Mike legte nachdenklich den Kopf schief. „Ein unpersönliches Verbrechen? Hast du so etwas schon mal erlebt?“
„Nur im Fernsehen gesehen“, gab sie zurück. Ihrer Meinung nach war Mord das persönlichste Verbrechen überhaupt. Natürlich kannte sie die ganzen Serienkillergeschichten: Meist handelte es sich um Männer, die sich auf einen bestimmten Typus beschränkten, aber sie selbst hatte das noch nie erlebt. In allen Fällen, die sie bisher untersucht hatte und die keine reinen Raubmorde gewesen waren, hatte der Täter ein mehr oder minder gutes, grundsätzlich aber sehr persönliches Motiv gehabt.
Ilka warf einen Blick auf ihre Uhr.
„Zeit, dass du Brötchen holst, Mike. Und nach dem Frühstück müssen wir wohl oder übel zu Vanessas Eltern.“
„Da vergeht mir eigentlich der Appetit.“
„Mir auch, aber wir stehen den Tag nicht durch, wenn wir nichts in den Magen bekommen. Also hopp!“
Zwei Stunden später schloss sich die Haustür der Beerkamps hinter den beiden Kriminalkommissaren. Ilka atmete tief durch und versuchte, den Kloß in ihrem Hals aufzulösen. Wie wenig Zeit es doch in Anspruch genommen hatte, das Leben dieser beiden Menschen zu zerstören. Es hatte nur einen Satz dafür gebraucht: „Ihre Tochter ist tot.“
Ilka hasste diesen Teil ihres Berufs. Schlimmer noch als das Überbringen der Nachricht war für sie, dass sie die schockierten, fassungslosen, trauernden Angehörigen danach nicht in Ruhe lassen durfte, sondern dableiben und tausend Dinge fragen musste. Gerade, wenn die Opfer junge Menschen waren, hatte sie die Erfahrung gemacht, dass Eltern meist nur wenig Ahnung davon haben, mit wem genau ihre Sprösslinge verkehrten. Fast nie konnte sich jemand vorstellen, wer seinem Sohn oder seiner Tochter etwas antun wollte. Da aber gerade Eltern die Menschen sind, denen der jeweilige Sprössling einige Dinge vielleicht nicht unbedingt auf die Nase binden muss, ließ sich Ilka grundsätzlich die besten Freunde der Opfer nennen. Diesmal musste sie eine Christin Hauser aufsuchen.
„Die beiden sind unzertrennlich“, hatte die Mutter geschluchzt. „Arbeiten zusammen im Hair & Pare , und sie gehen oft zusammen aus. Sonst telefonieren sie stundenlang.“
Ilka hatte sich den Namen des Mädchens und des Beautysalons notiert.
„Hatte Ihre Tochter einen Freund?“
Die Frau hatte den Kopf geschüttelt.
„Nicht mehr. Sie war etwa zwei Jahre lang mit jemandem zusammen, mit Benjamin Schulze, aber vor ein paar Monaten haben die beiden sich gestritten und getrennt. Inzwischen sprechen sie wieder miteinander, aber er hat eine neue Freundin, und sie hat sich daran nicht sehr gestört. Ich glaube, er war einfach nicht das Richtige für sie. Schade, ich habe ihn gemocht.“
In diesem Moment hatte Frau Beerkamp Ilka so sehr an ihre eigene Mutter erinnert, dass sich ihr der Magen zusammen gezogen hatte. Ja, Vanessa Beerkamps Mutter musste die Hoffnung auf Enkelkinder nun aufgeben – wie hart das ihre eigene Mutter Marieka treffen würde!
Schnell hatte sie sich geräuspert und Mike einen Blick zugeworfen, um zu sehen, ob er noch Fragen hatte. Der hatte ein winziges Kopfschütteln angedeutet, und sie waren unter Beileidsbekundungen gegangen, um herauszufinden, wer der Tochter dieser beiden fassungslosen Menschen das Leben genommen hatte.
Draußen schüttelte sie sich wie ein nasser Hund. Mit einem Blick auf ihren Notizblock sagte sie: „Gut, ich setze auf Christin Hauser. Den Exfreund können wir bei Bedarf später immer noch ansprechen, oder was meinst du?“
Mike nickte entschieden. „Wenn die zusammen arbeiten, ausgehen und sich den Mund fusselig telefonieren, weiß Christin mehr über Vanessa als jeder andere.“
Ilka steckte das Heft wieder ein.
„Dann nichts wie los.“
Christin wohnte in einem winzigen Ein-Zimmer-Appartment. Zwar fraß das den Großteil ihres bescheidenen Gehalts, aber sie liebte es, eine eigene Wohnung zu haben und unabhängig zu sein. Mit drei Leuten war es allerdings schon ziemlich eng in dem Raum, und Mike fühlte sich sichtlich unwohl.
Christin war noch im Schlafanzug, als sie die Tür erst nach den dritten Klingeln öffnete. Sobald sie erfahren hatte, was ihrer Freundin passiert war, war sie in Tränen ausgebrochen und hatte sich bis jetzt nicht beruhigen können.
Ilka schickte Mike in der winzigen Küchenzeile auf die Suche nach Tee, um ihm etwas zu tun zu geben, und setzte sich selbst behutsam neben Christin auf die Schlafcouch.
Das Mädchen war vielleicht ein, zwei Jahre jünger als ihre Freundin, hatte schwarze, fransig geschnittene Haare mit blonden Strähnchen, zentimeterlange rot und schwarz lackierte Krallen und trug rührenderweise einen abgenutzten Frotteeschlafanzug mit kleinen Hunden darauf. Jede Wette, dass noch nie ein Freund den zu Gesicht bekommen hat, ging es Ilka durch den Kopf.
„Frau Hauser“, begann sie sanft, „wir möchten so schnell wie möglich aufklären, was Ihrer Freundin passiert ist. Haben Sie sie gestern gesehen?“
Das Mädchen nickte und schniefte. „Wir waren nach der Arbeit noch aus, haben zu Abend gegessen und dann in einer Lounge etwas getrunken und gequatscht. Eigentlich wollten wir gar nicht so lange bleiben, aber sie war so aufgeregt und hatte so viel zu erzählen – oh Gott, sie war so glücklich!“
Und sie senkte das Gesicht in die Hände und wimmerte.
Mike drehte sich mit dem Wasserkocher in den Händen um und hob fragend die Brauen. Ilka winkte ihm, sich wieder um den Tee zu kümmern.
„Warum war sie glücklich, Frau Hauser?“
„Sagen Sie doch Christin, bitte, das tut jeder. Vanessa war total happy, weil sie ein wunderbares Wochenende mit dem Typen verbracht hat, in den sie bis über beide Ohren verliebt ist.“
„Und jetzt lassen Sie mich raten“, sagte Ilka, „es handelt sich nicht um Benjamin Schulze.“
Christin blickte sie zwischen tränenfeuchten Wimpern überrascht an.
„Was? Nein, gar nicht. Ich glaube, in den war sie nicht einmal bis über beide Ohren verliebt, als sie noch mit ihm zusammen war. Nein, diesmal hat es sie richtig erwischt, mit Herzklopfen und weichen Knien und allem Drum und Dran, und ich hab mir etwas Sorgen um sie gemacht, weil ich nicht einschätzen kann, wie der Typ drauf ist, ob er sie nicht nur verarscht oder so.“
„Kennen Sie den Namen?“
„Den kennen Sie wahrscheinlich auch: Gabriel, der Sänger.“
Ilka entsann sich, den Namen zumindest mal auf einem Plakat gelesen zu haben, und auch Mike nickte.
„Kennen Sie seinen vollen Namen?“
„Ich… ich glaube, er heißt eigentlich Arndt Gabriel, aber für seinen Künstlernamen hat den Vornamen weggelassen. Gabriel fand er wohl cool genug, Vanessa hat erzählt, dass er sagt, so heißt ein Engel oder so.“
„Da hat er sogar recht.“ Mike kam mit einem Becher herüber, in dem ein Teebeutel zog, und stellte ihn vor Christin ab. „Was können Sie uns sonst noch über Vanessa erzählen? Lassen Sie sich ruhig Zeit – wir müssen ein möglichst genaues Bild von ihr haben.“
Eine gute Stunde später hatten sie ein ziemlich genaues Bild von ihr: Ein Bild, wie es nur eine liebevolle beste Freundin zeichnen kann. Vanessa war lebenslustig, aber nicht übermäßig wild gewesen, freundlich, voller lustiger Einfälle, einfühlsam, eben die beste Freundin, die man sich vorstellen kann. Und rasend verliebt in diesen Gabriel. Von dem hätte sie auch den ganzen Abend schwärmen müssen, erklärte Christin, sonst wäre sie gar nicht mehr so spät in dieser Ecke unterwegs gewesen, wo sie dann letztendlich gestorben sei. Erst um kurz vor halb eins hätten sie sich nach Hause aufgemacht. Ein wenig erschrocken seien sie gewesen, weil es doch so spät war und sie heute arbeiten mussten. Darum habe sie auch heute etwas verschlafen und müsse dringend im Salon anrufen.
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