Daniela legte den Kopf zur Seite und betrachtete sie einige Sekunden lang schweigend.
„Du meist das wirklich ernst, nicht wahr? Du bist doch immer wieder ein Wunder zum Staunen. A propos Staunen“, sie senkte die Stimme, so tief sie konnte: „Wie machst du das bloß, Frau Kettler?“
Mit in Falten gelegter Stirn imitierte sie Professor Kühne so treffend, dass Frauke kichern musste.
„Nee, im Ernst.“ Daniela klang wieder normal. „Woher weißt du so was? Woher wusstest du, dass das Zitat von Boccaccio war, wer auch immer das sein mag?“
Frauke zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht genau… das ist halt so, dass Dante, Petrarca und er in der italienschen Literaturgeschichte eine Art Dreigestirn bilden. Wenn man nach einem Namen gefragt wird, und die anderen beiden werden genannt, dann kann man sich sicher sein, dass die Antwort der Dritte ist. Und Boccaccio – weißt du was, ich bringe dir mal eins seiner Bücher mit.“
Der halb entsetzte Blick der Freundin brachte sie zum Lachen.
„Keine Angst, du wirst ihn mögen. Ich rede vom Decameron, das sind viele kleine Kurzgeschichten, die sich beispielsweise um lüsterne Mönche drehen. Ist ausgesprochen kurzweilig und manchmal ein bisschen bösartig.“
Daniela schauderte kurz bei dem Gedanken daran, dass sie sich bei Lektüre von vor wer weiß wie vielen Jahrhunderten amüsieren sollte, doch dann bekam sie einen Geistesblitz.
„Pass auf“, wandte sie sich an Frauke. „Ich guck mir das Buch mal an, und dafür kommst du heute Abend mit mir ins Mexx . Da ist ein Konzert von Gabriel, den wirst du mögen, hat ´ne Menge intelligenter Texte und so. Ich stehe auf der Gästeliste, weil… hm, ich ihn ganz gut kenne. Und hinter meinem Namen auf der Liste steht +1, ich kann also noch jemanden mitbringen, und es wär doch bestimmt total witzig, wenn wir da zusammen auflaufen würden, oder? Kostet dich dann auch nichts.“
In diesem Moment kam ein Kommilitone Danielas angeschlendert und blieb vor den Mädchen stehen. Frauke kannte ihn vom Sehen und wusste nicht Recht, wie sie ihn einordnen sollte: Er trug betont lässige Kleidung, ein Augenbrauenpiercing mit einem türkisen Stein und eine Frisur, die Unmengen Gel erforderte. Was Frauke aber besonders seltsam vorkam, war, dass er immer müde aussah. Jetzt heftete er seine geschwollenen roten Augen auf Daniela, und ein breites, träges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. „Heeeey, Dany! Wie schaut’s?“
Daniela umarmte ihn herzlich zur Begrüßung. „Danke, bestens. Kennt ihr euch? Peter – Frauke, Frauke – Peter“, stellte sie vor. Frauke nickte dem Jungen zu, der sie mit einem Seitenblick streifte und „hi“ murmelte, ehe er sich wieder an Daniela wandte.
„Hab ich das richtig mitgekriegt gestern, haben dich echt die Bullen angerufen?“
Daniela nickte. „Ja, aber ich konnte ihnen nicht helfen. Ein Mädchen ist ermordet worden, das ich ein paar Mal gesehen hatte.“
Frauke machte große Augen, und Peter sagte: „Das ist ja krass, Alter! Also… also hatte das gar nichts zu tun mit…?“
Daniela stupste ihn sanft an der Schulter an. „Quatsch. Und du weißt ja, selbst wenn, ich weiß von nichts. Mach dir mal keine Sorgen.“
Das war es offensichtlich, was Peter hatte hören wollen, und nach ein paar unzusammenhängenden Abschiedsworten schlurfte er weiter.
Frauke starrte ihm hinterher.
„Was war das denn?“
Daniela zuckte die Achseln. „Was meinst du?“
„Erstmal: Wovon weißt du nichts?“
Ihre Freundin machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Ach so, war das nicht offensichtlich? Peter dealt mit Gras; manchmal glaube ich allerdings, dass er selbst sein bester Kunde ist.“
„Und du deckst das?“
„Ach komm, das ist doch nicht so schlimm. Und Peter ist echt ein ganz Lieber, glaub mir.“
Frauke blickte zweifelnd drein, beließ es aber erstmal dabei. Der andere Punkt war nämlich eigentlich noch interessanter.
„Okay, und zweitens: Du wurdest wegen eines Mordes von der Polizei angerufen? Warum erzählst du so etwas denn nicht?“
„Wir haben uns doch seitdem gar nicht gesehen, und du magst es ja nicht, in den Seminaren zu quatschen“, verteidigte Daniela sich. „Und so interessant ist das jetzt auch nicht. Ich hab ja gesagt, ich kannte das Mädchen kaum und konnte der Polizei nicht helfen.“
„Und wie kommen die dann auf dich?“
„Das Mädchen, Vanessa, war am Samstag auf demselben Konzert wie ich. Ich weiß nicht, ob die Polizei da jetzt einen Zusammenhang sieht oder erst einmal in alle Richtungen ermittelt. Das wird sich wohl zeigen. Aber hey, wenn dich das interessiert, dann ist das noch ein Grund mehr, mit zu Gabriels Konzert zu kommen, das Samstag war nämlich auch eins von ihm. Bitte sag ja!“
Frauke wollte eigentlich das Lernen für ihre Doktorarbeit als Entschuldigung anführen, denn Clubbesuche und Konzerte gehörten so gar nicht zu ihren bevorzugten Freizeitbeschäftigungen, doch Daniela kannte die ungleiche Freundin gut genug, dass sie die Unterlippe leicht vorschob und einen Hundeblick aufsetzte. „Bitte! Du musst doch auch mal was anderes sehen als deine Bücher, und das würde doch so viel Spaß machen! Bitte, bitte, bitte!“
Frauke blickte auf in das bettelnde Gesicht – Daniela war fast einen Kopf größer als sie – und gab lachend auf.
„Okay, okay. Wann soll es denn losgehen?“
Daniela ließ einen triumphierenden kleinen Schrei hören.
„Ich hol dich um sieben ab, ja? Bis dahin bin ich nicht erreichbar.“
Sie schwang ihre Tasche über ihre Schulter, drehte sich einmal um sich selbst, winkte kurz und tänzelte davon.
Damit kann ich nicht mehr absagen, dachte Frauke und musste leise lächeln. Daniela kannte sie eben doch sehr gut.
Seufzend stellte sie in Gedanken den Arbeitsplan für den Tag um.
Sie glaubte fest an Regeln und Pläne, nach denen sie ihr Leben ausrichtete. Mit sechzehn hatte sie in einem Verkehrsunfall ihre Eltern verloren; Geschwister hatte sie nicht. Ihre Eltern – freundliche, arbeitsame, grundsolide Menschen – hatten eine Lebensversicherung abgeschlossen, von der Frauke ihr Leben bis zum Abitur und durch das Studium hindurch finanziert hatte. Seit sie die Doktorarbeit begonnen hatte, bekam sie ein Stipendium, das sie als sehr großzügig ansah; ihre finanziellen Bedürfnisse waren relativ gering. Sie ging selten aus, trank kaum Alkohol, kochte bescheiden und verbrachte den Großteil ihrer Zeit tatsächlich in der Bibliothek. An Kleidung war sie nur insoweit interessiert, als dass sie gern sauber, ordentlich und adrett aussah. Marken waren für sie kein Muss, und sie war objektiv genug um zu erkennen, dass ihr nicht jeder Modetrend stand. Das momentane Angebot von Hüfthosen und gerade geschnittenen Oberteilen stimmte sie sehr zufrieden, da sie eher knabenhaft gebaut und der Unterschied zwischen Taillen- und Hüftumfang bei ihr nur gering war. Hin und wieder gestattete sie sich genügend weibliche Eitelkeit, um auf Danielas beeindruckende Oberweite und Kurven neidisch zu sein, doch meist beendete sie solche Gedanken mit der Feststellung, dass sie nun mal unterschiedliche Typen waren.
Tatsächlich wunderte sie sich oft heimlich, was die Freundin zu ihr hinzog. Seit sie die Lehramtsstudentin in einer Germanistikvorlesung kennen gelernt hatten, hatten sie sich oft getroffen, was auch durchaus an Danielas ausgeprägter Treue lag. Frauke musste sich eingestehen, dass sie selbst dazu neigte, soziale Bindungen einschlafen zu lassen. Daniela war so impulsiv, extrovertiert und genusssüchtig, wie sie selbst unflexibel, still und vergeistigt war. Sie selbst hatte Daniela ob ihrer Lebendigkeit willen gern, und sie war vernünftig genug um einzusehen, dass für Daniela umgekehrt ebenfalls die charakterlichen Unterschiede fesselnd sein mussten, auch, wenn sie sich selbst für so faszinierend hielt wie ein Stück Brot. Also musste sie hier wohl nicht verstehen, nur dankbar sein.
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