»Heul nicht«, sagte Ewald leise in seinem leicht hessischen Dialekt.
»Jede Reise geht irgendwann zu Ende. Es hätte mir nichts Schöneres passieren können, als genau an diesem Ort ade zu sagen. Schau mal da runter mein Freund. Ist diese Erde nicht herrlich. Jetzt verstehe ich die Indianer, wenn sie sich die schönste Stelle des Tales für ihre letzte Ruhestätte ausgesucht haben.«
»Nichts, nichts«, krächzte Bodo mit belegter Stimme. »Das kann doch noch nicht alles gewesen sein. He, du darfst dich jetzt noch nicht davonmachen. Bitte. Ich brauche dich. Verdammt, in den letzten Jahren haben wir viel zu wenig zusammen unternommen. Erinnerst du dich noch?«
Ewald lächelte wieder sanft.
»Wir hatten wahnsinnig schöne Touren unternommen - in den Vogelsberg, in die Wälder bei Büdingen und Wächtersbach. Und in den Spessart. Ohne dich hätte ich das nie gesehen. Und vor allem: Ohne dich wäre ich kein Fotograf geworden. Ich danke dir für deine Freundschaft Bodo.« Er hielt kurz inne, um danach noch leiser fortzufahren: »Aber ich bin auch traurig darüber, dass es mir nicht gelungen ist, mehr Farbe in deine Seele zu locken. Wenn du die Natur liebst, dann musst du auch dich lieben können. Du bist schließlich auch ein Teil der Schöpfung. Dann musst du auch Gottes andere Garnitur lieben lernen.« Er versuchte krampfhaft ein Lächeln aufzusetzen.
»Zum Beispiel Iris … und die anderen herrlichen Frauen. Bitte Bodo, versprich mir, darüber nachzudenken.«
Mit einer ärgerlichen Miene schüttelte Bodo Ewalds Schulter.
»Du darfst nicht aufgeben!«, schrie er. »Komm, lass uns fahren. Wir schaffen das. Komm!«
Ewald versuchte, seine beiden Hände auf Bodos Schulter zu legen.
»Ich habe ein schönes Leben gehabt. Keine Stunde möchte ich missen. Diese herrlichen Landschaften. Diese Wunder unseres Schöpfers. Die Sonnenaufgänge. Diese Jahreszeiten. Diese einzigartigen Lebewesen. Ich werde diese Bilder mit auf die Reise nehmen. Das macht es mir leichter Bodo.«
»Nein. Nein. Nein«, jammerte Bodo und riss sich von Ewald los.
»Was soll ich ohne dich?! Scheiße. Ich hätte mehr Zeit mit dir verbringen müssen. Komm. Bitte. Lasse und das nachholen. Es gibt bestimmt noch so viel Schönes, was du mir zeigen kannst. Ich habe vieles falsch gemacht.«
Ewald versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Blut rann aus seinen Mundwinkeln.
»Sei vernünftig Bodo«, keuchte er. »Mein Weg war mein Weg. Und der war richtig und wundervoll.«
Jetzt legte er wieder seine beiden Hände auf Bodos Schulter.
»Ich habe deinen Weg zuweilen kritisch gesehen. In den letzten Tagen hatte ich Zeit, darüber nachzudenken.«
Ewald blickte Bodo tief in die Augen.
»Bodo, mein Freund. Auch dein Weg ist richtig. Er ist weitaus wichtiger als der Weg, den ich gegangen bin. Wer weiß … Vielleicht gibt es da oben eine Macht, die wir beide nicht begreifen. Vielleicht gibt es einen Plan. Und sollte es diesen Plan geben, so ist es dein Weg … so ist es dein Schicksal, deine Kraft dich für den Erhalt der Schöpfung auf unserer Erde einzusetzen. Wer weiß … Vielleicht hat dich der Schöpfer bereits in deiner Kindheit sensibilisiert. Du hast es wahrscheinlich oft als Fluch eingestuft. Ohne Zweifel war es schon ein Segen für viele Lebewesen, die du in den letzten Jahren gerettet hast. Gehe diesen Weg weiter Bodo. Ich hoffe, dass er nicht dort enden wird, wo ich mich gerade befinde. Ich hoffe, dass du dann ähnlich fühlst wie ich in diesem Moment.«
Ewald strich sanft über Bodos Kopf.
»Sei nicht traurig mein Freund. Es war eine schöne Zeit. Und nur das zählt.«
Als Bodo im Begriff war zu antworten, unterbrach ihn Ewald barsch:
»Lass uns nicht streiten. Und lass uns vor allem keine Zeit verlieren. Wir müssen noch einiges besprechen. In aller Ruhe. Einverstanden?«
Bodos Arme sackten müde nach unten.
Der hünenhafte Mann wirkte wie ein Häuflein Elend; fast wie ein Kind. Er blickte nun Ewald bittend an.
»In meinem Leben gab es doch nur meine Mutter … und dich. Bitte Ewald. Ich brauche dich. Du darfst nicht …«
»Bodo lasse uns vernünftig miteinander sprechen«, bat Ewald mit erstaunlich fester Stimme.
»Wir haben nicht mehr so viel Zeit!«
Bodo konnte nur noch stumm nicken.
»Versprich mir zunächst, dass du dich um meine Mutter kümmerst. Für sie bist du ihr zweiter Sohn geworden. Das weißt du.«
»Das ist doch selbstverständlich«, antwortete Bodo und blickte dabei Ewald in die Augen. »Du kannst dich auf mich verlassen.«
Ewald lächelte dankbar. »Halte mich jetzt nicht für verrückt Bodo. Ich will in dir weiterleben – zumindest ab und zu.«
Bodo sah seinen Freund irritiert und fragend an. Dieser machte eine beruhigende Handbewegung.
»Im Krankenhaus habe ich es mir genau überlegt. Nimm bitte dann meine Identität an, wenn diese für dich und deine Ziele hilfreich ist. Wir haben die gleiche Statur. Und wenn du genau hinschaust, sehen wir uns sogar ähnlich. Du bist clever genug, alles Übrige in die Wege zu leiten. Nimm meinen Pass, meine Schlüssel und meine Kameraausrüstung. Wir haben früher viel zusammen fotografiert. Du wirst am Anfang vielleicht keine so guten Aufnahmen wie ich machen. Dafür werden deine Texte bei weitem besser sein, als meine. Das wird dir viele Türen in vielen Ländern öffnen, wo du sonst Schwierigkeiten hättest. Du wirst sehen.«
Ein Hustenanfall unterbrach jäh Ewalds weitere Ausführungen. Er hielt sich die rechte Hand vor den Mund. Blut rann zwischen seinen Fingern hervor. Bodo suchte rasch einige Taschentücher und kniete sich vor Ewald, der dankend die Taschentücher nahm, und sich das Blut von seinen Lippen und von seinen Händen wischte.
»Du siehst, eine Weiterfahrt hätte absolut nichts gebracht. Wir hätten keine Zeit gehabt, noch einmal miteinander zu sprechen. Das wäre unentschuldbar gewesen.« Seine Gesichtszüge begannen, sich zu verkrampfen. Als Bodo etwas sagen wollen, bat Ewald mit entsprechenden Handbewegungen, ihn weitersprechen zu lassen.
»Zuhause habe ich alle Unterlagen mit den Verlagen genau geordnet. Du schaffst das.« Er machte eine Pause, als wollte er sicherstellen, dass Bodo alles verstanden hatte.
»Die Idee ist zwar verrückt«, sagte Bodo. »Aber …«
»Kein aber. Du musst es mir versprechen! Ich werde immer bei dir sein. Immer - bei meinem Freund.«
Ein neuer und stärkerer Hustenanfall kostete Ewald viel Kraft. Bodo hielt die Schulter seines Freundes. Plötzlich wurde ihm voll bewusst, dass er nicht mehr helfen konnte. Ewald streckte seine rechte Hand aus und deutete mit dem Zeigefinger zum Rand des Plateaus. Dann sank sein Kopf nach unten. Bodo fühlte, wie alle Kraft aus dem großen Körper entwich. Sanft zog er Ewald an seine Schulter.
Er wusste später nicht mehr, wie lange er den leblosen Körper in den Armen gehalten hatte. Es begann zu dämmern. Die blutrote Sonne hatte gerade den Horizont erreicht. Bald würde es dunkel werden. Bodo ließ seinen Blick über das Meer an Bäumen gleiten. Noch immer konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Doch plötzlich, plötzlich wusste er, was Ewald ihm mit seiner letzten Handbewegung sagen wollte. Dort vorn, am Rande des Plateaus mit einem herrlichen Blick in die Weite, war eine tiefere Mulde. Daneben stand eine uralte kanadische Eiche mit weit ausladenden Ästen. Die Spitze der Eiche war bereits kahl gewesen. Dort, unter dieser Eiche, mit einem weiten Blick in das Tal, wollte Ewald seine letzte Ruhestätte haben. Und diesen letzten Wunsch musste er ihm jetzt erfüllen.
Eine Woche später war Bodo wieder in Deutschland.
Sein erster Weg führte ihn zu Mama Falland; Ewalds Mutter.
»Ich war stolz gewesen, zwei Söhne zu haben. Jetzt habe ich nur noch einen«, seufzte sie leise und klammerte sich dabei mit ihren knochigen und rauen Händen an Bodos Arme. Mamma Falland verlor dabei keine Tränen.
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