Danielas Pläne jedoch sahen anderes vor. Nachdem sie einige Minuten lang mit gleich gesinnten Mädchen atemlose Kommentare über das eben Gesehene ausgetauscht hatte, wirbelte sie wieder zu Frauke zurück und sagte: „Jetzt machen sie den Raum für seine besonderen Gäste auf. Komm, dann lernst du Gabriel auch persönlich kennen.“
Mit grenzenloser Energie zog sie die sich sträubende Frauke hinter sich her.
Das Zimmer für die Aftershowparty war klein und gemütlich; ein ovaler Tisch stand im Raum, rund fünfzehn Stühle gruppierten sich darum. Gemeinsam mit Frauke und Daniela schwappte eine Welle ebenfalls Eingeladener herein, und Fraukes Stimmung sank tatsächlich noch etwas mehr, als sie sah, dass es sich ausschließlich um Frauen handelte. Außerdem schien es, als favorisiere der Sänger einen bestimmten Typ: Die vertretenen Haarfarben reichten von aschblond über weizenfarbig bis hin zur Schattierung dunklen Honigs, und Danielas kurvige Figur war ganz offenbar ein Paradebeispiel für des Sängers Vorlieben. Frauke erkannte wenig überrascht das Mädchen wieder, das sie anfangs mit ihrer Freundin verwechselt hatte.
Sie fand es fast unheimlich zu sehen, wie der Raum sich mit blonden Sexbomben füllte, und kam sich in all dem Glanz und Strahlen vor wie eine kleine schwarze Fliege in einem Honigtopf. Sie sank auf einen der Stühle und wünschte sich weit, weit fort.
Das Gekicher und Getuschel wurde zu Kreischen, als schließlich durch eine Tür am hinteren Ende des Raums der Sänger eintrat. Stühle wurden nach hinten gestoßen, als die Mädchen aufsprangen, um Gabriel zu begrüßen. Er umarmte wahllos und küsste Wangen und lächelte sich durch all die Komplimente über sein wundervolles Konzert. In seinem Kielwasser betrat ein zweiter Mann den Raum, bei dessen Anblick Frauke fast lachen musste, weil er so deplaziert wirkte. Hinter dem charismatischen, schlanken Sänger sah er klein, vierschrötig und unscheinbar aus, doch die Mädchen begrüßten ihn ebenfalls, wenn auch etwas verhaltener als Gabriel.
Als Daniela endlich wieder neben ihr saß, flüsterte Frauke ihr zu: „Wer ist der andere Typ?“ Daniela flüsterte zurück: „Das ist Paul, Gabriels bester Freund. Die beiden kennen sich seit den Schultagen, und er ist immer dabei. Toll, nicht wahr?“
Frauke betrachtete Paul eingehend und dachte, dass es sicher schön war, dass die beiden sich so lange kannten und mochten – allerdings war ihr Paul nicht ein bisschen sympathischer als der Sänger; gegenteilig fehlte ihm auch noch die Anziehungskraft, die von seinem berühmten Freund ausging.
Gabriel sorgte mit einer Handbewegung dafür, dass mehrere Sektflaschen geöffnet und die Mädchen damit versorgt wurden, während er selbst sich Gin bringen ließ und Paul, wie es schien, Whisky. Dann hob Gabriel die Hand, und das Geschnatter verstummte.
„Wie ihr sicherlich mitbekommen habt, ist eine gute Freundin von uns gestorben. Vanessa Beerkamp ist ermordet worden, und die Polizei untersucht ihren Tod. Hoffen wir, dass sie das Schwein baldmöglichst kriegen.“ Er hob sein Glas. „Auf Vanessa!“
Ein gutes Dutzend schlanker Mädchenhände reckte Sektgläser in die Luft. „Auf Vanessa!“, echote es vielstimmig.
„Wir werden dich vermissen“, sagte der Sänger leise, ehe er sich räusperte, aufschaute und sagte: „Aber jetzt zu etwas anderem.“ Das „andere“ entpuppte sich als Thema von solcher Oberflächlichkeit, dass Frauke ihre sympathische Regung, die sie während des Toastes auf das tote Mädchen gehabt hatte, sofort wieder bereute.
Sie hörte nur mit einem halben Ohr zu, wie Gabriel monologisierte, und betrachtete das seltsame Ensemble, in das sie hier geraten war. Jeder schien seine Aufgabe zu kennen und zu erfüllen: Gabriel war es, der sprach. Die Mädchen waren die, die zuhörten, lachten, ein Hohlkreuz machten und jede Menge Zähne zeigten, und der seltsame Jugendfreund saß mit wissendem Lächeln stumm neben seinem Kumpel und betrachtete nicht eben unauffällig die zahlreichen Dekolletes um sich herum.
Was um alles in der Welt fand Daniela bloß daran, hier zu sitzen? Verstohlen schaute sie die Freundin von der Seite an, doch deren Blicke hingen wie verzaubert an den Sängerlippen. Frauke ließ den Blick weiterwandern und traf direkt auf den aus den kleinen Augen Pauls, die nachdenklich auf sie gerichtet waren. Ein kleiner Schauder lief über ihren Rücken, und unwillkürlich blickte sie rasch wie der Rest der Mädchen zum Sänger hinüber und bemühte sich, ihm zuzuhören.
Offenbar erzählte er gerade von Dingen, die jemand anderer gesagt hatte, um dann zu erklären, warum diese Ansicht falsch und wie seine eigene Sicht der Dinge war. Widerstrebend musste sie ihm Eloquenz zugestehen, doch was er sagte, kam ihr zweidimensional und boshaft vor.
Mitten in diesen Gedankengängen hörte sie etwas, das sie aufmerken ließ.
„…und wir stritten darüber, ob man das so sagen kann oder nicht. Und dieser engstirnige Trottel bestand doch tatsächlich darauf, dass diese Frau böse sei. ‚Böse’, ich bitte euch, was für ein antiquierter Begriff. Den hat die Zivilisation doch längst ausgerottet. Es ist lächerlich, Menschen in gut und böse einzuteilen. Menschen sind entweder langweilig oder amüsant.“
Frauke neigte den Kopf und lauschte den letzten beiden Sätzen nach. „Oscar Wilde“, murmelte sie halblaut.
Gabriel zuckte zusammen und richtete sich auf. Er sah sie zum ersten Mal direkt an. Die anderen Mädchen stellten ihr Gekicher ein, als er sich zu Paul umdrehte. Sein kleinerer Freund beantwortete den Blick mit hochgezogenen Brauen, und Gabriel wandte sich wieder an Frauke und musterte sie eingehend.
„Das ist vollkommen korrekt. Und ich habe das Vergnügen mit…?“
„Frauke Kettler“, sagte Frauke und fühlte sich sehr unwohl, als sie alle Augen im Raum auf sich gerichtet sah. „Ich bin Danielas plus Eins“, fügte sie hinzu, als der Sänger sie weiter schweigend anblickte.
Sie spürte, wie Daniela neben ihr zusammen fuhr. Verdammt, dachte sie, jetzt verderbe ich ihr den Abend doch noch.
Gabriel jedoch schenkte Daniela ein Lächeln, das ihre Knie in Pudding verwandelte.
„Danny, Häschen, du bist doch immer für eine Überraschung gut.“
Frauke verschluckte sich vor Empörung beinahe, doch Daniela atmete erleichtert auf und strahlte Gabriel an.
Der blickte zurück dem Mädchen mit dem kurzen schwarzen Zopf.
„Soso, Frauke Kettler. Und was machst du so, wenn du nicht Oscar Wilde liest?“
Frauke schluckte und sagte leise: „Ich schreibe an meiner Doktorarbeit.“
Gabriels hob die linke Braue und fragte: „Wie bitte?“
Frauke antwortete mit erhobener Stimme: „Ich mach’ meinen Doktor.“
Gabriel verzog den Mund zu einem breiten Grinsen.
„Und ich dachte, ich hätte mich verhört. Tut mir Leid, dass ich nachfragen musste, Kleines, aber in diesen Kreisen hätte ich höchstens so etwas erwartet wie ‚Ich mach’s meinem Doktor’.“
Die Spannung im Raum löste sich, und Pauls Wiehern wurde von dem vielfacher perlenden Lachen der Mädchen übertönt.
Fassungslos schaute Frauke sich um. Verstand denn keine von ihnen, dass der wunderbare Gabriel sie gerade alle beleidigt hatte? Doch keine der anderen erwiderte ihren Blick, und als sie Gabriel wieder anschaute, spielte ein kleines Lächeln um seine Lippen. Mit seinem Ginglas deutete er ein winziges Prosit an.
Frauke senkte elend den Blick, griff nach ihrer Handtasche und murmelte der kichernden Daniela zu: „Ich fahre heim, viel Spaß noch.“
Dann wandte sie sich fluchtartig zur Tür. Aus den Augenwinkeln sah sie noch, wie Danielas Lachen kurz erstarb und sie unschlüssig wirkte: Sollte sie der Freundin folgen oder bleiben, jetzt, wo Gabriel sie direkt und vor allen anderen so freundlich angesprochen hatte?
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