Ursula Walser-Biffiger - Bergmütter, Quellfrauen, Spinnerinnen

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Wild, wirkmächtig und geheimnisvoll sind die Frauenfiguren, die unsere Sagenwelt bevölkern. Ursula Walser-Biffiger holt 51 Volkserzählungen in die Gegenwart. Sie kreisen um lokale Ahnfrauen, um Ereignisse, die tief in der Walliser Landschaft verwurzelt, über Generationen weitergetragen und zu einem wichtigen Kulturgut geworden sind.
Viele der Sagen stammen aus bekannten Sammlungen, einige waren nur bruchstückhaft überliefert, manche sind komplett neu entstanden – in der Begegnung mit der archaischen Natur der Alpen. Die sorgfältig recherchierten kulturhistorischen Hintergründe legen Zusammenhänge frei, wie sie vielerorts in der Erzähltradition zu finden sind. Sie weisen damit weit über das Wallis hinaus – und machen inspirierendes altes Wissen sowie vergessene Frauengeschichte wieder zugänglich.

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BERGMÜTTER QUELLFRAUEN SPINNERINNEN Sagen und Geschichten aus dem Wallis - фото 1

BERGMÜTTER, QUELLFRAUEN, SPINNERINNEN

Sagen und Geschichten aus dem Wallis

Ursula Walser-Biffiger

Von wilden und weisen Frauen eine Einführung Von wilden und weisen Frauen - фото 2

Von wilden und weisen Frauen – eine Einführung Von wilden und weisen Frauen eine Einführung

Ahnfrauen der Berge und Täler, Urmütter aus den Tiefen der Zeit Ahnfrauen der Berge und Täler, Urmütter aus den Tiefen der Zeit

Die drei Schicksalsfrauen an der Rhonequelle (Gletsch)

Vouivra, die Fluss- und Drachenschlange (verschiedene Orte)

Die strickende Holzmiättärra (Lötschental)

Die Gämsmutter beim Langgletscher (Lötschental)

Die weisse Gämse (Walsersage)

Die Bergmutter und ihr Hornkind (Zermatt)

Die Hohbachspinnerin (Goms)

Die singende Tanne (Goms)

Das Tal der Gräfin Anna (Binntal)

Die Quellfrau Blanka (Leukerbad, Leuk)

Die Kornähren-Madonna (Leuk)

Die weisse Krönleinschlange (Vispertal)

Die Kronschlange z Giblin (Lötschental)

Die Vertreibung der Holzmiättärra (Lötschental)

Geheimnisvolle Wildfrauen, verschwundene Schätze

Marie und die Feen (Val d’Hérens)

Der Schalenstein der Wildfrauen (Val d’Anniviers)

Wirkmächtige Feen (Val d’Anniviers)

Türliwirli – die Zwergenfrau und ihre Bedingungen (Turtmanntal)

Die Schatzhüterin und ihre Tiere (Goms)

Die Gräfin zen Tischen (Belalp)

Die Hure Kathrin und ihre Blüemlisalp (Turtmanntal, Lötschental)

Der Gesang der Suone (Riederalp)

Starke Frauen, schwere Lasten, wilde Tänze

Die Käseträgerinnen vom Binntal und andere starke Weiber (verschiedene Orte)

Vom alten Brauch des Kinderholens (Lötschental)

Das Geheimnis der Kindbetterfluh (Ausserberg)

Die Hebamme und ihr Lohn (Lötschental)

Die Gnadenmutter zu den Hohen Flühen (Mörel)

Die Burdigret vom Bruchigraben (Naters)

Die listige Sennerin (Binntal)

Die Armensünderglocke von Mühlebach (Ernen)

Temperkinder (verschiedene Orte)

Die verteufelte Spinnerin (Lötschental)

Die drei Spinnerinnen (Ernen)

Die büssende Frau auf dem Gletscher (Val de Bagnes)

Der Tanz im Sengboden (Saastal)

Die Jauchzerinnen am Feerberg (Simplon)

Kreszentia und der Geistertanz (Simplon)

Die Kräutertänzerinnen auf der Alp (Goms)

Fliegende Weiber, brennende Hexen, verbotene Orte

Die Hexe im Vispertal (Vispertal)

Die Mattmarkhexe (Saastal)

Als Hexe verbrannt (Ernen, Binntal)

Die Hexe vom Natischerberg (Naters, Blatten)

Der Hexenstein (Simplon)

Wirkmächtige Alte, weise Ahninnen, verborgene Welten

Die alte Schmidtja, Seelenhüterin am Aletschgletscher (Belalp)

Im Kessel der Holzmüotterlini (Oberems)

Die Alpmuetter (Walsersage)

Serafina und ihr Rosenkranz (verschiedene Orte)

Die alten Spinnerinnen und die Steinsuppe (verschiedene Orte)

Die Tödin und die Geisshirtin (verschiedene Orte)

Philomena und ihr Lichtsegen (verschiedene Orte)

Das verlorene Lied – ein Nachklang

Anhang

Von wilden und weisen Frauen eine Einführung

«Die Sage vermag die Klugheit des Herzens zu wecken,

bringt im Menschen das Innere zum Schwingen, erlaubt ihm, anzuknüpfen bei urzeitlichen Ahnungen, die tief unter jedem Wissen vergraben sind.» 1

Wieder sitze ich auf meinem Tschuggu , einem runden, vom Gletscher geschliffenen Felsblock. Er war der Lieblingsplatz in meiner Kindheit und zugleich ein gefährlicher Ort: Schlangen krochen oft durchs nahe Geröll, und ein Abhang lockte in die Tiefe. Doch nichts hielt uns Kinder davon ab, auf diesem Felsen herumzukraxeln, Ängste zu überwinden und die eigenen, wachsenden Kräfte zu spüren. Hier konnte ich träumen und Pläne schmieden, mich auf den warmen Stein legen und den Wolkendrachen bei ihrem Spiel zuschauen. Oder eintauchen in das Reich der Flechten, Moose, Blumen und Käfer, die den Felsen bewohnten, und sehen, wie sich in dieser kleinen Welt die grosse widerspiegelt.

Die Liebe zu den mächtigen Steinen hat mich nicht wieder losgelassen. Ich habe besondere Felsformationen an vielen Stätten der Welt besucht, ihrer Melodie gelauscht, ihre Geschichte erforscht und Geschichten gesammelt, die sich um sie ranken. Sagen und Mythen erzählen von ihnen und von den Menschen, denen sie mehr bedeuteten als totes Gestein. Es enthüllte sich mir eine Mensch-Natur-Beziehung, in der alles als belebt und verbunden erfahren wird – durchdrungen von einer mächtigen Urkraft, einem schöpferischen Prinzip, das sich den Menschen in frühen Zeiten oft in weiblicher Gestalt zeigte.

Spuren dieses ursprünglichen Weltverständnisses, in der die Natur als beseelt erkannt und in ihren weiblichen Qualitäten respektiert und verehrt wird, wollte ich nachgehen. Ich entdeckte sie weltweit in Mythen, in archäologischen Funden und Forschungen, im Brauchtum und im sogenannten Aberglauben, in der Volksfrömmigkeit und in der Kunst, in Namensbezeichnungen und auf Kultplätzen – und nicht zuletzt in den Sagen des Alpenraums und den geheimnisvollen Gestalten, die diese Geschichten bevölkern: listige Alte, mächtige Feen, weise Spinnerinnen, wilde Tänzerinnen, Kräuterfrauen, Schatzhüterinnen, Seelenbegleiterinnen, Heilige, Huren, Hexen und Holzmuetterli, die in ihrer Tschifra (Rückentragkorb) grosse Steinblöcke versetzen und dazu noch stricken.

Allen diesen Wildfrauen ist eine tiefe Verbundenheit und ein wirkmächtiger Umgang mit den Kräften des Naturreichs gemein, das sich in den Sagen bis in die unsichtbare Anderswelt hinein ausdehnt. In diesen Gefilden befindet sich auch der Aufenthaltsort der verstorbenen Ahnen, die von hier aus die Menschen unterweisen, unterstützen, ihren Segen übers Land senden und zur gegebenen Zeit wieder zurückkehren in den Kreis der Irdischen.

In der gelebten Tradition des Wallis haben die Verstorbenen noch immer einen grossen Stellenwert – auch wenn sie bisweilen als sogenannte Arme Seelen daherkommen, die im Gletscher für ihre Sünden büssen müssen. Hier hat sich offensichtlich über das alte Wissen um die Verbundenheit verschiedener Weltensphären eine christliche Korrektur gestülpt, und der Gletscher musste die Funktion des Fegefeuers übernehmen. Die erste Sammlung von Walliser Sagen – von zwei Pfarrherren um 1872 erfasst – zementierte dann gleichsam schriftlich, dass aus dem ursprünglichen andersweltlichen Aufenthaltsort der Toten im Gletscher ein qualvolles Leiden im kalten Sündenreinigungsfeuer wurde.

Sollen die alten Erzählungen nicht einfach zu Gruselgeschichten verkommen, die man touristisch aufbereitet und inszeniert, oder in einem Kontext erstarren, den niemand mehr versteht, tun wir gut daran, sie aufmerksam zu lesen und neu zu gestalten. Das Sich-Sagen-Erzählen war immer schon ein lebendiger Prozess, zu vergleichen mit einem alten, wertvollen Tuch, das von Menschen verschiedener Generationen gesponnen, gefärbt, gewebt, geflickt, aufgetrennt und neu vernäht wird. In der oralen Tradition werden die Sagen immer wieder frisch kundgetan – einer neuen Zeit, Umwelt und Zuhörerschaft angepasst. Sie beweisen sich damit als wandelbares, mündlich weitergetragenes Kulturgut.

So gilt es, viele dieser Geschichten von christlichen, patriarchalen, rationalen und moralischen «Zurechtbiegungen» zu befreien. Tatsächlich lassen sich Überformungen, Dämonisierungen oder Verniedlichungen wie Schichten einer Zwiebel lösen. Freigelegt und entdeckt wird ein Kern, der Kraft und Sinn vermittelt – bis in unsere Gegenwart hinein. Seltsam farblos wirkende Sagen können auf diese Weise wieder lebendig werden, und mit ihnen ändert sich auch der Blick auf die Natur, die spätestens mit der rational-technischen Weltsicht der Aufklärung zum leblosen Objekt erklärt wurde, das es zu vermessen, zu analysieren und auszubeuten galt.

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