Er schreckte auf. Das grelle Licht der hoch stehenden Mittagssonne traf sein Gesicht. Blohm hatte den Kofferraumdeckel zugeworfen, wovon er wach geworden war, und noch von den Ängsten seines Traumes benommen, stellte er die Rückenlehne nach vorne. Er schaute Blohm nach, wie der mit einem seiner Koffer in der Hand schräg über die Straße ging und dann bei einem Straßenschild stehen blieb, das wohl eine Bushaltestelle markierte, wie Yusuf zu erkennen glaubte.
Er sah auf die Uhr, es war fast eins. Er musste eingeschlafen sein, kurz nachdem sie hier um zwölf Uhr angekommen waren. Was für ein Albtraum, dachte er. Er stieg aus und reckte sich im grellen Licht der Sonne.
Er blickte die Straße weiter runter und sah das Ortsschild. Er konnte den Namen auf dem Schild in der flirrenden Luft nicht lesen, es interessierte ihn auch gar nicht, wie das bulgarische Dorf nicht weit von Khaskovo hieß. Blinzelnd schaute er zu Blohm hinüber, der an der Haltestelle stand, und er fand dieses Bild komisch, wie einer im Maßanzug und mit einem Koffer neben sich in der prallen Sonne an einer öden Landstraße regungslos auf den Bus wartete. Dann bemerkte er, wie Blohm zu der Kreuzung sah, die vielleicht zweihundert Meter abseits lag und den kleinen Ort mit der Fernstraße E 80 in die Türkei verband. Mit jeder Minute rechnete Yusuf, den Überlandbus kommen zu sehen, denn Blohm hatte ihn während der Fahrt von Ruse hier herunter immer wieder angetrieben, damit er den Bus nicht verpasste, der nur einmal am Tag an diesem Ort vorbeikam, wie er es ihm erklärt hatte. Offenbar war Blohm bestens informiert und jetzt begriff Yusuf auch, warum er ihn immer auf die Stunde genau hatte fahren und Pause machen lasen. Es war genauestens abgestimmt und so waren sie hier pünktlich angekommen, sogar eine Stunde früher, in der er geschlafen und schlecht geträumt hatte.
Blohm war eingestiegen und der Bus ließ eine Staubfahne hinter sich, als er das kurze Stück auf der Landstraße zurück zur Kreuzung fuhr. Yusuf ließ das Taxi an und bog wenig später genauso auf die E 80 Richtung Edirne ab, wie es der Bus zuvor gemacht hatte. Blohms Anweisung war, immer in der Nähe des Busses zu bleiben, quasi in Augenkontakt mit ihm, wie er sich ausdrückte. Über die Grenze hinaus, die jetzt noch eine knappe Stunde entfernt lag, und bis nach Istanbul. Dort war für den Abend, wenn sie angekommen waren, ein Treffpunkt ausgemacht worden, falls sie sich doch aus den Augen verlieren würden. Blohm nannte ihm ein Hotel in Fatih, im südlichen Teil von Istanbul, auf der europäischen Seite an der Einmündung des Bosporus. Yusuf glaubte, diesen Stadtteil von Istanbul nicht zu kennen, jedenfalls erinnerte er sich nicht an diesen Namen, aber er besaß für alle Fälle einen Stadtplan, den Blohm ihm dagelassen hatte.
Jetzt, da er Blohm nicht mehr neben sich spürte, wünschte er sich eine Gelegenheit, unter das Auto zu schauen. Obwohl er ihn in dem Bus einige hundert Meter weiter vor sich wusste, fühlte er sich immer noch unter seiner Kontrolle und es ärgerte ihn. Er konnte sich nicht zurückfallen lassen, er wurde von ihm beobachtet. Der Verkehr floss spärlich und die Sicht auf ihn war daher bestens. Außerdem würde der Bus noch in ein paar Orten, die an der E 80 bis Edirne lagen, anhalten, wie Blohm es ihm erklärt hatte, und es würde auffallen, wenn er nicht mit dem Taxi in der Nähe wäre.
Je länger er darüber nachdachte, umso mehr vermutete er, dass irgendetwas mit dem Auto nicht in Ordnung war und dass Blohm verhindern wollte, es herauszubekommen. Ihm blieben bei diesem Tempo noch drei oder vier Stunden bis Istanbul, aber er wollte sich noch vor der Grenze Gewissheit über den Zustand des Autos verschaffen. Eine Stunde war es bis Edirne, das würde knapp werden, dachte er, es sei denn, der Verkehr würde vor der Grenze zunehmen und er könnte so tun, als sei er aus Versehen außer Sicht geraten.
In zwei Ortschaften war der Bus zu Stopps ausgeschert und Yusuf hatte mit dem Taxi dicht hinter ihm angehalten. Im dritten Ort, einem größeren mit dem Namen Svilengrad, sah er eine Tankstelle. Diesmal fuhr er an dem Bus vorbei, als der anhielt. Er glaubte Blohm am Fenster gesehen zu haben, ganz hinten im Bus. Yusuf bog in die nächste Seitenstraße ab, stoppte das Taxi und wartete, bis er den Bus im Rückspiegel auf der Hauptstraße vorüberfahren sah.
Was sollte er Blohm nachher erklären, dachte er, als er zurück zur Tankstelle fuhr. Dass er tanken musste? Blohm hatte dafür gesorgt, dass der Diesel noch bis Istanbul reichte. Vielleicht die Wahrheit? Was sollte Blohm schon dagegen sagen können, dass er sich vergewissern wollte, was mit dem Taxi nicht in Ordnung war. Blohm könnte ihm Vertrauensbruch vorwerfen, dass er entgegen der Abmachung handelte. Was wäre dann mit den fünfzigtausend Euro? Würde Blohm ihn nicht mehr weiter für sich arbeiten lassen? Er brauchte ihn nach wie vor, beruhigte er sich und beschloss, sein Vorhaben schnell durchzuziehen. Er wies alle Zweifel von sich und fuhr vor die Werkstatthalle der Tankstelle.
Die beiden Mechaniker hievten das Taxi hoch, nachdem er einem von ihnen einen Zwanzig-Euro-Schein gegeben hatte. Sie standen dabei, als er endlich unter den Wagen schauen konnte. Sie sahen aber in den beiden Rohren, die dicht nebeneinander unter dem Fahrzeugboden angebracht waren, nichts Außergewöhnliches. Man konnte diese Rohre ohne weiteres für Tanks halten, die einfach an diese Stelle hingehörten. Yusuf aber sah sofort, dass diese Konstruktion eine Manipulation war.
Er klopfte dagegen, sie klangen nicht hohl. Zur Verstärkung des Fahrgestells dienen die nicht, meinte er zu den beiden und sprach sich dabei doch nur selbst an; die Mechaniker verstanden ihn sowieso nicht. Er wollte an den Rohren rütteln, aber sie waren starr und fest montiert. Er schätzte sie auf ungefähr fünfzehn Zentimeter im Durchmesser und sah, dass sie nicht genau in der Mitte unter dem Fahrzeugboden befestigt waren, sondern mehr zur Seite hin. Er vermutete daher einen ungleichmäßigen Schwerpunkt und fand darin die Erklärung für das schwammige Fahrverhalten in den bergigen Kurven. Um die Rohre anzubringen, musste der Boden angehoben worden sein. Das bedeutete, dass auch Veränderungen im Fußraum vor den hinteren Sitzen festzustellen sein mussten. Ihm war derartiges nicht aufgefallen, aber so genau hatte er dort auch noch nicht hingesehen. Er schüttelte mit dem Kopf.
Ihm kam kurz der Gedanke, die Rohre aufschweißen zu lassen, aber dies schien ihm zeitlich zu aufwendig, wenn nicht gar gefährlich. Er musste sich zunächst damit abfinden, dass Blohm ihn hinters Licht führen wollte, und das hier sah nach einer ganz bösen Sache aus. Er wies die beiden Mechaniker an, die nach wie vor neugierig, aber ahnungslos dabeistanden, das Taxi wieder herabzulassen, ging aus der Halle hinaus und lief Blohm direkt in die Arme.
„Was fällt Ihnen ein! Wie kommen Sie dazu, von unserer Route abzuweichen, wir hatten eine Abmachung getroffen.“
Yusuf hörte Blohm zum ersten Mal schnauzen und war wie vom Donner gerührt. Aber dann wehrte er sich.
„Und das hier?“ Er nickte einem der Mechaniker zu und bedeutete ihm, den Wagen noch mal hochzufahren und zeigte dann unter das Auto. „Können Sie mir sagen, was das hier ist?“
„Ich muss Ihnen gar nichts sagen.“ Blohm trat unter das Taxi und warf einen prüfenden Blick auf die Konstruktion. „Ich hatte Ihnen nicht erlaubt, an dem Wagen herumzufummeln.“
„ Sie haben an dem Auto herumgefummelt!“, bellte Yusuf. „Was haben Sie denn zu verbergen?“
„Machen Sie nicht noch mehr Aufsehen. Lassen Sie den Wagen wieder runter und dann verschwinden wir hier. Haben Sie den beiden etwas gegeben? Dann geben Sie ihnen noch mal etwas, aber nicht aus der Spesenkasse, das bezahlen Sie gefälligst aus Ihrer eigenen Tasche.“ Blohm wartete, bis Yusuf das Taxi aus der Halle fuhr, warf seinen Koffer auf den Rücksitz und stieg auf der Beifahrerseite ein.
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