Kim Bergmann
Fallende Blätter
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Inhaltsverzeichnis
Titel Kim Bergmann Fallende Blätter Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
Morgen mit Tod
Er ist wirklich gut
Ein offenherziger Mann
Ein neuer Freund
Von wegen Sonntag
Briefwechsel
Erpressung?
Eine Flucht
Traurige Zeugnisse
Fast wie in Italien
Blondes Gift
Eine Unterredung
Déjà-vu
Verwicklungen
Der gruselige Freund
Auf und davon
Ein neues Gesicht
Aus der Ferne
Es passt nicht zusammen
Telefonate
Leichte Fälle
Einundzwanzig Briefe
Die Bombe platzt
Kapitulation
Eine Warnung
Die letzte Fahrt
Traurige Heimkehr
Ein unbefriedigender Abschluss
Der Alltag kehrt ein
Enschede
Überraschender Besuch
Vorbereitungen
Die Welt in Scherben
Den Boden unter den Füßen wegziehen
Der letzte Moment
Epilog
Impressum neobooks
Vanessa zog ihren Mantel enger um sich und hob die Schultern an, um dem kalten Nieselregen möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Verdammtes Scheißwetter, dachte sie, aber so richtig konnte der nasse Oktober ihre Laune doch nicht trüben. Dazu war sie zu verliebt, und sie hatte den ganzen Abend ihrer Freundin Christin vom letzten Wochenende vorgeschwärmt. Christin hatte sich für sie gefreut, aber sich auch ein bisschen Sorgen gemacht. „Heißt das, ihr seid jetzt zusammen?“ hatte sie wissen wollen. Vanessa hatte die Frage beiseite geschoben. Zusammen, was hieß das schon. Immerhin war es das dritte Mal, das Gabriel sie allen anderen vorgezogen hatte. Wahrscheinlich also verband sie beide tatsächlich ziemlich viel. Abwarten.
Statt einer direkten Antwort auf Christins Frage hatte sie ein paar Floskeln gemurmelt und sich wieder in die detaillierte Beschreibung der samstäglichen Nacht gestürzt. Die Bilder hatte sie auch jetzt noch lebhaft vor Augen, als sie durch die regnerische Dunkelheit eilte; sie ließen ihre Augen glänzen und ihre Wangen glühen.
Wie hatten sie sich verquatscht, Christin und sie! Erst um zwanzig nach zwölf hatte sie auf die Uhr geguckt und sich fürchterlich erschreckt, weil sie doch morgen fit sein mussten. Vor allem, weil morgen wieder das Steckenpferdreiten angesetzt war. Vanessa schnitt eine Grimasse. Eigentlich fand sie das ja ganz schön, dass der westfälische Friede auf diese Art und Weise jedes Jahr wieder gefeiert wurde, und meist sahen die Kinder mit ihren selbst gebastelten Steckenpferden auch total süß aus. Nur diesmal sollten es weit über tausend werden, hatte sie in der Zeitung gelesen, und wenn sie sich vorstellte, dass sie selbst mit einem leichten Kater und unausgeschlafen bei der Arbeit stehen würde, während draußen über tausend Zehnjährige rumorten, dann wurde ihr ganz anders.
Dass die lauten Viertklässler für sie kein Problem mehr darstellen würden, konnte Vanessa in diesem Moment nicht ahnen.
Sie verließ die Fußgängerzone und überquerte die Hase in Richtung Herrenteichswall. Als sie sich am gegenüberliegenden Ufer vor dem Haarmannsbrunnen, einem der ältesten Arbeitsdenkmäler Deutschland, nach links wandte, hörte sie schräg hinter sich Schritte.
Vanessa erschrak etwas – natürlich war es nicht ungewöhnlich, dass um halb ein Uhr in der Frühe an einem Donnerstag noch Leute in Osnabrück unterwegs waren, aber man weiß ja nie, wer so durch die Nacht schleicht. Sie beschleunigte ihren Schritt, als eine bekannte Stimme „Hey, Vanessa“ rief. Sie drehte sich um und erkannte die Person, die zu der Stimme gehörte. Erleichterung durchflutete sie, und sie blieb stehen, um zu warten.
„Hi, du hier? Was treibt dich denn noch so spät auf die Straße?“
Die andere Person war herangekommen und hob die Hand. „Du.“
Vanessa spürte einen brennenden Schmerz in der Brust, und dann war da nichts mehr.
Der bronzene Bergmann auf dem Haarmannsbrunnen schwang wie seit einem Jahrhundert Schlägel und Eisen, gänzlich unbewegt von der sterbenden jungen Frau zu seinen Füßen.
Ilka wanderte durch den Wald. Ihr war leicht zumute, leicht und glücklich, als sie den Harzgeruch der Bäume wahrnahm, als sie den federnden Waldboden unter den Füßen und Philipps Hand fest und warm in ihrer spürte. Es war Frühsommer, im Unterholz knackte und knisterte es nur so vor Leben, und die Vögel überboten sich in ihren Gesangsdarbietungen.
Speziell dieser eine – was war das denn nur? Nicht, dass Ilka sich mit den gefiederten Freunden besonders gut ausgekannt hätte, aber so einen Vogel hatte sie noch nie gehört. Der war ja lauter als alle anderen, und er klang überhaupt nicht angenehm. Er klang…
…wie ihr Telefon.
Ilka riss mühsam die Augen auf und tastete im Dunkeln auf dem Nachttisch herum, bis sie den Störenfried gefunden hatte, und meldete sich verschlafen. Während sie zuhörte, ordnete sie ihre Gedanken, so gut es gerade ging: Es war nicht Frühsommer, sondern Oktober. Sie war nicht im Wald, sondern allein im Bett. Philipp war nicht ihr Freund, sondern ein dreckiger Betrüger, den sie darüber hinaus andauernd bei der Arbeit traf, es war kurz vor fünf Uhr früh, und sie musste zu einem Leichenfund am Haarmannsbrunnen. Sie knipste das Licht an und mobilisierte all ihre Kräfte, um trotz dieser großartigen Umstände aufzustehen und den Tag anzugehen. Sie wankte unter die Dusche und drehte das Wasser auf lauwarm. Zwar wusste sie, dass kaltes Wasser sie ungleich schneller wecken würde, aber sie hatte es noch nie übers Herz gebracht, derart grausam zu sich selbst zu sein. Auch so tat das nasse Element seine Wirkung, und nur Minuten später verließ sie ihre Wohnung. Auf dem Weg zu ihrem Fahrrad fuhr sie sich mit allen zehn Fingern durch die schlafwirren, kastanienfarbigen Haare und beglückwünschte sich einmal mehr dazu, dass sie sich diesen kurzen Bob hatte schneiden lassen. Es gab ganz einfach nichts Praktischeres, gerade in einem Beruf, der sie morgens in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett warf.
Mit dem Fahrrad war Ilka binnen fünf Minuten durch die dunkle, nasskalte, stille Stadt gesaust und erreichte den Haarmannsbrunnen am Herrenteichswall. Hier stand ein Kollege in Uniform zusammen mit einem Mann von etwa 55 Jahren, der sichtlich verstört immer wieder zu der Toten vor dem Brunnen blickte und sich mit einer Hand an der Tür eines Kastenwagens abstützte. Die ersten Kollegen von der Spurensicherung waren bereits vor Ort und nahmen die Umgebung in Augenschein. Viel konnten sie nicht tun: Im Mülleimer neben der Bank beim Brunnen war fast nichts, und der Boden war gleichmäßig nass geregnet.
Ilka warf einen Blick auf die Tote. Junge Frau, registrierte sie, Mitte zwanzig. Lange blonde Haare, schwarzer Übergangsmantel.
Mit einem freundlichen Gruß trat sie zu dem Kollegen und dem Mann, der vermutlich die Tote gemeldet hatte.
„Kriminalkommissarin Ilka Behnke, guten Morgen.“
Der Uniformierte hob grüßend die Hand. „Scheener, Morgen auch. Das hier ist Robert Gahner, er hat uns verständigt.“
Ilka wandte sich dem verstört blickenden Gahner zu.
„Erzählen Sie mir, was passiert ist.“
Halt suchend lehnte der Mann sich an seinen Wagen, ehe er antwortete. „Ich hab eine Lieferung, die ich um halb fünf abliefern sollte“, und er winkte mit der Hand in Richtung der Fußgängerzone, „Kosmetika und so für eine Drogerie. Ich bin hier vorbei gekommen und hab gesehen, dass da jemand liegt. Komisch, hab ich gedacht, direkt da auf dem Bürgersteig vor dem Zebrastreifen? Vielleicht ist die Person verletzt und braucht Hilfe. Also hab ich angehalten und bin gucken gegangen, und da hab ich gesehen, dass sie noch ein Mädchen ist. Sie hatte keinen Puls und hat sich kalt angefühlt.“
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