Asarja, Daniels Freund, der in Jerusalem mit seinen Eltern und Geschwistern nur zwei Häuser weiter gewohnt hatte und mit dem er sich beim ersten Nachtlager doch noch zusammengefunden hatte, zeigte ganz unverhohlen Freude und Neugier, die berühmte Stadt kennen zu lernen. So viel hatte man von ihr gehört, Gutes und Schlechtes. Keine Stadt auf dem ganzen Erdkreis sei größer und schöner als Babylon, hieß es. Und groß und gewaltig zeigte sie sich den Gefangenen, hell im Sonnenlicht aus der Ebene herausragend. Dachte Asarja denn nicht an das, was ihm und allen anderen widerfahren würde?
Daniel war viel zurückhaltender. Babylon, die große Hure, sagte man, sei ein einziger Sündenpfuhl. Er hätte liebend gerne auf Babylon und dessen Größe und Schönheit verzichtet, um in Jerusalem zu bleiben und dort sich zum Priester ausbilden zu lassen.
Doch dieser Traum war nun für ihn zu Ende.
Asarjas Freude wurde gedämpft, als es schien, dass sie an Babylon vorbeiziehen mussten. Wie weit sollte denn diese Reise noch gehen?
Südlich von Babylon durften sie endlich rasten. Das Gerücht ging um, dass sie hier bleiben sollten. Es war kein wüstes Land. Hohe Palmen und kleinere Bäume wuchsen hier. Und nicht weit von hier floss ein Nebenarm des Euphrats. Asarja dachte als Erstes an ein kühles Bad, das allen Schmutz und Schweiß von ihm abwaschen würde.
Ein paar Tage vergingen, ohne dass man wusste, was nun geschehen würde. Dann wurde ein großes Gebiet abgesteckt und eingezäunt. Viel Material wurde herbeigeschafft. Daraus sollten sie sich Hütten bauen. Auch das nötige Werkzeug, das sie dazu brauchten, war dabei. Jeden Tag bekamen sie Verpflegung. Als die Hütten standen, wurde ihnen auch Werkzeug gebracht, mit dem sie das umliegende Feld bebauen sollten.
An Wasser fehlte es ja nicht, obwohl dieser Nebenarm des Euphrats um diese Jahreszeit fast ausgetrocknet war. Doch es gab die Vermutung, dass er manchmal auch über das Ufer trat, denn der Boden schien fruchtbar zu sein.
Die Angst löste sich langsam auf. Die Menschen atmeten auf, wagten allmählich zu glauben, dass es doch nicht so schlimm würde. Sie begannen sich am Gezwitscher der Vögel, am Flattern der Schmetterlinge und am Rauschen des Stroms zu freuen. Und auch die Aussicht darauf, nicht nur herumzusitzen, sondern arbeiten, etwas aufbauen zu können, gab ihnen neuen Mut und Lebensfreude.
Schon bald begann ein reges Leben. Jeder, der gesund und bei Kräften war, musste mithelfen. Es gab ein paar wenige Männer, die wussten, wie man Hütten baut und auch einen Acker bestellt, und die all den Menschen, die nur das Stadtleben in Jerusalem gekannt hatten, zeigen konnten, wie man solche Arbeiten anpackt. Auch die Jugendlichen, je nach Alter, bekamen ihre Arbeit zugewiesen.
Eines Tages, als bereits die einfachen Hütten standen, in denen sich die Familien notdürftig eingerichtet hatten, näherten sich vier Männer auf Kamelen der Siedlung. Zwei ritten voraus, dahinter folgten zwei mit Schwertern bewaffnete Soldaten. Vor dem provisorisch errichteten Eingangstor stiegen sie ab. Einer der Männer trug einen dunkelblauen Umhang über der Schulter und eine Kette mit einem großen, runden Anhänger auf der Brust. Der eine der Soldaten trat mit ihm und dem zweiten, offensichtlich weniger bedeutenden Mann zu den Hütten, der andere Soldat blieb bei den Kamelen. Schon bald hieß es, der schön Bekleidete sei der oberste Kämmerer des Königs. Der andere Mann hatte das Aussehen eines Israeliten. Er war tatsächlich ein israelitischer Kaufmann, der schon länger in Babylon lebte und nun als Dolmetscher gebraucht wurde.
Der vornehme Babylonier schien sich vor allem für kräftige und gut aussehende Knaben zu interessieren. Einen nach dem anderen rief er zu sich.
„Wer wohnt hier am nächsten?“, übersetzte der Dolmetscher die Frage des Kämmerers.
Einer meldete sich schüchtern.
„So führ uns zu deinen Eltern“, sagte er weiter in freundlichem Ton.
Alle, mit dem ganzen Schwarm von Knaben, gingen mit dem Ersten zu dessen Eltern.
„Ihr bleibt stehen und wartet hier auf den obersten Kämmerer“, sagte der Dolmetscher. Der oberste Kämmerer des Königs ging nun mit dem Knaben und dem Dolmetscher hinein in die Hütte. Es stellte sich heraus, dass er vier Knaben auswählen sollte, die für drei Jahre im Königspalast eine Ausbildung machen müssten, um später dem König Nebukadnezar dienen zu können. Die Knaben sollten möglichst aus gutem Hause sein, was nicht leicht zu beurteilen war angesichts dessen, dass alle Hütten gleich und die Menschen ärmlich aussahen. Doch der oberste Kämmerer, der sich mit dem Namen Aspenas vorgestellt hatte, ließ durch den Dolmetscher ermitteln, welchen Beruf und Stand der Vater in Jerusalem hatte, ob der Knabe lesen oder gar schreiben könne.
Der erste Knabe schien den Anforderungen nicht zu genügen. Dann ging es so von Hütte zu Hütte, bis am Ende nur noch vier übrig blieben.
Diese vier sollten, sofern ihre Väter nicht zu Hause waren, ihren Vater vom Arbeitsplatz holen. Denen wurde erklärt, was der oberste Kämmerer mit ihren Söhnen vorhatte. Dann sollten sich die Söhne von ihrer Familie verabschieden.
„Neue Kleider werdet ihr im Königspalast bekommen“, versprach Aspenas. „Es wird euch auch sonst an nichts fehlen. Wenn ihr euch gut haltet und fleißig seid, werden eure Eltern und Geschwister euch ein bis zwei Mal im Jahr in Babylon besuchen können.“
Natürlich waren viele Tränen geflossen, auch bei Daniels Mutter. Doch der Vater hatte sie gebeten, aufhören zu weinen. Schließlich würde es ihrem Sohn ja gut gehen, besser als all den anderen, die bleiben müssten. Der oberste Kämmerer hatte den Knaben ja versprochen, die Gunst des Königs werde ihnen gewiss sein.
Daniel war froh, dass auch Asarja ausgewählt wurde. Die anderen zwei Knaben kannte er nicht.
Im Palast, in den sie gebracht und gewaschen wurden, neue Kleider bekamen und fürstlich bewirtet wurden, holte sie am dritten Tag ein Bote des obersten Kämmerers ab, um sie dem König vorzustellen.
Der Raum, in dem die vier nun für drei Jahre miteinander leben sollten, befindet sich nicht im Königsschloss, sondern dem Schloss gegenüber auf der anderen Seite der breiten, langen Straße, die sich schnurgerade durch den ganzen Stadtteil hinzieht. Der Palast ist größer als das Königsschloss und hat drei verschieden große Innenhöfe. Vom Fenster ihres Zimmers aus können die Jungen auf einen dieser Höfe hinunterschauen, in dem ein paar Palmen aus grünem Grasboden herauswachsen und wo an jenem Vormittag ein paar Beamte wohl in einer Arbeitspause beieinanderstanden und diskutierten.
Der Mann, der die Knaben abgeholt hatte, begleitete sie nun in den mittleren Teil des Palastes, wo sich auch der Thronsaal des Königs befindet. Hier wartete der oberste Kämmerer auf sie, der sie in eine kleine, verborgene Kammer hinter dem Thronsaal führte, von der aus der König bei großen Anlässen in den Saal treten kann. Wenig später kam Nebukadnezar herein, begrüßte sie freundlich und setzte sich auf eine steinerne, mit der Rückwand verbundene Bank. Der König befragte die Jungen noch einmal über Beruf und Stand ihrer Väter, und der Kaufmann, der wieder als Dolmetscher dabei war, übersetzte, was sie gesagt hatten. Der König schien zufrieden zu sein, denn nach der Vorstellung jedes Einzelnen, der einen Schritt vortreten musste, nickte er. Wenn dann der König ihm einen neuen, babylonischen Namen gegeben hatte, gab der Kämmerer dem Knaben ein Zeichen, dass er wieder zurücktreten könne. Nachdem der Kämmerer noch ein paar Worte mit dem König gewechselt hatte, was die Knaben nicht verstanden und auch nicht übersetzt wurde, ging der Kämmerer mit ihnen hinaus und erklärte ihnen, Nebukadnezar sei zufrieden mit ihnen und wünsche nun, dass sie im Palast ausgebildet würden, um nach drei Jahren in seine Dienste zu treten.
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