Jürgens
Seine Kunst zu zögern
Essay 12
Martin Jürgens
Seine Kunst zu zögern
Elf Versuche zu Robert Walser
© 2006 Oktober Verlag, Münster
Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des
Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster
www.oktoberverlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz: Claudia Rüthschilling
eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmund www.readbox.net
ISBN 978-3-938568-46-0
Inhalt
Vorwort
1 Robert Walser (1975)
2 Die späte Prosa Robert Walsers – ein Krankheitssymptom? (1975)
3 Die Erfahrung der Heteronomie in der späten Prosa Robert Walsers (1978)
4 Ein Lebenslauf als anhaltendes Dementi. Zu einem bodenlosen Kunststück von Robert Walser (1986)
5 »daß man ihn von nun an kenne und grüße« – Zu Robert Walsers »Räuber«-Roman (1987)
6 Anhaltende Zopfzeit. Über meine Großmutter, einen Text von Robert Walser und Lenin (1987)
7 Fern jeder Gattung, nah bei Thun. Über das mimetische Vermögen der Sprache Robert Walsers am Beispiel von »Kleist in Thun« (1991)
8 » so schön beiseit.« Zum Tod des schweizer Schriftstellers Robert Walser (1996)
9 Leichtgewichte, zarte Helden. Zum Erscheinen unbekannter Texte von Robert Walser (2003)
10 Die Aufgabe der Identität. Robert Walsers Helden (2004)
11 »Als ob, als wär‹« – zu einigen Paradiesbildern bei Walser und Kleist (2005)
Bibliographische Hinweise
Es war Zufall, wie es scheint. ›Eigentlich‹ hätte es Alfred Döblin werden sollen – mit seinem Roman »Wallenstein« von 1920, kiloschwer, 739 Seiten lang und schon auf den ersten Seiten mit der lebensprallen Schilderung eines gewaltigen Gelages: das Ganze eine Buch gewordene Opulenz, ein ausschweifender Sprachkatarakt, ohne Zweifel mitreißend.
Wer seit der Kindheit eine Scheu vor Kraftakten hat, vor Sport überhaupt, den mußte das abschrecken, trotz des gut gemeinten Wunsches des Doktorvaters. Daß es aber unversehens Robert Walser werden konnte, lag an der kaum bemerkbaren Anwesenheit des weiß eingeschlagenen Bändchens »Prosa« – eine Auswahl von Walter Höllerer – im chronologisch geordneten Bücherregal. Warum schlug ich es auf, irgendwann in einem Sommer gegen Ende der sechziger Jahre? War es die Langeweile der meist verregneten, glockendurchläuteten Sonntagvormittage in Münster? War es eine Erwähnung des Robert Walser seitens der Tante »Zeit«, deren Feuilleton damals zur Pflichtlektüre für Germanisten gehörte? Wenn man sich nicht erinnern kann, sagt man leichthin »Es fiel mir einfach in die Hände«, meint aber nicht ›irgendwie‹. Man zieht sich seine Lieblingsautoren nicht zu wie den Schnupfen oder einen Lebensabschnittsbegleiter. Wenn etwas wichtig war und geblieben ist, glauben wir nicht gern an den Zufall – eher daran, daß uns etwas zugefallen sei, was für uns bestimmt war. Bestimmt: Das ist magisches Denken, aber vielleicht eines der helleren Art. In ihm ist die interne Vernunft unserer Beziehungen angesprochen (zu Menschen, Büchern, Bildern, Landschaften), also das, was uns so anspricht, daß es uns zum Reden bringt.
Das kann lange anhalten, in meinem Falle mittlerweile über dreißig Jahre. Elf Ergebnisse der in jenem Sommer beginnenden Beschäftigung mit Robert Walser finden sich in diesem Buch. Schon die Beiträge aus den siebziger Jahren kreisen immer erneut um das Problem, wie die »Sonderart Walser« zu benennen sei, die – so Robert Musil – nicht geeignet ist, »einer literarischen Gattung vorzustehen« – ein Umstand, der das literaturwissenschaftliche Handwerkszeug so strapazieren kann, daß zunächst nur negative Merkmalsbestimmungen möglich sind: Es ist auf den ersten Blick das völlige Desinteresse, die Welt vor Augen zu stellen, sie abzuschildern, plastisch erzählend hinzulangen. (Die literarischen Preisboxer dieses Genres wegelagern heute zuhauf in den Eingangszonen der Großbuchhandlungen, neben der Esoterik und den Kochbüchern.) Bei Walser dagegen: Nichts, was einen anspringt, mitreißt und nicht mehr losläßt, sondern der sanfte Sog einer fortgesetzten Rede in eigener Sache, eine Prosa, die den Leser bei Atem läßt, ihm Raum bietet, jetzt brüchig, dann mutwillig sprunghaft, oft verwirrt und untröstlich. Der suggestive Satz Walter Benjamins auf der Rückseite des weißen Buchs, den ich in Verdacht habe, mitverantwortlich dafür zu sein, daß es anfing, formuliert es so: »Walsers Figuren kommen aus der Nacht, wo sie am schwärzesten ist, einer venezianischen, wenn man will, von dürftigen Lampions der Hoffnung erhellten, mit etwas Festglanz im Auge, aber verstört und zum Weinen traurig.«
Es hatte bis zum Ende der sechziger Jahre schon genügend Lektionen in Melancholie gegeben, die ich nicht hatte vermeiden können – vom eisernen familiären Beschweigen des deutschen Faschismus bis zur Ohnmacht angesichts des Krieges der USA gegen Vietnam; es reichte jedenfalls, daß ich mir in der Nähe der walserschen Figuren ›ein freundlich Asyl‹ imaginieren mochte – sicher mit weniger Recht als ich damals meinte beanspruchen zu können.
Gleichviel: Die Sache, das Promotionsprojekt, kam auf den Weg, Döblins »Wallenstein« war vergessen, der Doktorvater (Wolfdietrich Rasch) zeigte sich weiterhin von seiner freundlich-großzügigen Seite, und ein DAAD-Stipendium ermöglichte mehrmonatiges Arbeiten an Walsers Nachlaß in Zürich.
Dort lernte ich Jochen Greven, den Herausgeber der Werke Walsers kennen und damit eine mir bisher unbekannte Haltung verbindlichen Arbeitens – eine Mischung aus unbeirrter Freundlichkeit, geduldiger Strenge und wachem Zweifel an der Stimmigkeit und Gültigkeit des Erreichten. Dies zeigte sich eindrucksvoll in den überaus detailfreudigen Diskussionen zur ersten Publikation des »Räuber« – Romans, an dessen Entzifferung Jochen Greven mich beteiligt hatte. (Im fünften Beitrag dieses Buchs findet sich hierzu Näheres.) Für Robert Walsers posthume ›Karriere‹, seinen Aufstieg vom Außenseiter zum Klassiker 1, für diese noch in den siebziger Jahren nicht erwartbare Entwicklung kann die Rolle Jochen Grevens kaum überschätzt werden. Hätte es ihn und seine Beharrlichkeit nicht gegeben (wenn dies Gedankenexperiment denn gestattet ist), wäre Robert Walser mit einiger Sicherheit das verwilderte literarische Grab geblieben, dessen letzte dilettantische Pflege Sache des wohlmeinenden Carl Seelig geblieben wäre, bis das Gras des Literaturmarktes darüber gewachsen wäre. Spekulative Erwägungen wie diese führen natürlich zu nichts Handfestem, wohl aber zu einer Ahnung davon, mit welcher Lebensleistung wir es hier zu tun haben.
Es waren jedoch nicht nur die Texte Walsers, die während der und seit den Monaten in Zürich ihre Wirkung entfalteten, sondern auch seine Biographie, sein langer Weg abwärts, vor allem der Vorgang der Einweisung in die Psychiatrie und die Jahre bis zu seinem Tod im Schnee am ersten Weihnachtstag 1956: Diese fürsorgliche Roheit der Ärzte, das Reibungslose der bürokratischen Prozesse, die in das Gleichmaß der Tage in Herisau einmündeten, mit dem Abwaschen der Tische, dem Falzen der Papiersäcke, dem Sortieren von Altpapier. All das war für mich empörend, seit ich in Zürich die damals zugänglichen einschlägigen Materialien einsehen konnte (vgl. den zweiten Beitrag in diesem Buch); diese Empörung hält bis heute an, dies wohl deshalb, weil Walser der stummen gesellschaftlichen Gewalt (fast) nichts entgegensetzte als geduldiges Einverständnis. Die von Urs Widmer schon vor über 20 Jahren gestellte Frage, ob das denn »immer der Preis sein« müsse: »ein schönes Werk, auf Kosten eines schönen Lebens« bleibt unbeantwortbar, solange die gesellschaftlichen Verhältnisse – von Marx die Vor geschichte der Menschheit genannt – sich gleich bleiben. Träfe das auch für uns in der Zeit unseres Lebens zu, hätten wir Grund, mit Herrn Keuner zu erbleichen.
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