter und unangezweifelter Gottunmittelbarkeit. Es ist ein Zwergenglaube, der bei der erstbesten Lebenskrise wie ein Kartenhaus in sich zusammenfällt. Wer aus seinen religiösen Kinderschuhen nicht herausgewachsen ist, wird bald aus allen Latschen kippen.

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