Erst als Daniels drei Freunde einen ersten Wettlauf entlang der Längsseite des Sandplatzes gemacht haben, den Hananja, der jetzt Sadrach heißt, gewonnen hat, erhebt sich Daniel von seinem Sitz und schlendert langsam zu den andern, als ob er sich nun doch anders besonnen hätte.
„Los, dreimal rund um das Feld“, ruft er plötzlich, als er bei ihnen ist, und alle drei laufen überrascht Daniel hinterher, so schnell sie können. Der vergrößert seinen Vorsprung und kommt als Erster, rasch atmend und am nackten, von der Sonne gebräunten Oberkörper schwitzend ans Ziel, wo er lachend einen nach dem andern erwartet.
„Daniel, du bist der Beste“, sagt Mesach, der als Letzter einläuft, vollkommen außer Atem.
Dass Misael, so sein israelitischer Name, ihn mit seinem ursprünglichen Namen angesprochen hat, ist für Daniel der schönste Preis für seinen Sieg. Seit ihnen der König die neuen babylonischen Namen gegeben hat, dürfen sich die vier Freunde nicht mehr mit ihren alten Namen ansprechen. Hier auf dem Spielfeld, wenn kein aufmerksamer Bewacher und auch kein Mitschüler in der Nähe oder ihr Lehrer, der sie neben allem andern im ersten Jahr auch in den körperlichen Übungen unterrichtet, dabei ist, kann das Verbot ja einmal durchbrochen werden. Doch die drei andern haben sich so sehr an ihre neuen Namen gewöhnt, dass sie auch an diesem Ort Daniel nur mit Beltsazar ansprechen. Wie schnell könnte man sich sonst einmal verplappern.
Als der Bewacher wieder näher kommt und er die Zeit für die lockeren Spiele für abgelaufen hält, beenden die vier und auch die acht Babylonier ihre Spiele und Wettkämpfe und eilen zu der Ecke, wo sie ihr Oberkleid abgelegt haben, schlüpfen hinein und lassen sich von dem Bewacher wieder in zwei Reihen durch die Stadt in den Palast zurückführen.
Solche Stunden ohne Lehrer, wo sie ihre Spiele und Wettkämpfe selber bestimmen können, sind selten. Die Stunden für die körperlichen Übungen mit dem Lehrer finden sonst jeweils im kleinsten der drei Innenhöfe des Palastes statt.
Wie sie in den Palast zurückkehren, empfängt sie Hased, ihr Lehrer, in einem kleinen, kahlen Zimmer. Die acht babylonischen Jungen werden von einem anderen Lehrer in einem angrenzenden Raum unterrichtet.
Die vier setzen sich vor ihrem Lehrer auf den kühlenden Steinboden.
Hased ist ein älterer Mann, der auch israelitisch spricht, ihnen aber bereits ein wenig die babylonische Sprache beigebracht hat, aber auch, wie sie sich im Palast oder im Schloss zu benehmen hätten und wie sie sich verhalten müssten, falls sie einmal zum König Nebukadnezar gerufen würden, was aber seit der ersten Audienz im kleinen Vorzimmer des Thronsaals nicht mehr geschehen ist. Allzu gerne würden die Knaben einmal einen Blick in den Thronsaal werfen. Doch das ist ihnen ausdrücklich verboten. Zudem stehen immer zwei Soldaten davor Wache.
„Heute könnt ihr mir zeigen, was von der letzten Geschichtsstunde noch in eurem Gedächtnis geblieben ist“, sagt Hased, zeigt auf Sadrach und fragt:
„Weißt du noch, wer die ersten Gesetze in Babylon geschaffen hat, die heute noch gültig sind?“
„Das war Hammurapi“, antwortet Sadrach.
„Gut“, lobt Hased, und zu Daniel gewandt: „Und du Beltsazar, weißt du, wer Hammurapi war?“
„Ja, Herr, Hammurapi war ein König.“
„Und wann lebte er, Mesach?“
„Hammurapi lebte vor ungefähr 1200 Jahren“, antwortet dieser.
„Und wer regierte in Babylon vor unserem König, Abed-Nego?
„Nebukadnezar der Erste“, antwortet Abed-Nego, ohne zu zögern.
„Nein, das stimmt nicht“, erwidert Hased. „Denk noch einmal nach, Nebukadnezar der Erste ist vor fünfhundert Jahren König in Babylon gewesen.“
„Ich weiß es“, ruft Mesach eifrig. Doch der Lehrer gibt ihm ein Zeichen zu schweigen.
Abed-Nego denkt eine Weile nach, dann sagt er: „Nabo… Nabopolassar.“
„Richtig“, bestätigt Hased, „und du Mesach, wenn du schon so viel weißt, kannst du mir auch sagen, wer der Sohn von Nabopolassar ist?“
Auf diese Frage ist Mesach nicht vorbereitet. Er überlegt, aber er findet die Antwort nicht.
„Du, Beltsazar, weißt du es?“
„Ja, Herr, der Sohn von Nabopolassar ist der König von Babylon, Nebukadnezar der Zweite.“
„Das ist richtig“, sagt Hased. „Aber warum so umschweifend? Sag doch einfach: unser König?“
Beltsazar will nicht antworten. Aber Hased drängt ihn: „Hm? Antworte bitte!“
Daniel errötet und sagt dann: „Weil unser, mein König Jojakim, der König über Juda, ist.“
Die drei andern machen vor Schreck große Augen, als wären sie einem wilden Löwen oder einem Gespenst begegnet. Abed-Nego schaut ängstlich zu seinem Freund hinüber, der auf der anderen Seite hockt.
„Das war einmal“, sagt Hased. „Aber wenn ihr Babylonier sein wollt und dem König dienen möchtet, dann müsst ihr das, was früher gewesen ist, vergessen. Spätestens in drei Jahren, wenn ihr perfekt babylonisch sprechen könnt. Dann müsst ihr aber nicht nur sprechen wie Babylonier, sondern auch denken wie wir Babylonier.“
Daniel sagt nichts mehr, sondern denkt, niemand habe ihn gefragt, ob er Babylonier werden wolle. Nicht freiwillig ist er nach Babylon gekommen. Er wusste, er hatte keine andere Wahl, aber im Herzen will er immer Israelit bleiben, und nichts wünscht er mehr, als dass er nach diesen drei Jahren mit seiner Familie und dem ganzen Volk nach Jerusalem zurückkehren kann.
„Ihr müsst noch viel lernen“, sagt Hased. „Ich werde jetzt noch weiter von der Geschichte Babylons erzählen. Passt gut auf, morgen werde ich euch abfragen, was ihr noch wisst von dem, was ich euch heute lehre.“
Die vier Jungen lauschen nun aufmerksam ihrem Lehrer, bis es Zeit zum Essen ist. Sie bekommen zusammen mit den babylonischen Schülern ihre Speisen vom Tisch des Königs in einem anderen, an den Wänden schön bemalten Raum.
Das geschieht auf Befehl Nebukadnezars, der die vier der besonderen Obhut des obersten Kämmerers anvertraut hat, damit dieser verantwortlich ist, dass die Knaben die beste Erziehung bekommen, denn nach der dreijährigen Ausbildung sollen die Besten dem König, für was immer er für sie bestimmen würde, dienen können.
Schon auf dem Marsch von Jerusalem, wenn Nebukadnezar auf seinem Pferd an dem Zug der Gefangenen vorbeiritt, waren ihm ein paar gut aussehende Knaben aufgefallen, weil sie einigermaßen kräftig einherschritten, obwohl sie unter der Hitze und mit dem abgetretenen Schuhwerk litten. Auch hatte er an ihren Gesichtszügen erkannt, dass sie, nicht wie viele andere, von edlem Geblüt und Charakter sein mussten, wie sich später dann auch bestätigt hat. Gewiss hatte der oberste Kämmerer die Besten ausgesucht.
Obwohl den vier Freunden, wenn man sie beisammen sieht, eine gewisse Ähnlichkeit nicht abzusprechen ist – sie wurden ja alle nach den gleichen Kriterien ausgewählt –, so unterscheiden sie sich doch wesentlich in ihren Charakteren.
Daniel ist ein für sein Alter sehr besonnener, kluger und auch frommer Junge, dem sein Glaube an den Gott Zebaoth ebenso wichtig ist wie die Bewahrung seiner Wurzeln, seiner israelitischen Herkunft. Trotzdem ist er ein eifriger Schüler, der möglichst schnell die babylonische Sprache sprechen und beherrschen und die Keilschrift erlernen möchte. Er war schon in Jerusalem ein aufgeschlossener Junge, der gerne lernte und immer bereit war, seinen Wissensschatz zu vergrößern. Das bringt ihm auch jetzt nicht nur bei seinem Lehrer Hased, sondern auch bei seinen Freunden Respekt ein, so dass es sich fast von selbst ergab, dass Daniel unter ihnen die führende Stellung einnimmt.
Abed-Nego ist Daniels bester Freund, trotz ihrer fast entgegengesetzten Charaktere. Das hat seinen Grund darin, dass sie in Jerusalem Nachbarn und von klein an Spielkameraden waren. Abed-Nego ist eher einer, der auf eine liebenswürdige Art das Leben leicht nimmt, einer, der die Herzen der Menschen im Nu erobert. Auch die beiden anderen, Sadrach und Mesach schätzen sich glücklich, seine Freunde sein zu dürfen. Er ist ein Kamerad, den man einfach gern haben muss. Die Führung überlassen sie aber gerne Daniel.
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