An ihrem kleinen Appartement in einer Seitenstraße in Universitätsnähe angekommen, war Frauke in Gedanken schon mitten in ihrem Arbeitsplan. Sie schloss die Tür auf und registrierte nur nebenher das heimelige Gefühl, das sie in dem kleinen Zimmer, das von Bücherregalen dominiert wurde, immer wieder überkam. Sie entnahm ihrer Tasche die neuesten Aufzeichnungen, die sie vor dem Seminar in der Bibliothek gemacht hatte, stellte in der Küchenzeile Wasser für eine Suppe auf und öffnete den Laptop.
Während sie darauf wartete, dass das Wasser zu kochen begann, suchte sie die Seite heraus, auf der sie die gefundenen Literaturstellen zitieren wollte.
Sie kam so gut voran, dass sie erst aufblickte, als bereits das Kondenswasser von den Scheiben ihrer zwei Fenster troff. Seufzend füllte sie Wasser nach, wartete diesmal ab, bis es kochte und schüttete das Instantpulver hinein. Mit einem Buch in der Hand stand sie lesend und rührend am Herd, bis die Suppe fertig war. Sie löffelte, während sie gleichzeitig Anmerkungen auf ihrem Block notierte, und als sie schließlich um sechs Uhr ihre Arbeit einstellte, war sie mit ihrem Tagwerk tatsächlich zufrieden.
Sie stellte sich in ihrem winzigen, fensterlosen Badezimmer unter die Dusche und dachte sehnsüchtig daran, wie schön es wäre, sich danach lediglich in ihren dicken Frotteebademantel zu hüllen, es sich auf der Couch mit einem Buch bequem zu machen oder vielleicht ein bisschen fernzusehen, anstatt sich aufzutakeln, um sich mit vielen anderen Menschen in einen Club zu quetschen. Aber wenn Daniela so viel daran lag…
Sie trocknete sich ab, schlang das Handtuch um ihre Haare und inspizierte unschlüssig den Inhalt ihres Kleiderschranks. Wenn der Sänger so gut wäre, wie Daniela behauptete, würde es sicherlich voll auf dem Konzert. Und wo viele Leute unterwegs waren, fand sich immer jemand, der versehentlich sein Getränk verschüttete, und zwar meist über jemand anderen. Und ich bin klein genug, um übersehen zu werden, dachte Frauke grimmig und zog eine dunkelblaue Jeans aus dem Schrank. Ein braunes, ärmelloses Top mit hohem, geradem Ausschnitt und eine schlichte braune Bluse komplettierten ihr Outfit. Sie schlüpfte in ihre braunen Stiefeletten und kehrte ins Bad zurück. Kräftiges Frottieren reichte schon fast aus, um ihre schwarzen, weichen Kinderlöckchen zu trocknen. Frauke ließ ihre Haare offen hängen, während sie überlegte, wie viel Schminkarbeit ihr der Abend wert wäre.
Da ihre zarte, helle Haut leicht gereizt reagierte, verzichtete Frauke ganz auf Make-up. Glücklicherweise hatte sie nie mit Hautunreinheiten zu kämpfen; das Schlimmste waren die Sommersprossen, die hellbraun über ihre Nase wanderten, sobald sich die Frühlingssonne heraus traute. Jetzt allerdings, im Oktober, waren sie schon wieder verblasst.
Frauke tuschte sich die Wimpern, legte einen Hauch Rouge auf, weil sie doch sehr blass war, und entschied schließlich, dass etwas Lidschatten nicht schaden könne. Sie benutzte wie immer den braunen, der eine Schattierung heller war als ihre Augen, und war bei einer weiteren Prüfung ihres Gesichts zufrieden. Sie band ihre weichen Haare zurück, legte goldbraune Modeschmuckohrringe und einen passenden Ring an und packte ihre kleine Handtasche.
Ein Blick auf die Uhr belehrte sie, dass sie noch fünf Minuten Zeit haben würde – wenn Daniela diesmal pünktlich käme. Mit einem halben Lächeln nahm Frauke Platz und schaltete den Fernseher ein.
Gerade hatte eine freundliche Frauenstimme am Ende der Nachrichten verkündet, dass das Wetter auch morgen trüb und unangenehm werden würde, als es ungestüm an der Tür klingelte. Frauke machte den Fernseher aus, sprang auf und öffnete Daniela, die mit einem Schwall kalter Herbstluft und tausenderlei Entschuldigungen hereingestürmt kam.
Als Frauke zu ihrem Mantel greifen wollte, wehrte Daniela jedoch ab.
„Ich bin zu spät, aber losgehen müssen wir noch nicht. Ich habe extra ein bisschen Zeit eingeplant, damit wir das hier noch trinken können.“ Sie zauberte eine Flasche Freixenet aus ihrer Tasche und warf Frauke gleichzeitig eine CD zu. „Da, mach die mal an. Erst dachte ich, ich spiele dir schon mal ein paar Lieder von Gabriel vor, aber live kommt er besser rüber. Das da ist Mädchenmusik.“
Gekonnt öffnete sie die Flasche und rügte Frauke nach kurzer Inspektion der Küchenzeile dafür, dass sie noch immer keine Sektgläser gekauft hatte.
„Macht nichts, dann nehmen wir Wassergläser.“
Während sie den Sekt einschenkte, begann sie, bei den ersten Tönen von Son of a Preacher Man mitzuträllern, um sich sofort selbst wieder zu unterbrechen.
„Billie Ray was a preacher’s son, and when his daddy would visit he’d come along… oh man, das arme Mädchen! Mal im Ernst, kannst du dir vorstellen, was mit ‘nem Typen anzufangen, der Billie Ray heißt?”
Frauke, die kurz den Gedanken gehabt hatte, dass sie also locker noch eine Stunde länger etwas hätte tun können, vertrieb den Hauch von Gereiztheit und kicherte leise.
„Nein, das könnte ich nicht. Billie Ray, wow. Vermutlich war er ein ungewolltes Kind.“
Dankend nahm sie den Sekt entgegen und sah zu, wie Daniela sich aus ihrer engen, hüftlangen Jacke schälte. Wie üblich sah sie umwerfend aus: Sie trug einen schwarzen Minirock, glänzende schwarze Stiefel mit acht Zentimeter hohen Absätzen und ein rotes Top, das die Spitze an ihrem BH erahnen ließ. In ihrer üppigen Mähne funkelten goldene Reflexe, während die blauen Augen vor lauter Partylaune und Übermut glänzten. Auch wenn das starke Make-up und speziell der knallrote Lippenstift weit von allem entfernt war, was Frauke selbst je getragen hätte, musste sie neidlos anerkennen, dass es zu Danielas Typ passte und gut auf den Rest ihres Outfits abgestimmt war.
Unter müßigem Geplauder, mit dem Frauke sich immer etwas schwer tat, leerten sie das erste Glas. Das heißt, Daniela leerte das ihre und schenkte sich mit einem Blick auf Fraukes halb volles Glas nach. „Ich zieh dir davon, du musst dich beeilen.“
Dann begann sie, von Gabriel zu erzählen. Er sei ein großartiger Sänger, habe eine tolle Stimme, und außerdem sei er „echt was für’s Auge“. Bei dieser Aussage hob Daniela die sorgfältig gezupften Augenbrauen fast bis an den Haaransatz und fuhr sich spaßhaft mit der Zunge über die Oberlippe. Frauke musste lachen, doch begann sie sich zu fragen, wie die Bekanntschaft ihrer Freundin mit dem Sänger wohl aussehen mochte.
Egal, dachte sie, als sie merkte, wie der Sekt in ihrer Blutbahn zu prickeln begann. Es ist an der Zeit, dass ich mal wieder unter Menschen komme, und ohne Daniela würde ich das nie tun. Soll sie doch ihren Spaß haben, egal, wie der aussieht.
Als schließlich die Flasche leer war, guckte Daniela auf die Uhr und quietschte leise auf.
„Oh, jetzt müssen wir aber los.“
Sie sprang auf und wand sich in ihre Jacke, während Frauke ihren Mantel holte.
Zusammen eilten sie im Schnellschritt durch den nasskalten Abend. Frauke Wohnung war zentral gelegen, und nach der Überquerung zweier Straßen hatten die beiden Mädchen den Taxistand am Neumarkt erreicht. Daniela riss die Beifahrertür des nächsten Wagens auf, bedeutete Frauke, ebenfalls einzusteigen, und ließ sich mit einem „einmal zum Mexx , bitte“, auf den Sitz fallen. Dann drehte sie sich zu Frauke um und kicherte: „Wie kommt das bloß, dass man sich unter Frauen immer derart verquatscht, bis man viel zu spät dran ist?“
„Keine Ahnung“, lächelte Frauke zurück und dachte: Das kannst du für uns beide. Allein wäre ich auf jeden Fall pünktlich gewesen, und ich bin froh, dass du mich abgeholt hast, sonst hätte ich endlos lange einsam in diesem Club gesessen, weil ich als einzige noch nicht kapiert habe, dass man heutzutage nicht mehr pünktlich ist.
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