Er erinnerte sich an seine Anfänge, als er mit dem Schreiben begonnen hatte, mehr für sich selbst als für andere. Ganze Nächte hatte er sich um die Ohren geschlagen, Ideen ausgespuckt, einen Plot gesponnen. Er hatte die Charaktere in seinem Kopf gesehen, sie in seinem Herzen gefühlt. Dann hatte er getippt, bis seine Finger ihm bald abfielen.
Und wenn er ins Bett gefallen war, entführten ihn seine Träume in die von ihm erschaffene Fantasiewelt. Die einzige Zeit, die er sich nicht mit seinen Geschichten beschäftigt hatte, waren die gemeinsamen Momente mit Luca gewesen. Sie hatten eine glückliche Zeit miteinander verbracht. War das Liebe? Liebte er Luca, oder liebte er nur die Vorstellung von ihm? Und was war mit Lennie, der sich so vertrauensvoll in seine Arme schmiegte? Was empfand er für ihn?
„Nicht die Stirn runzeln. Das gibt Falten“, brach der Kleine in seine Überlegungen ein. „Lass uns die Köstlichkeiten, die wir eingekauft haben vertilgen und morgen machen wir dann mit Phase zwei weiter.“
Mark sah ihn an, registrierte das übermütige Funkeln in den grünen Augen und wagte kaum zu fragen. „Und was ist Phase zwei?“ „Na fühlen, was sonst?“, grinste Lennie und kletterte von seinem Schoß.
Fühlen, was sonst. Nichts leichter als das. Er konnte nur hoffen, dass er seinen Verstand dabei behielt.
Gegenwart - Lennie
Lennie hatte beschlossen, jegliche Annäherung an Mark zu vermeiden und erst einmal nur dafür zu sorgen, dass dieser wieder schreiben konnte. Er hatte mit seiner Mom telefoniert und sie über Marks Ex ausgequetscht, und als sie misstrauisch wissen wollte, warum, etwas geschwindelt. Er hatte ihr erzählt, dass Marks Schreibblockade wohl von Liebeskummer kam und er seinen Ex immer noch sehr vermisste.
Jetzt saß er vor seinem Laptop und betrachtete ein großes Porträtbild auf der Website des Bildhauers Luca Andrelli, der laut seiner Mom der Erste gewesen war, der näher an Mark herangekommen war. Fasziniert klickte er durch die verschiedenen Bilder, staunte über die Skulpturen, von denen der überwiegende Teil einen homoerotischen Hintergrund hatte. Absoluter Wahnsinn! Kein Wunder, dass Mark sich von diesem Mann beeindruckt gezeigt hatte.
Okay, kein Grund aufzugeben. Es hatte trotz allem ja nicht zwischen ihnen geklappt und das bedeutete doch, dass Mark etwas in der Beziehung gefehlt hatte. Jetzt musste er nur noch herausfinden, was das war.
Dafür wollte er heute mit Mark auf den Rummel. Von seiner Mom wusste er, dass sein Patenonkel oft mit Luca dort gewesen war. Einen Moment zauderte er, ob es klug wäre, mit ihm genau da hinzugehen. Dann schüttelte er den Kopf. Er wollte neue Erinnerungen für Mark schaffen und ein wenig über den Künstler erfahren, der ihn so fasziniert hatte. Und mit etwas Glück war sein Idol eher geneigt ihm von dem Skulpteur zu erzählen, wenn er sich an einem vertrauten Ort befand, wo er mit diesem eine schöne Zeit verbracht hatte. Natürlich wusste Lennie, dass sein Plan auch nach hinten losgehen konnte. Es gab keine Garantie für ihn, dass Mark sich ihm zuwandte. Vielleicht trieb er ihn mit seiner Aktion auch genau in die Arme des Bildhauers.
Hm, dieses Risiko musste er wohl eingehen. Dann mal los.
***
Gegenwart - Mark
Während Mark sich noch fragte, was Lennies Phase zwei bedeuten könnte, wurde er rasch aufgeklärt. Der Plan war bestechend simpel: Spaß haben und das soviel wie möglich. Mark dachte über seine gewonnenen Erkenntnisse nach und beobachtete dabei den jungen Mann, der vor ihm herhüpfte, als hätte er keine Sorgen. Hat er wohl auch nicht. Melli hat gute Arbeit geleistet. Er stutzte. Eigentlich hatte er das auch, schließlich war er ebenfalls eine wichtige Bezugsperson in Lennies Leben. Liebte er ihn? Ja, definitiv. In welche Richtung sich diese Liebe entwickeln würde, stand in den Sternen, aber das war momentan unwichtig. Es zählte nur der Augenblick.
Lennie kam auf ihn zu. „Und jetzt fahren wir in den Vergnügungspark.“ Er stolperte beinahe und wollte schon ablehnen, doch der Kleine sah ihn so erwartungsvoll an, dass er gar nichts anderes als zustimmen konnte.
Auf den Rummel gehen war seine und Lucas Lieblingsbeschäftigung gewesen. Sie hatten ihre Tickets für die Fahrgeschäfte mit dem wenigsten Personenaufkommen gekauft, um dann wie Teenager zu fummeln, sobald es losgegangen war. Normalerweise waren sie am Ende immer in der Geisterbahn gelandet, wo sie hemmungslos übereinander hergefallen waren. Seit Luca mit ihm Schluss gemacht hatte, hatte Mark keinen Gedanken mehr an Kirmes verschwendet, doch er wollte Lennie nicht enttäuschen und so nickte er nur. Dessen strahlendes Lächeln belohnte ihn für diese Entscheidung.
Und so ließ er sich von Wirbelwind Lennie mitziehen und erlaubte sich, komplett loszulassen und einfach nur Spaß zu haben. Der junge Mann zerrte ihn auf jedes mögliche Fahrgeschäft, von den waghalsigen, die Magenkrämpfe auslösten, bis zu dem albernen Kinderkarussell. Sie aßen Softeis, Mark versuchte sein Glück am Schießstand und gewann einen Teddybären, der den Kleinen zum Strahlen brachte. Mark ertappte sich dabei, in die Vergangenheit zu fallen, an dieselben Dinge zu denken, die er vorher mit Luca unternommen hatte und zum ersten Mal verspürte er keine Bitterkeit.
Und so endeten sie schließlich vor dem Geisterhaus, der Endstation, wenn er mit Luca unterwegs gewesen war. Doch Lennie ging nicht zum Ticketstand, sondern setzte sich auf die Wiese davor. Er sah Mark stumm an und dieser sank neben ihm nieder.
„Ich weiß, dass es mich eigentlich nichts angeht, aber magst du mir von ihm erzählen? Dem Mann, den du geliebt hast?“
Mark seufzte und dachte einen Moment darüber nach. Sein Patensohn war oft mit Problemen zu ihm gekommen und er hatte ihm immer wieder erklärt, wie wichtig es war, sich jemandem anzuvertrauen. Doch war es richtig, dass er seinen Kummer bei ihm ablud? Durfte er ihm solch eine Bürde aufladen? Warum fragte Lennie überhaupt? Wollte er seine Konkurrenz einschätzen? Den Gedanken verwarf er sofort. So etwas lag nicht in seinem Naturell. Er war einfach zu ehrlich für diese Welt. Deshalb wollte er ihn nicht zusätzlich belasten, aber der Kleine vertraute ihm und er verdiente nichts anderes, als das Mark das ebenfalls tat.
Er holte tief Luft. Vielleicht tat es ja auch gut, sich endlich alles von der Seele zu reden. Lennie griff nach seiner Hand, drückte sie aufmunternd und er begann zu erzählen.
***
Vergangenheit - Mark
Mark stahl sich ein Glas Champagner vom Tablett eines vorbeieilenden Kellners und nippte an dem köstlichen Getränk. Der Alkohol war bisher das Beste dieses Abends gewesen. Er war gelangweilt, müde und wollte nur noch nach Hause. Wenigstens nahm ihm die perlende Flüssigkeit ein wenig von der Frustration über den nutzlosen, zeitverschwendenden Anlass.
Sein erstes Buch erstürmte gerade die Bestsellerlisten und um das zu feiern, hatte ihm Harald, sein Verleger, Freikarten für eine Kunstausstellung geschenkt. So hatte er es zumindest ausgedrückt. Mark kannte natürlich die Wahrheit. Haralds Ehefrau ließ keine Gelegenheit aus, in Kunst zu schwelgen und mit Mark darüber zu diskutieren, da ihr Mann in dieser Hinsicht ja ein Banause wäre. Um der sympathischen Dame einen Gefallen zu tun, hatte er sich breitschlagen lassen, an der Veranstaltung teilzunehmen.
Doch die durchaus anregende Konversation mit Frau Müller konnte unterdessen nicht drüber hinwegtäuschen, dass sich die Ausstellung in einen Marketingalbtraum gewandelt hatte. Er hätte es natürlich ahnen müssen, als immer mehr Repräsentanten von Presse, Verlagen und zig andere Wichtige ihrer Zunft auf den Plan traten und ihm zu seinem Erfolg gratulierten. Dann kam die andere Seite, die Vermögen roch und die Werke ihrer Klienten verkaufen wollte. Da waren sie bei Mark allerdings an der falschen Adresse. Er gab sein Geld bevorzugt für Bücher aus, nicht für Gemälde, die aussahen wie das zufällige Kritzeln eines Kleinkinds. Moderne Kunst. Wer sollte sie verstehen?
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