»Übrigens, wir reden uns hier mit Du an, das ist leichter für alle.«
Bettina geht zu einem der zwei Fenster und öffnet es um jenen schmalen Spalt, um den man die Fenster hier öffnen kann. Die Ärmel des Kittels rutschen ein wenig herunter und entblößen böse blaue Flecken an Bettinas Oberarm. Irma traut sich zunächst nicht, doch dann fragt sie:
»Sie haben sich verletzt?«
»Sag einfach Du, das ist wirklich leichter. Wirst sehen, in ein paar Tagen fällt es nicht mehr schwer und du wunderst dich, warum du dir einmal großen Abstand von hier gewünscht hast.«
Irmas Blicke hängen noch immer an den dunklen Flecken. So schnell kann sie nicht mehr auf Worte reagieren, auf Neues umschalten. Bettina merkt es und lächelt: »Da hat sich wieder mal jemand vor der Morgenwäsche gesträubt.« Sie beugt sich zu Irma, führt ihren Finger behutsam über das welke Fleisch der Wange im Trost suchenden Gesicht. »Ich weiß, meine Gute, Ihr alle wollt eure Würde behalten. Aber wir Fachleute wissen um die Verantwortung für Patienten wie dich. Es wäre leichtfertig, dich zu Hause hilflos in deinen vier Wänden zu lassen.« Sie umarmt die alte, ein wenig beleibte Frau kurz und heftig. »Ich glaube, dich werde ich sehr lieb haben können.«
Dann huscht sie in die Badezelle und schiebt den Krankenstuhl heraus, der bislang der gestern Verstorbenen gehört hat. Es bereitet Mühe, Irma zu bewegen, in das Gefährt zu steigen und es kostet noch mehr Überredungskunst, sie mitzunehmen in den Speisesaal. Erst draußen vor der Tür mit der Nummer 42 bemerkt Irma, das letzte Zimmer im langen Gang bekommen zu haben. Wenigstens darüber ist sie froh. Zu Hause war es ihr manchmal passiert, dass sie nicht mehr wusste, welche Haustüre die richtige war. Das zumindest könne ihr hier nicht passieren, sie muss nur laufen bis zum bitteren Ende.
Bettina schiebt den Rollstuhl mitsamt Irma über den grünen Bodenbelag des langen Ganges. Die Gummisohlen ihrer Galoschen quietschen. Scheu schaut Irma sich um. Offene und geschlossene Türen zu beiden Seiten des Flures, hölzerne Türen mit vielen Kratzern von all den Rollstühlen und Gerätschaften, die hin und her geschoben werden. An den Türen keine Namen — nur Nummern, Nummern für Schicksale, die sich hier vollenden werden. Am anderen Ende des Ganges, hinter zwei gläsernen Flügeltüren, gibt es noch einen Gang und noch ein Fenster, wie das gleich neben ihrem Zimmer 42.
»Vor Kurzem ist hier renoviert worden«, sagt Bettina und meint, die Wände seien frisch gestrichen worden. Hell ist es wenigstens, denkt Irma, aber glatt scheint der Boden zu sein. Zu Hause in ihrem Schlafzimmer hatte sie einen ähnlichen Boden. Immerzu rutschte sie aus, einmal war sie mitsamt dem Läufer weggerutscht und auf die Bettkante geknallt. Seitdem versucht sie, vor jedem Schritt erst festen Halt zu finden — auch wenn es ihr peinlich ist, weil es tapsig aussieht, ist sie allemal froh, sicheren Boden unter sich zu spüren.
Einer Bewohnerin des Heimes scheint es gerade ähnlich zu gehen. Sie steht an der Wand und tastet sich an der abgegriffenen Holzleiste entlang, die es zu beiden Seiten des Flures gibt, die aber weder geeignet ist, als Handlauf genutzt zu werden, noch als brauchbare Stoßkante. Die Frau setzt einen Fuß vor, zieht ihn wieder zurück, geht keinen Schritt weiter. Einen Meter vor ihr stehen, an ein fahrbares Bett gelehnt, zwei Gehhilfen. Dass es jene sind, die die Frau dringend brauchen würde, weiß Irma nicht. Niemand ist da, der sie der Frau reicht. Auch Bettina reicht sie ihr nicht. Neben der Tür 47 sitzt ein Mann halbnackt im Rollstuhl. Ängstlich schaut er auf die Neue und legt seine Hände schamhaft in den Schoß.
»Der wird gleich geduscht«, flüstert Bettina und wirft einer anderen Schwester mit weniger weicher Stimme die Worte zu: „Dein Pflegenotstand wartet!«
Die andere prustet genervt, rennt im Eiltempo an dem alten Mann vorbei durch die Pendeltür in das Zimmer mit der Aufschrift Personal.
Erst später, viel später, wird Irma erfahren, dass sich dieser Mann über die Zustände im Heim beschwert hat. Geändert hat er nichts, nichts zu seinen Gunsten und zu niemandes Gunsten.
Die Essenszeit ist längst vorbei, aber im Speisesaal sitzen noch Leute herum, dösen vor sich hin oder starren zur Tür. Einige haben noch die Serviette um den Hals gebunden, ein anderer hat seinen Kopf in die verschränkten Arme auf der Tischplatte gelegt und scheint zu schlafen.
»Wann gibt es denn Essen«, fragt die piepsende Stimme einer Frau, als sie Bettina kommen sieht. Ihr spärlich weißes Haar ist bekleckert wie der Latz um ihren Hals.
»Hättest dir nicht alles ins Haar schmieren sollen, dann wärst‘e auch satt geworden«, lacht Bettina und die Frau lacht jetzt mit. »Sie ist voll dement«, erklärt Bettina. Jetzt kann auch Irma lächeln, aber Hunger hat sie nicht. Hier wird sie wohl nie Hunger haben. Wie lange wird es dauern, bis John sie wieder in ihr gemütliches Zuhause holt?
Es ist Montag und Feierabendzeit. John Hein reckt seinen Kopf weit aus dem Fenster eines Hauses jener Wohnanlage, die in den sechziger Jahren abseits der Fernstraße gebaut wurde und nicht —wie seine eigene Wohnung — am Fernheizungsnetz angeschlossen ist. Der Lastwagen müsste längst hier sein, stattdessen biegt das Auto eines Nachbarn von Irma Hein um die Ecke. Der Mann steigt aus, sein Blick streift über die Fenster des Hauses. In diesem Eingang wohnen acht Familien, man kennt sich, aber man hält Distanz. Hin und wieder wechselt man freundliche Worte, einmischen will sich niemand in die Angelegenheit des anderen. Das gute Gefühl der Vertrautheit und Nächstenliebe ist der Vorsicht gewichen. Nur Not ist stärker als Vorsicht; Hilfe leistet nur noch, wer gebeten wird, doch dann jederzeit. Das ist der Rest vom Ehrenkodex einer kleinen Nation, die in Wahrheit nicht einmal eine halbe Nation ausmacht.
»Tach-schön«, grüßt er zu John hinauf. »Ist Ihre Mutter wieder gesund?«
»Schön wär’s. Sie ist verlegt auf die Pflegestation.«
»Ach!«, entfährt es ihm, doch er besinnt sich schnell. »Grüßen Sie Irma von uns, von meiner Frau und mir. Alles Gute.« Der Mann schließt das Garagentor ab und stapft über die Wiese, dem Hintereingang zu. Weil John noch immer am Fensterbrett lehnt, entschließt er sich doch noch zu ein paar Worten: »Heute kann man froh sein, wenn man heil zu Hause ankommt. Das Volk demonstriert mal wieder.«
Das Volk klingt abfällig, aber John weiß: Jeden Montag treffen sich die, die etwas ändern wollen in diesem Land. Manchmal hört man deren Parolen vom Zentrum bis hinauf in die Wohnsiedlungen. Er kann da nicht mit, er arbeitet gerade nach Feierabend am Haus eines der Bonzen von der Kreisparteileitung. Er baut die Fenster ein, viele Fenster und große Fenster. Das bringt einen guten Schein extra, von dem Gerlinde nichts weiß. Allein die Besorgung der Fenster aus seiner Firma — unter der Hand, versteht sich — hatte ihm einen Hunderter eingebracht. Nein, Beziehungen zu den Bonzen dürfe man nicht aufs Spiel setzen. Wer weiß, wofür man mal einen von denen braucht. Wenn der Auftraggeber erfährt, dass man gegen ihn und seinesgleichen demonstriert — nicht auszudenken.
Eines aber macht ihm doch Sorgen. Mit der heutigen Fracht müssen die Männer später ins Zentrum zurück. War vielleicht doch kein so guter Termin …?
Von der schmalen Straße her schiebt sich ein Robur-Transporter dicht an der Hecke einseitig auf die Gehwegplatten. Zwei Männer springen heraus, einer schiebt die Ärmel bis zum Ellenbogen und ruft nach oben:
»Ich denke, hier türmen sich schon Berge von Inventar!«
»Du Schlawiner«, ruft John zurück und droht grinsend mit der Faust. »Ich warte schon ’ne geschlagene Stunde.«
»Gegen Sechs war ausgemacht.« Der Mann schaut noch einmal genau: »Was willst du, wir sind immer noch im Limit!«
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