Ein Polizist trat zu Strahm und erklärte: „Wir haben keine Einschussstelle in der Wand oder sonstwo gefunden.“
„Und die Mordwaffe?“
„Ist noch nicht gefunden worden“, antwortete der Polizist auf die Frage und fuhr weiter. „Der Mörder muss von der Straße her um das Haus herumgekommen sein, ohne Spuren zu hinterlassen. Um jene Zeit war hier das Gewitter zur Hauptsache schon vorbei. Aber hinterher hat es noch einmal lange geregnet. Im Gras konnten wir keine frischen Spuren feststellen, und auf den Platten wurde alles vom Regen und von der Erde, die aus den Gartenbeeten gespült wurden, verwischt. Vermutlich hat der Täter sein Opfer durch das offene Fenster hindurch aus nächster Näher niedergeschossen, denn im Haus sind auch keine fremden Spuren zu finden.“
„Und welches ist Ihre Version, Mister Federbein?“, fragte Strahm.
„Meine Version?“, wiederholte Federbein. „Das tönt ja, als erwarteten Sie von mir irgendeine erdichtete Geschichte. Sie vergessen, dass mein Bruder der Dichter war. Ich kann Ihnen nur sagen, was ich weiß und was ich gesehen – oder in diesem Fall unglücklicherweise nicht gesehen habe.“
„Nun“, unterbrach ihn Strahm, „Sie werden immerhin zugeben müssen, dass es reichlich sonderbar ist, dass Ihr Bruder um halb elf erschossen wurde und Sie erst eine volle Stunde später den Arzt und die Polizei alarmierten. Daraus darf ich doch wohl für mich einige Schlüsse ziehen. Also los. Wie war es?“
Als Strahm dem so Angesprochenen in die Augen blickte, fragte er sich, ob er nicht einen zu heftigen Ton angeschlagen habe. Jedenfalls wie ein Mörder sah der Mann nicht aus. Aber die wenigsten Mörder, das hatte ihn seine lange Erfahrung gelehrt, sehen wie solche aus.
Federbein war mittelgroß, gut aussehend. Seine Haare waren teilweise leicht grau, auf der rechten Seite etwas stärker als links, genau wie er es auch bei seinem Bruder festgestellt hatte. Federbein sah jedoch müde aus. Das Ereignis schien ihn stark angegriffen zu haben. Strahm glaubte, eine echte Trauer von seinem Gesicht ablesen zu können.
„Kommen Sie, setzen wir uns an den Esstisch“, sagte er nun in versöhnlicherem Ton und forderte Balthasar Federbein auf, mit ihm nach vorne zu gehen. „Ihr könnt die Leiche wegschaffen.“
Walser warf nochmals einen Blick auf den Toten, dann nahm er Strahm, der eben am Cheminée vorbei in den vorderen Teil des Raumes gehen wollte, beiseite und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Darauf hielt Strahm den Arm des Polizisten zurück, der ein Tuch über den bereits auf die Bahre gelegten Toten werfen wollte. Einen Augenblick nur – dann ließ er ihn gewähren.
„Wir werden das anhand der Aufnahmen noch vergleichen“, sagte er zu Walser und setzte sich dann zu Balz, der unterdessen mit dem Rücken zur Gartentür Platz genommen hatte.
In diesem Augenblick schreckte eine Stimme den in sich versunkenen Balz auf.
„Mischa“ tönte es, und Balz wandte sich gegen die Tür, von wo der Anruf kam.“
„Was ist hier los?“, fragte der Unbekannte und trat, sichtlich erregt, ein.
Wer sind Sie?“, fragte Balz und sprang auf.
„Mischa, was ist mit dir? Bist du…?“, stieß der andere hervor und trat zu Strahm. „Ich bin Klaus Zumstein, Mischas Freund. Was ist mit ihm, er ist ja ganz verstört? Er scheint mich ja nicht einmal mehr zu kennen.“
Zwei Polizeibeamte in Zivil wollten mit der Bahre an Zumstein vorüber. Dieser blickte auf das weiße Tuch.
„Dein Bruder?“, fragte er Balz, den er für Michael hielt.
„Ihr Freund“, antwortete Strahm anstelle von Federbein und hielt die beiden Bahrenträger auf. Er streifte das Tuch über dem Toten zurück, und Zumsteins Blick fiel auf das Gesicht seines toten Freundes, den er noch vor Sekunden in dessen Bruder zu erkennen vermeint hatte.
„Mein Gott, Mischa“, stieß Zumstein hervor „Was ist passiert? Und er wandte den Kopf fragend zu Strahm.
„Erschossen.“
„Von wem? Das ist doch unmöglich.“
„Wir wissen es noch nicht“, sagte Walser, „aber vielleicht können Sie uns helfen.“
„Woher kommen Sie eigentlich, und was wollten Sie hier mitten in der Nacht?“, fragte Strahm.
„Ich wohne hier im Haus“, erwiderte Zumstein.
„Strahm deckte den Toten wieder zu und gab den Trägern einen Wink. Diese hoben die Bahre wieder auf und trugen sie hinaus.
„Ja, dann, Köbi“, wandte sich Strahm an Walser. „Dann kümmere du dich mal um Herrn Zumstein. Am besten geht ihr in sein Zimmer.“
Die beiden verschwanden, und Federbein und Strahm setzten sich wieder an den Tisch.
„So, und nun erzählen Sie mal von Anfang an?“, forderte Strahm sein Gegenüber zum Reden auf.
Als dieser schwieg, fing Strahm selber an.
„Also, Ihr Bruder hat Sie heute – oder jetzt muss ich sagen gestern – vom Flughafen abgeholt. Wann kam denn Ihr Flugzeug an?“
„Wir landeten um fünf Uhr. Mein Bruder holte mich mit seinem Wagen ab.“
„Und dann fuhren Sie gleich hier herauf?“
„Ja.“
„Kannten Sie das Haus schon?“
„Nein, so viel ich weiß, hat es mein Bruder erst vor sechs oder sieben Jahren gekauft. Es kann auch schon länger sein. Ich war ja fast dreißig Jahre nicht mehr in der Schweiz. Das mag Ihnen vielleicht merkwürdig vorkommen, aber wir hatten unsere Beziehung so gut wie abgebrochen, nachdem ich weggegangen war. Unser Vater war schon vorher gestorben, die Mutter starb einige Jahre später. Ich hatte damals noch keine feste Adresse und erfuhr erst Wochen später vom Tod meiner Mutter. Mein Bruder war mir vor allem in den späteren Jahren, als wir langsam erwachsen wurden, fremd, obwohl er mir immer zum Verwechseln ähnlich sah. Vielleicht war es gerade das, was uns später trennte, unsere Ähnlichkeit. Als Kinder hatten wir zwar oft unseren Spaß daran. Wir haben manchmal unsere Identität vertauscht und die Leute zum Narren gehalten, was wohl alle Zwillinge, die sich so ähnlich sehen wie wir, als Kinder gerne tun. Das Einzige, was uns unterschied, war, dass er immer Glück hatte, ich nicht. Dabei sagt man doch, dass eineiige Zwillinge meistens nicht nur äußerlich gleich sind, sondern auch das gleiche Schicksal haben. Sie sind ja mit der gleichen Erbanlage ausgestattet, genießen normalerweise die gleiche Erziehung und sind zudem unter dem gleichen Sternzeichen geboren.“
Strahm hatte ihm aufmerksam zugehört. Man muss die Menschen einfach reden lassen. Irgendwann erfährt man dann immer etwas, das man verwerten kann. Das wusste Strahm aus langer Erfahrung.
„Glauben Sie an Astrologie?, fragte er jetzt.
„Nein, ich habe keinen Grund dazu. Mein Bruder und ich sind der beste Beweis, dass dies ein Humbug ist. Aber ich muss zugeben, ich verstehe zu wenig davon. Und Sie?“
„Ich halte auch nicht viel davon. Jedenfalls nichts von den Horoskopen. Aber die Charakterisierung der Eigenschaften bei den verschiedenen Typen kann einem in der Kriminalistik schon ein wenig helfen. Aber Sie wollten von Ihrer Jugend erzählen, von Ihrer Ähnlichkeit. Ich wollte Sie nicht unterbrechen.
„Es interessiert Sie vielleicht nicht. Eigentlich gehört es auch nicht hierher.“
„O doch, erzählen Sie nur. So kann ich mir auch ein Bild von Ihrem Bruder machen. Das ist wichtig für unsere Ermittlungen. Wie war er privat? Man hörte natürlich nur immer von ihm als Schriftsteller.“
„Sie vergessen, dass ich lange keinen Kontakt mehr mit ihm hatte.“
„Trotzdem, es interessiert mich. Sagen Sie, was Sie wissen.“
Federbein schien nachzudenken. Strahm wartete, bis er weiterfuhr:
„Ja, ich weiß nicht, vielleicht war ich eifersüchtig auf meinen Bruder. In der Schule war er kaum besser als ich, aber er hatte immer die besseren Noten, obwohl die Lehrer uns nie unterscheiden konnten. Wir haben manchmal unsere Plätze vertauscht.“
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