Mike zuckte die Achseln. „Er hat wohl das gewisse Etwas, wenn man es erstmal erkennt. Und sein Geschmack ist tatsächlich exzellent – wenn die kleine Mühlenstedt nicht die Grippe gehabt hätte, wäre sie der Hammer gewesen, da bin ich mir ziemlich sicher.“
Ilka verdrehte die Augen.
Stunden später klingelte Ilka bei ihren Eltern. Im Laufe des Tages hatten Mike und sie noch mit Vanessas entsetzten Kollegen einerseits und mit Kerstin Hornbach und Daniela Möllner andererseits gesprochen. Ersteres Gespräch ergab nichts, bis auf einige Tränen, und abgesehen von weniger Niesern hatten die Gespräche mit den beiden Gabriel-Fans frappierend an das mit Jenny Mühlenstedt erinnert: Sie hatten Vanessa oberflächlich gekannt, waren erschrocken, konnten aber nichts Besonderes aussagen. Beide Mädchen waren am Samstag auf dem Konzert gewesen; beide waren enttäuscht heimgekehrt, als Gabriel mit Vanessa verschwunden war. Beide sagten aus, sie seien in der vergangenen Nacht daheim gewesen, keine von ihnen hatte dafür einen Zeugen. Sie teilten auch Jennys Überzeugung, die einzig Richtige für Gabriel zu sein. Ilka war angewidert, aber was ihr tatsächlich keine Ruhe ließ, war die Erinnerung an das Gespräch mit Vanessas Eltern. Also hatte sie am Nachmittag bei ihren Eltern angerufen und sich zum Abendessen eingeladen.
Uwe Behnke öffnete die Tür und nahm seine Tochter lächelnd in die Arme.
„Schön, dich zu sehen. Komm rein, Marieka ist in der Küche. Es gibt Stopsel.“
Und er strahlte, während Ilkas Lächeln etwas verblasste. Stopsel? Bäh. Ihr Vater liebte das fettige Gemisch aus zerkleinertem Schweinefleisch, Speck und Grütze, das er auf dick gebuttertes Schwarzbrot häufte und mit Spiegelei verzierte, aber sie selbst fand es ekelhaft.
Wann immer Freunde von außerhalb sie im Herbst oder Winter besuchen kamen, hieß es früher oder später vor irgendeiner Fleischerei: „Stopsel? Was ist das denn? Das klingt lustig, wollen wir das essen?“ Und Ilka wehrte jedes Mal entschieden ab.
Allerdings war auch Marieka nicht so hingerissen von dieser regionaltypischen Spezialität, und als Ilka unter dem herben Stopselgeruch einen leichten Rosmarinduft wahrnahm, während sie die Küchentür öffnete, schöpfte sie wieder Hoffnung. Marieka legte den Löffel weg, mit dem sie gerade die Rosmarin-Sahnesauce abgeschmeckt hatte, in der die Hähnchenfiletstreifen für sie und ihre Tochter schmurgelten, um drückte Ilka an sich.
„Hallo, Liebes! Dein Anruf hat mich vor Stopsel gerettet. Ich mach jetzt nur welches für deinen Vater, und wir bekommen etwas Leckeres.“ Sie zwinkerte ihr zu und winkte in Richtung des Küchenschranks. „Deck mal den Tisch, ja?“
Das Abendessen verlief friedlich; Marieka erzählte von den Blumen, die sie zum Überwintern in den Keller gebracht hatte, und von der Scheidung der Tochter ihrer Freundin. Uwe warf hin und wieder einen trockenen Kommentar ein, und Ilka spürte, wie sie das sanft plätschernde Erzählen angenehm beruhigte. Dann allerdings fragte ihre Mutter, was es denn Neues gebe, und widerstrebend gab sie in knappen Worten die Geschehnisse des Tages wieder. Uwe zog die Brauen zusammen, und Marieka ließ einen klagenden Ton hören. „Wie schrecklich! So ein junges Ding – sie ist ja sogar jünger als du! Ja, da sieht man doch, dass man für jeden Tag dankbar sein muss.“ Rasch drückte sie die Hand ihrer Tochter. „Hast du schon irgendwelche Anhaltspunkte?“
Uwe räusperte sich, aber Ilka war schneller. „Mama, du weißt doch, dass ich darüber nicht reden darf. Lass uns das Thema wechseln, ja?“
Marieka nickte reuig. „Tut mir Leid, es ist nur so empörend. Aber du hast Recht. Ich wollte dich sowieso noch fragen, ob du Philipp mal wieder gesehen hast.“
Ilka unterdrückte ein Stöhnen. Lieber würde sie alles über den Mord ausplaudern als diese Geschichte noch einmal aufzuwärmen.
„Ja, ich sehe ihn immer mal wieder auf dem Revier, und das ist keine Freude.“
Marieka schob ihr letztes Stück Hähnchen hin und her.
„Es geht mich ja nichts an, Liebes, aber meinst du nicht, dass ein Fehltritt vielleicht verzeihlich wäre? Ihr habt euch doch so gut verstanden…“
Ilka seufzte tief. Sie würde wohl deutlicher werden müssen, als sie das bisher gewesen war.
„Theoretisch, wenn wir zu der Zeit Probleme gehabt hätten oder so, dann wäre das vielleicht etwas anderes gewesen. Oder wenn er auf einer Party und betrunken gewesen wäre. Aber es lief gerade alles super, und er war stocknüchtern, als er hat sich klaren Geistes dazu entschieden hat, mit diesem Anfängerhäschen ins Bett zu springen. Und wenn ich einen Mann an der Seite hätte, der bei jedem neu eingestellten Polizistinnenhintern, der gerade jung und knackig den Sporttest bestanden hat, in Versuchung gerät, dann hätte ich keine ruhige Minute mehr. Tut mir Leid, Mama, aber das Vertrauen ist weg.“
Marieka machte ein etwas erschrockenes Gesicht – die näheren Umstände, die zum Bruch in der Beziehung ihrer Tochter geführt hatten, waren ihr nicht bekannt gewesen.
„Was für ein Jammer…“, murmelte sie schließlich. „Hoffentlich lernst du bald wieder einen netten jungen Mann kennen. Es ist doch schöner, wenn man zu zweit ist.“
Uwe ließ ein zustimmendes Brummen ertönen, und Ilka betrachtete einen Moment lang gerührt, wie ihre Eltern einen liebevollen Blick austauschten.
„Ich sehe, was ich tun kann. Aber ich verspreche nichts“, sagte sie.
Professor Kühne ließ seine Taschenuhr aufschnappen, warf einen Blick darauf und seufzte.
„Also, meine Damen und Herren, Sie haben es fast geschafft. Letzte Frage: Von wem stammte das Zitat, das ich eben vorgetragen habe?“
Er betrachtete die Gesichter der vielen jungen Leute, die es sorgfältig vermieden, seinem Blick zu begegnen.
„Weiß es niemand?“
Leises Geraschel zeigte an, dass die Studenten im Geiste bereits im Wochenende weilten und sich durch verstohlenes Einpacken ihrer Unterlagen darauf vorbereiteten, sofort mit Seminarschluss aus dem Raum stürmen zu können.
Leise seufzte der Professor noch einmal. Er würde es nie verstehen können, dass diese jungen Personen ihre Partys und… und Handys oder so interessanter fanden als italienische Literaturgeschichte, aber da dem offenbar so war, gab er ihnen eine Hilfestellung.
„Na, kommen Sie. Es war nicht Dante, nicht Petrarca…?“
In der Seitenreihe am Fenster hob sich eine schmale Hand, und eine ruhige, hohe Stimme konstatierte: „Dann war es Boccaccio.“
Professor Kühne nickte dankbar. „Richtig, Frau Kettler. Und jetzt ab ins Wochenende mit Ihnen, Sie können es ja kaum noch erwarten.“
Der letzte Halbsatz ging bereits im Geraschel und Getrampel der fünfundzwanzig Studenten unter, die gleichzeitig aufsprangen und zur Tür drängten.
Der Professor schüttelte leise den Kopf, dachte, dass die junge Kettler doch die Einzige sei, die ein bisschen Interesse an den Tag legte, und verließ den Seminarraum, um sich für das Wochenende in den Ohrensessel in seinem Arbeitszimmer zurückzuziehen.
Draußen im Flur musste er den fliegenden blonden Haaren einer seiner Studentinnen ausweichen, die gerade energisch den Kopf schüttelte. Dass die fröhliche, desinteressierte Daniela Möllner sich so die Müdigkeit abzuschütteln versuchte, die sie in diesem schnarchlangweiligen Seminar immer heimsuchte, ahnte der würdige Mann glücklicherweise nicht.
„Huch!“ Geschmeidig sprang Daniela aus des Professors Weg, schenkte ihm ein breites Lächeln, bis er vorbei war und wandte sich dann wieder der Freundin zu.
„Himmel, ich danke dir, dass du immer zu diesen Stunden mitkommst, obwohl du nicht musst. Ohne dich würde ich einschlafen.“
Frauke blickte sie bass erstaunt an.
„Machst du Witze? Ich hätte dieses Seminar auf jeden Fall besucht. Italienische Literaturgeschichte aus der Renaissance ist ein unheimlich wichtiges Kapitel, und gerade durch das damalige Mäzenatentum auch sehr ergiebig. Und solche Sachen wie der ‚Rasende Roland’ machen die ganzen Jahreszahlen doch locker wieder wett, oder?“
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